Interview | Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Soziale Bewegungen / Organisierung - Westasien - Libanon / Syrien / Irak - Westasien im Fokus «Neue Wege, um miteinander in Beziehung zu treten»

Interview mit der Aktivistin Lara Bitar zu der aktuellen Protestbewegung im Libanon

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Autor*innen

Lara Bitar, Miriam Younes,

Protestierende auf dem Weg zur Demonstration in Beirut am 19. Oktober 2019, der vierte Tag der Massenproteste.
Protestierende auf dem Weg zur Demonstration in Beirut am 19. Oktober 2019, der vierte Tag der Massenproteste. Foto: Doha Hassan

Miriam Younes, RLS: Im Libanon gab es 2015 die letzte große Protestwelle. Wo siehst Du Kontinuitäten und wo Unterschiede zu der damaligen Bewegung?

Lara Bitar: Es gibt Einige, die versuchen, die momentane Bewegung zu delegitimieren, indem Zweifel an ihrem «spontanen» Entstehungsmoment gesät werden und so verschiedenste Theorien auftauchen, die zum Beispiel ausländische Agitation suggerieren. Doch nichts von dem, was wir gerade beobachten können, ist spontan. Diese Massenmobilisierung steht in direkter Nachfolge zu den «Anti-Garbage» Protesten 2015, zu den Protesten von 2011 gegen das konfessionelle System und zahlreichen anderen Bewegungen, an deren Spitzen Feminist*innen, Arbeitsmigrant*innen, Angestellt*innen im öffentlichen Sektor oder Familienangehörige der Verschwundenen stehen.

Lara Bitar ist Medienaktivistin, Redakteurin und Organisatorin eines sich formierenden Kollektivs für unabhängige Medien in Beirut. Seit dem 17. Oktober 2019 berichtet sie über die Aufstände im Libanon. Hier geht’s zu ihrem Twitter: @larajbitar.

Mit ihr sprach am 4. November 2019 Miriam Younes, Leiterin des RLS-Programmbüros «Positiver Frieden» in Beirut.

Darüber hinaus baut sie auf Initiativen auf, die zum Beispiel seit geraumer Zeit Rechte für Geflüchtete strukturell organisieren, die Küstenstriche zurückfordern, oder für das Recht auf Wohnen und Umweltgerechtigkeit eintreten. Daher ist der Moment, den wir gerade erleben,  schlicht eine Fortführung dieser Bemühungen in einer zugegebenermaßen anderen Größenordnung. Lebanon Support hat kürzlich eine Grafik veröffentlicht, die veranschaulicht, wie wir Schritt für Schritt zu diesem Punkt gelangt sind. Für 2017 wurden rund 84 Kollektivmaßnahmen verzeichnet, 2018 waren es bereits 188. Seit dem Beginn des Jahres bis zum 16. Oktober hat es bereits 300 Aktionen gegeben. Das zeigt einen deutlichen Anstieg, der mit der Verschärfung der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Lage zu erklären ist.

Der Hauptunterschied zwischen der jetzigen «Oktoberrevolution», wie sie zum Teil genannt wird, und den Protesten von 2015, besteht darin, dass sie dezentral und landesweit stattfindet. Während 2015 die meisten Demonstrationen noch im Zentrum von Beirut abgehalten worden waren, sind es heute von Nord nach Süd 400 Städte und Dörfer, in denen Proteste lokal vor Ort organisiert werden. Ein weiterer, wesentlicher Unterschied liegt darin, dass diese Demonstrationen von der Arbeiterschaft initiiert wurden und nach vor auch von ihr bis zu einem gewissen Grad geführt und getragen werden. 2015 war es noch die liberale Mittelschicht, die die Bewegung entfachte und anführte und sozusagen für die Straße sprach. Heute wird jegliche Art von Führung eindeutig abgelehnt.

Was ich sehr interessant finde, ist die breite Akzeptanz einer Vielzahl von Initiativen. Wir sehen Menschen unterschiedlichsten Hintergrunds und verschiedenster Altersgruppen, die ohne Unterlass direkt einschneidende Aktionen  initiieren (Straßenblockaden, Schließung von Regierungsbüros und Banken, Störung der Arbeit regierungsnaher Firmen), anders als 2015 als die Medien viel Zeit darauf verwandten, den Verlust der Glasfassade des Le Grey[1] zu beklagen, die von Demonstrant*innen zerbrochen worden war. Und nicht zuletzt: Die Forderung, das System der paritätischen Machtverteilung abzuschaffen, besteht seit dem Taif-Abkommen von 1989[2]. Heute beobachten wir ein verändertes Bewusstsein, es entfernt sich von einer konfessionellen-klientelistischen hin zu einer mehr integrierten Zugehörigkeit in Form einer ansatzweise zusammengeschlossenen Arbeiterschaft. Es ist eine ganze Menge wüstes Gefluche zu vernehmen in den Protesten, insbesondere zu Beginn des Aufstands. So sehr, dass sich einige Politiker*innen öffentlich gegen die Beleidigungen und Schimpfereien positionierten, die von den Straßen schallten.

