Nachricht | Soziale Bewegungen / Organisierung - Kunst / Performance - Europa »Von Athen lernen«

Ein Reisebericht von einer Bildungsreise - Von Jürgen Strube

»Wir müssen wieder Verantwortung übernehmen und wie politische Subjekte handeln, anstatt das einfach den gewählten Vertretern zu überlassen«.

Mit diesen Worten hat der Ausstellungsmacher Adam Szymczyk die betont politische Orientierung der documenta 14 begründet, die erstmals nicht nur in Kassel stattfindet. Dass wir dabei ausgerechnet »von Athen lernen« (so das documenta-Motto) sollen, hat die Kunstwelt genauso verblüfft, wie es die Kasseler Öffentlichkeit verschreckt hat. Für die  Rosa-Luxemburg-Stiftungen Niedersachsen und Hessen war es hingegen ein Anlass, eine gleichnamige Bildungsreise nach Athen zu veranstalten. Geplant und geleitet wurde die Reise von Andreas Merkens, dem zuständigen Referenten für Studien- und Bildungsreisen bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung.  22 Teilnehmer_innen, vorwiegend aus Niedersachsen, Hessen, Berlin und Hamburg haben im April eine Woche in Athen verbracht, um sich einen Einblick zu verschaffen, was diese Form der Intervention für Griechenland bedeutet und welche Rolle »Kunst und Kultur in Zeiten der Krise« spielen können.

Unser Programm war dreiteilig und umfasste neben der Documenta und ihrem Kunstangebot Erkundungen und Gespräche im Bereich der politischen und sozialen Alltag in Athen als auch den Blick auf die Bedeutung von Kunst und Kultur.

Unser Hotel liegt an der Platia Exarchias. Das Viertel ist bunt und lebendig, versprüht einen anarchistischen Charme mit Gassen voller Straßencafés und Tavernen, nächtlichen Trommelkonzerten afrikanischer Einwanderer, besetzten Häusern und seiner wilden, aber oft auch künstlerischen Graffiti, die man hier Street-art nennt. Deren Bezug zu aktuellen politischen Kämpfen wurde uns kenntnisreich von dem Schweizer Kunstwissenschaftler Ingo Starz erläutert. Er führte uns außerdem zu den architektonischen Zeugnissen des deutschen Einflusses auf Griechenland, das sich im 19. Jahrhundert aus 400 Jahren osmanischer Herrschaft befreit hatte, in Trümmern lag und sich den bayerischen Kronprinz Otto zum König erwählt hat. Unter dessen Herrschaft wurde Athen binnen weniger Jahre in klassizistischem Stil und hauptsächlich von deutschen Architekten wiederaufgebaut. An den politischen Widerstand gegen die Militärjunta in den siebziger Jahren erinnert ein Mahnmal auf dem Gelände des Politechnio nahe der Stelle, an der 1933 ein internationaler Architektenkongress mit der Charta von Athen die Grundlagen für die moderne funktionale Stadtplanung schuf. (Dies wird übrigens auch in der documenta-Schau thematisiert.)

Dass sich an Griechenland die Widersprüche und Probleme Europas symptomatisch zeigen, sieht nicht nur Adam Szymczik so, sondern der größte Teil unserer Gesprächspartner in Athen. Denn dort, so berichteten sie, kann man das studieren, was auf die anderen Staaten Europas und der Welt zukommt, bzw. längst begonnen hat.  Seit dem Krisenjahr 2009 ist die Arbeitslosenquote auf knapp 30 Prozent gestiegen, Massenentlassungen und Kürzungen im Lohn- und Sozialkürzungen belasten den Binnenmarkt, ein großer Teil der Bevölkerung lebt an der Armutsgrenze, während die erzwungenen »Reformen« und Privatisierungen den Umbau der Wirtschaft nach neoliberalem Muster zur besseren Ausbeutung durch internationale Konzerne umbauen. Pensionszahlungen reichen kaum zum Leben, die Versorgung mit lebenswichtigen Medikamenten ist gefährdet. Mit Sperrung der Balkanroute sitzen um die 60 000 Flüchtlinge fest. Rechtsextreme Bewegungen wie die Partei Goldene Morgenröte haben an Einfluss gewonnen.

