Nachricht | Lattke: Neue Linke, linksalternative und subversive Bewegungskultur in der Bundesrepublik Deutschland 1968-1989; Bochum 2019

Bietet eine beeindruckende Erweiterung der Körper- und Sportgeschichte

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Lattke beleuchtet in seiner nun in Buchform erschienenen Dissertation ein bislang kaum beachtetes Phänomen: Wie wirkte sich «1968» und die darin formulierte Kritik an Leistung, Konkurrenz und Männlichkeit auf den Sport aus? Wie veränderte sich der Breiten- und Schulsport, kam es auch dort zu einer vielzitierten Fundamentalliberalisierung? Seine Antwort lautet: Ja. Ohne die Ansätze einer anderen Bewegungskultur sei z.B. der heutige schulische Sportunterricht gar nicht denkbar.

Zu Beginn seines Buches umreißt Lattke die theoretischen Wurzeln der Sportkritik der Kritischen Theorie. Diese war antikapitalistisch motiviert und richtete sich aber vor allem gegen den Leistungssport und dessen «Kommerzialisierung». Der Breitensport sei letztlich auch am Spitzensport ausgerichtet, beide seien autoritär und auf Triebunterdrückung beruhend und somit herrschaftsstabilisierend. Diese Kritik traf nun mit zwei realen historischen Prozessen zusammen: Zum einen schwappte aus den USA die Bewegung der «New Games», die an Leistung und Kooperation ausgerichtet war, nach Deutschland. Zum anderen kam es zu einem immensen Wachstum der Mitgliederzahlen von Sportvereinen und zu einer wachsenden Bedeutung von (Individual-)Sport im Alltagsleben, es sei nur an die «Trimm-Dich»-Bewegung und die Lauftreffs, beide oft jenseits der herkömmlichen Vereine angesiedelt, erinnert.

Ausgangspunkt der Bewegung waren die ab Ende der 1960er gegründeten Reform-Hochschulen, konkret der dortige Hochschulsport und die Ausbildung von Sportlehrer*innen. Hier mussten zuerst einmal die noch aus der NS-Zeit herrührenden personellen und inhaltlichen Kontinuitäten problematisiert werden. Auch der historische Arbeitersport mit seiner Vereinskultur und z.B. Arbeiterolympiaden wurde in den 1970er Jahren wieder entdeckt: Lattke referiert weiter ausführlich die Sportpraktiken der Neuen Linken selbst, die ja bis in die Bunten Fußball-Ligen der 1990er reicht. Danach schildert Lattke die Diffusion, wenn nicht Erosion der Ideen und Praktiken «alternativen Bewegungskultur» hinein in den Mainstream. Der lesenswerte Band endet mit der Schilderung der Sportpolitik der Grünen Partei sowie des universitären Reformprojektes «Traumfabrik» an der Universität RegenRegensburg.

Lattke bietet eine beeindruckende Erweiterung der Sportgeschichte, und hat neues Wissen über neue soziale Bewegungen, deren Aktive ja oft auch ein anderes, antiautoritäres Verständnis von Körperlichkeit propagierten, erzeugt. Das Buch ist allerdings stellenweise etwas ausschweifend und langatmig. Lattke hat Spannendes und bisher kaum Bekanntes zu Tage gefördert und dokumentiert; es fragt sich aber, ob er nicht die gesellschaftliche Bedeutung seines Themas «alternative Bewegungskultur» hinsichtlich der Wirkung etwas überschätzt?

Simon Lattke: «Vögeln statt Turnen». Neue Linke, linksalternative und subversive Bewegungskultur in der Bundesrepublik Deutschland 1968-1989; Klartext Verlag, Bochum 2019, 415 Seiten, 29,95 Euro