Viele Anliegen der Demonstrant*innen haben ihre Wurzeln in sozio-ökonomischen  Missständen, die sich seit Jahren akkumuliert haben. Welche Visionen für einen gerechten, sozialen Libanon zirkulieren unter den Demonstrant*innen?

Wiederholt gewaltsames Vorgehen der Sicherheitsbehörden und Milizen haben die Prozesse behindert, die notwendig wären, um eine kollektive Vision zu bilden. Natürlich findet Dialog zwischen zivilgesellschaftlichen Organisationen und Gruppen, die elektorale Veränderungen anstreben, nach wie vor statt. Doch im Moment wäre es schwer, über eine Zukunftsvision zu sprechen, die alle auf der Straße vereinen könnte. Meiner Einschätzung nach gibt es bisher keine Klarheit, da es dahingehend zu reale und unvereinbare Unterschiede zwischen den verschiedenen Gruppierungen und Demonstrant*innen gibt.

Jedoch gibt es eine Übereinkunft darüber, gegen was man ist: Das herrschende Proporzsystem, die gesamte machthabende Klasse, neoliberale Wirtschaftspolitik, die große Schere zwischen Arm und Reich, allgegenwärtige Korruption, fehlende Grundversorgung, unzureichender Zugang zu Gesundheitswesen und Bildung, Geschlechterungerechtigkeit (zumindest gilt das für Frauenrechtsgruppen) und rückläufige Steuermaßnahmen neben anderer langjährigen Fragen.

«Ich bin der/die Anführer*in der Revolution» ist einer der Hauptslogans der Revolution, der auf die Führungslosigkeit der Aufstände anspielt. Wo siehst Du Vorteile von «grassroot» oder führungslosen Protestbewegungen und wo denkst Du, sind Organisationssysteme notwendig?

Es gibt zudem «Ich bin der/die Gründer*in der Revolution» oder auch «Ich bin der/die Verhandler*in der Revolution».

Bei dem ersten Satz ist es wirklich bemerkenswert, wie sehr die Menschen aus früheren Erfahrungen gelernt zu haben scheinen. Die «Anführer*innen» von 2015 haben damals eine zentrale Rolle dabei gespielt, dass die Bewegung sich deligitimierte. Zum einen begannen sowohl der Staat als auch dessen mediale Sprachrohre, Einzelpersonen der Führungsriege herauszupicken. So kam es nach und nach zu regelrechtem Charaktermord. Zum anderen begingen aber die Sprecher (ausschließlich Männer) selbst den Fehler, sich von den sogenannten «Spitzeln» (Arabisch: «Mundaseen». Gemeint sind hauptsächlich junge Männer, die von den Demonstrant*innen beschuldigt wurden, während der Proteste absichtlich gewaltvoll und aggressiv vorzugehen, um die Bewegung zu zerschlagen) öffentlich zu distanzieren. Sie tappten somit in die für sie ausgelegte Falle und trieben einen Keil zwischen sich und den Rest der «Straße». Die Bewegung wurde so deutlich geschwächt.

Momentan findet eine kompromisslose Ablehnung von Führungspersonen jeglicher Art statt. Einige gehen dabei so weit, dass sie jeden, der/die sich als solche hervortun wollen, als Verräter*in bezichtigen. Hisbollah Generalsekretär Hassan Nasrallah und Präsident Michel Aoun haben wiederholt die Notwendigkeit betont, eine verhandlungsbefugte Führung zu bilden. Dem wurde, erneut, (berechtigterweise)  mit Vorsicht und Misstrauen begegnet und letztlich wurde die Forderung abgewiesen. Dass so sehr insistiert wird, ein Verhandlungsorgan zu bilden, geschieht nicht ohne Agenda – einziger Sinn und Zweck dieser Forderung ist es, jegliche repräsentative Instanz diskreditieren zu können, sollte sie ihre Pflichten nicht erfüllen. Aus diesem Grund war die Antwort unmittelbar und eindeutig: «Das Volk stellt die Forderungen. Das Volk verhandelt nicht.» Ich denke, es ist sehr wichtig, dieses Element der Bewegung nicht zu vergessen, um ihr radikales Potenzial realistisch darstellen zu können.