Mit Giorgos Chondros, dem Ethnologen und Syriza-Politiker, der seit 2015 in den deutschen Medien Verständnis für die Lage in Griechenland zu wecken versucht, warfen wir einen Blick auf die Genese der Staatsschuldenkrise und diskutierten über die Handlungsräume linker Regierungspolitik unter den Bedingungen der von Deutschland gelenkten Austeritätspolitik. Was diese Politik mit den Menschen macht und wie diese darauf reagieren, konnten wir konkret erfahren bei unseren Besuchen verschiedener Initiativgruppen und Gesprächen mit deren »Mitarbeiter*innen«:

  • ·         Initiative AMEISE in Kypseli, angemietete Erdgeschosswohnung im Stadtteil, sammelt Kleidung und Lebensmittel, verteilt sie auf Flohmärkten, zunächst an Obdachlose, jetzt auch an Flüchtlinge, Beteiligung an antirassistischen Aktivitäten
  • ·         Gesundheitszentrum in Helleniko, von der Kommune zur Verfügung gestelltes Gebäude, ein Dutzend Ärzte, unentgeltliche Untersuchung und Erstversorgung, Sammlung und kostenlose Verteilung von Medikamenten
  • ·         Projekt Green Park, seit 2015 besetztes Theatergebäude am Eingang eines städtischen Parkgeländes, selbstverwaltet, Konzerte, Nachbarschaftsveranstaltungen, Ausstellungen, Theater
  • ·         City Plaza, besetztes Hotel (das jahrelang leer stand), mehr als 400 Bewohner, die meisten Flüchtlinge, sehr viele Kinder, selbstorganisierte Küche, Kindergärten, Sprachunterricht, Bibliothek, Rechtsberatung, Solidaritätskampagnen in ganz Europa

Alle diese Einrichtungen leben ohne öffentliche Unterstützung und ersetzen das weggebrochene Sozialsystem. Ihre Existenz demonstriert jeden Tag aufs Neue, dass es selbst in Zeiten von Krise und Armut möglich ist, Menschen willkommen zu heißen und würdige Lebensbedingungen für Alle zu schaffen. Es sind Orte der Gleichheit und Solidarität, das gelebte Gegenteil zur Festung Europa und ihren schändlichen Grenzen, ein Symbol der Hoffnung.

Die documenta 14 reagiert natürlich auch auf diese Verhältnisse in Griechenland. Das geht soweit, dass einzelne künstlerische Arbeiten regelrecht Anleitungen für Selbsthilfeprojekte geben wollen. Der Bogen ist aber weiter gespannt. Es geht nicht nur um Athen oder die EU-Krise. Vielmehr wird all jenen eine Stimme gegeben, die infolge von repressiven Regimen, Neokolonialismus und Marktliberalismus gefährdet sind. Viele Arbeiten legen Zeugnis alltäglicher, kaum sichtbarer Ereignisse ab oder dokumentieren Zeitgeschichte. Die großen Namen des Kunstmarkts sucht man weitgehend vergebens. Stattdessen trifft man auf eine große Anzahl von auch den Kennern bisher unbekannten Künstlern und Künstlerinnen aus vielen und fernen Regionen der Welt und wird gezwungen, sich mit indigenen Völkern und alten Traditionen, kolonialer Unterdrückung und Befreiungskriegen, Bodenschätzen und Ausbeutung, Warenproduktion und Klimakatastrophe, Armut und Flüchtlingskrise, Rassismus und Gender zu beschäftigen.

An zwei Tagen haben wir die offiziellen Angebote der documenta genutzt und haben mit »Choristen« Spaziergänge durch zwei der Hauptstandort, das EMST (Museum für Gegenwartskunst) und das ASFA (Kunsthochschule) gemacht. Das Fazit nach diesen Führungen und der Wert der genossenen Kunst wurde dabei von allen Teilnehmern sehr unterschiedlich beurteilt, abhängig von Interesse und Kenntnisstand und in etwa so, wie auch der Tenor der internationalen Kunstkritik lautet. Ich für meine Person habe dabei einiges »gelernt«, nicht zuletzt viele neue Namen und bin an einige Themen und Ereignisse wiedererinnert worden. Das Konzept der Ausstellungsmacher hat mich persönlich überzeugt und die gezeigte Kunst hat mich insbesondere gut für den zweiten Teil der documenta in Kassel vorbereitet und neugierig gemacht.

An einem Tag hat uns der Schweizer Kunstwissenschaftler Ingo Starz zu einer Reihe der unzähligen Documenta-Standorte geführt, deren Auffindung ansonsten durch die künstlerisch gestalteten »Stadtpläne« zu einem Abenteuer geworden wäre, bei dem wir zudem die herrlichen Nebenwege durch die vielen Parkanalagen in Athen nie gesehen hätten. Einige wenige Beispiele werde ich vorstellen:

Trauer und Zerstörung bzw. der Verlust von Büchern wird thematisiert in der Gennadius-Bibliothek, einem neo-klasizistischen Bau in einem kleinen beschaulichen Park abseits des Großstadttrubels. In der konzentrierten Stille dieses Ortes wird die 2014 ausgebrannte Ruine einer schottischen Bibliothek (Video von Ross Birell) gezeigt und die Zerstörung von kostbaren Schriftdokumenten in Mali durch islamistische Fanatiker (Galerie La Medina in Timbuktu, Mali). Draußen im Park ist ein in der Türkei verbotenes Tagebuch der kurdischen Journalistin Gurbetelli Ersöz, die 1997 im Guerillakampf getötet wurde, zu sehen, das von Banu Cennetoglu auf lithografische Kalksteinplatten übertragen und eindrucksvoll in ein Regal geräumt hat.

Neben solch gewichtigen (das Tagebuch wiegt 1800 kg) Themen konnten wir auch so poetische und humorvolle Kunstwerke genießen wie David Hardings Inszenierung eines Beckett-Gedichts („If you do not love me ..“) und der akustischen Installation  (einem interaktiven Frosch-Konzert) „When elephants fight, is it the frogs that suffer suffer“ des jüngst verstorbenen Fluxus-Künstlers Benjamin Patterson.

Abschließend noch ein paar Sätze zu den aktuellen Bedingungen von Kunst und Kultur in Griechenland, auch außerhalb von documenta-Zeiten. Dies war Thema in Gesprächen mit Anestis Azas, Regisseur am Athener Nationaltheater und mit Iliana Fokinaki, Kuratorin und Gründerin von »State of Concept«, der ersten nichtkommerziellen Galerie in Athen. Beide beklagen fehlende finanzielle und institutionelle Absicherung der Kulturschaffenden. Beim Besuch in ihrer Galerie im Viertel Koukaki berichtet Iliana Fokinaki, die für internationale Kunstmagazine schreibt, von der langjährigen Vernachlässigung der Kunstszene. Es gebe keine staatliche Hilfe. Von der Documenta erhoffe man sich eine positive Einflussnahme speziell auf die Institutionen, bei denen Gegenwartskunst zumeist noch von Archäologen „verwaltet“ werde. Die Arbeit in ihrer Galerie ist ehrenamtlich und unbezahlt. Allerdings haben sich ihre Mitarbeiterinnen soweit qualifizieren können, dass sie jetzt bei der documenta angestellt wurden und dabei professionelle Arbeit erlernen können.

Nicht professionell nennen möchte ich das Auftreten der vielen griechischen Menschen, denen wir in dieser Woche begegnet sind, weil sie uns immer herzlich und offen empfangen haben, sodass wir uns nie als Fremde fühlen mussten.

Besonders beeindruckend war für mich das Statement eines Mitarbeiters im Gesundheitszentrum Helleniko, der sich gegen eine anonyme, bloß karikative Unterstützung aussprach, und eine Kommunikation auf Augenhöhe forderte.