Gleichzeitig muss man sagen, dass eine Bewegung ohne zentrale Führung nicht bedeutet, dass keine Organisierung stattfindet. Täglich gibt es Aktionen, sei es Straßenblockaden oder aber strategische Langzeitplanung wie etwa unabhängige Gewerkschaften, die neugegründet wurden, oder auch das Arbeiten an Zukunftsvisionen für unsere Gesellschaft.

Die libanesische politische Elite verteufelt die Proteste entweder, will sie zerschlagen oder aber ringt sich bestenfalls kleine Zugeständnisse ab. Wie würdest Du ihre Strategie beschreiben?

Ich weiß nicht, ob ich dem zustimmen würde, dass die politische Elite tatsächlich Zugeständnisse macht. Ich möchte nochmals an das erinnern, was die Leute auf der Straße vor dem Rücktritt von Premierminister Saad Hariri in einem ihrer Sprechchöre zu sagen hatten: «Dein Reformentpapier ist nutzlos. Kannst baden gehen im Tee..Tee..Tee»,  und das zu der Melodie der italienischen anti-faschistischen Hymne «Bella Ciao». Wie auch immer man diese «Konzessionen» bewerten möchte – sie haben nichts mit dem geforderten strukturellen Wandel zu tun.

Ich denke, was die politische Elite macht, ist Zeit schinden, um die Bewegung letzten Endes zu zerstreuen, möglicherweise sogar mit Gewalt. Was die Strategie anbelangt war bisher eine Kombination verschiedener Taktiken von Angstmache (Angst vor einem zweiten Bürgerkrieg, vor einem «politischen Vakuum», vor dem Wirtschaftskollaps, oder auch Angst vor ISIS usw.) zu sehen. Zudem wurde alles dafür getan, um Uneinigkeit und Zwist unter den Demonstrant*innen zu säen. Es gab auch bereits einige Versuche, die Proteste für eigene Agendas zu beanspruchen, von den Lebanese Forces zum Beispiel, aber auch von anderen politischen Parteien (z.Bsp. Free Patriotic Movement), die sie als Auswuchs ihrer ganz eigenen Bemühungen verkaufen wollen. Aktivist*innen, die dies widerlegen wollen, sollen durch tägliche Missinformations-Kampagnen langsam demoralisiert werden.

Wir haben neue Wege erschlossen, um miteinander in Beziehung zu treten, die Welt wahrzunehmen und ein Teil von ihr zu sein.

Wie sieht Dein persönlicher Wunsch für die Zukunft der Revolution in den nächsten Wochen aus?

Ohne den Moment, indem wir uns gerade befinden, zu sehr romantisieren zu wollen, glaube ich, dass wir es geschafft haben, physische und symbolische Räume zu öffnen. Wir haben neue Wege erschlossen, um miteinander in Beziehung zu treten, die Welt wahrzunehmen und ein Teil von ihr zu sein. Ich denke, es ist jetzt entscheidend, dass wir nicht mit einer Niederlage aus diesem Moment hervorgehen, sondern ihn als einen entscheidenden Wendepunkt der letzten dreißig Jahre festhalten. Im ganzen Land ziehen die öffentlichen Plätze Revolutionär*innen an, doch sie liefern auch eine Repräsentation unserer Gesellschaften. Arme kommen, um kostenlos etwas zu Essen zu bekommen oder eine Unterkunft zu finden, ältere Menschen wollen ihre Erfahrungen und Bitten vorbringen, usw. Leider wurde bisher wenig Raum für Arbeitsmigrant*innen und Geflüchtete geschaffen, doch ich hoffe, dass sich das noch ändern wird. Ich kann außerdem auch nicht bedenkenlos hinter der hyper-nationalistischen Haltung stehen, die sich in öffentlichen Räumen breit gemacht hat und hoffe auf mehr Auseinandersetzung damit. Aber, als positive Schlussbemerkung, würde ich behaupten, dass mir der Akt des gemeinsamen Träumens in unserer Öffentlichkeit Hoffnung geschenkt hat, dass die Zukunft vielleicht doch uns gehören könnte.
 

Übersetzung aus dem Englischen von Katharina Borlinghaus.


[1] Ein Luxushotel in Downtown Beirut, dessen Glasfassade 2015 von DemonstrantInnen  zerstört wurde.

[2] Das Abkommen, das den libanesischen Bürgerkrieg offiziell beendete.