Nachricht | Staat / Demokratie - Partizipation / Bürgerrechte Dokumentation: Grundrechte und Demokratie in Zeiten von Corona

Vortrag von Rolf Gössner während Online-Veranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung Hessen am 2. März 2021

Gedanken und Thesen zum Ausnahmezustand, zu »neuer Normalität« und den Folgen

Vorbemerkung: In diesem Vortrag werden grundsätzliche Erwägungen und kritische Bewertungen vorgenommen – wohl wissend, dass sich die Corona-Lage und die Kenntnisse über dieses Virus und seine Mutanten ständig wandeln können, genauso wie die Erkenntnisse über Wirksamkeit, Verhältnis- und Verfassungsmäßigkeit exekutiv verordneter Eindämmungsmaßnahmen (Stand: Anfang März 2021). Trotz dieser Unwägbarkeit, trotz aller Vorläufigkeit behalten die in diesem Vortrag behandelten demokratischen und sozialen Grundwerte, Grundrechte und Verfassungsgrundsätze auch in der „Corona-Krise“ ihre Gültigkeit und dürfen in ihren Wesenskernen keinesfalls unter Pandemievorbehalt gestellt werden.

Bevor ich meine Gedanken und Thesen zum Corona-Ausnahmezustand vorstelle: Lassen Sie mich mit einer persönlichen Bemerkung beginnen, die bis in die Anfangsphase dieser Pandemie und ihrer Bekämpfung zurückreicht: Ich habe mich im Frühjahr 2020 sehr schwer getan, mich in diese Problematik einzumischen, Corona-Abwehrmaßnahmen bürgerrechtlich zu hinterfragen und öffentlich Kritik daran zu üben – und zwar wegen der durchaus realen Befürchtung, am Ende als „Corona-Verharmloser“ dazustehen, als unsolidarischer „Grundrechtsfreak“ oder verantwortungsloser Freiheitsapostel. Geht es doch bei Corona, wie es immer wieder heißt, um nicht weniger als um „Leben und Tod“ und bei den Abwehrmaßnahmen um „Gesundheits- und Lebensschutz“ sowie um „Solidarität“. Der moralische Druck und die Angst waren jedenfalls immens und wurden von Regierungsseite und massenmedial regelrecht forciert.

Und so kam es, dass die übergroße Mehrheit der Bevölkerung den Lockdown und die ergriffenen Schutzmaßnahmen als „alternativlos“ akzeptierte, dass viele Menschen, zivilgesellschaftliche Vereinigungen und auch die parlamentarische Opposition, einschließlich Linke und Grüne, allzu lange den Regierungskurs weitgehend mitgetragen haben. Sie haben sich aus unterschiedlichen Gründen mit Kritik zurückgehalten und selbst mutmaßlich unverhältnismäßige Grundrechtseingriffe nicht oder nur zögerlich hinterfragt – trotz mitunter widersprüchlicher und willkürlicher Maßnahmen, trotz anfänglicher verfassungswidriger Aushebelung der Versammlungsfreiheit, trotz Gesetzesverschärfungen im Eiltempo, trotz weiterer Verschiebung des politischen Machtgefüges zugunsten der Exekutive, trotz weiterer Entmachtung des Parlaments und damit der parlamentarischen Demokratie. Eine Mehrheit der Bevölkerung befürwortete die getroffenen Lockdown-Maßnahmen und nicht wenige verlangten und verlangen sogar noch weit mehr Einschränkungen und Kontrolle.

Angesichts solch überwiegender Akzeptanz beispielloser staatlicher Eingriffe in höchstpersönliche Bereiche, in Verhaltensweisen und Kontakte sowie angesichts solch ungewöhnlicher Konfliktscheu und Zurückhaltung mit berechtigter Kritik fühlte ich mich seinerzeit regelrecht gedrängt, meine Ängste zu überwinden und zu handeln: Mit meinen skeptischen Gedanken und zuspitzenden Thesen zum alptraumhaften Corona-Ausnahmezustand, zur absehbar „neuen Normalität“ und den mutmaßlich katastrophalen Folgeschäden wollte ich dazu beitragen, in dieser bedrückenden Zeit voller Alarmismus und großer Unsicherheit bürgerrechtliche Orientierung zu bieten für eine offene, für eine kritische und kontroverse Debatte.

Denn auch die gesellschaftliche Debatte hat – nicht zuletzt in den Medien – allzu lange unter Angst, Einseitigkeit und Konformitätsdruck gelitten, auch unter Diffamierung und Ausgrenzung. Diskussionskultur und Meinungsvielfalt haben in der „Corona-Krise“ jedenfalls gehörig gelitten und sie leiden noch immer – auch wenn Zweifel, Kritik und Gegenstimmen längst lauter und heftiger geworden sind, sich mitunter aber auch skurril bis gefährlich verirren.

Bei so viel immunschwächender, leicht manipulierbarer Angst und selten erlebter Eintracht waren und sind jedoch Skepsis und kritisch-konstruktives Hinterfragen vermeintlicher Gewissheiten und exekutiv-autoritärer Verordnungen, die unser aller Leben stark durchdringen, nicht nur angezeigt, sondern dringend geboten – ebenso wie die Überprüfung harter Grundrechtseingriffe auf Verhältnis- und Verfassungsmäßigkeit. Schließlich kennzeichnet das eine funktionierende und lebendige Demokratie – nicht nur in Schönwetterzeiten, sondern gerade in Zeiten großer Unsicherheit und Gefahren, die nicht nur aus einer, sondern aus ganz unterschiedlichen Richtungen lauern, gerade in Zeiten, die nicht nur die Gegenwart, sondern in besonderem Maße auch unsere Zukunft schwer belasten.

So viel also vorab – und nun komme ich zu meinen 12 Gedanken und Thesen zum Ausnahmezustand, zu „neuer Normalität“ und den Folgen:

1. Das Corona-Virus gefährdet nicht allein Gesundheit und Leben von Menschen, sondern schädigt auch elementare Grund- und Freiheitsrechte, Rechtsstaat und Demokratie – und zwar »dank« jener gravierenden Abwehr- und Schutzmaßnahmen, die dem erklärten und wichtigen Ziel dienen sollen, das krank gesparte Gesundheitssystem vor dem Kollaps zu bewahren sowie Gesundheit und Leben besonders gefährdeter Menschen zu schützen. Maßnahmen, die jedoch gleichzeitig – wie noch nie seit Bestehen der Bundesrepublik – tief in das alltägliche und private Leben aller Menschen eingreifen – mit dramatischen Langzeitfolgen, deren Ausmaß der Bundesrepublik, ihrer Gesellschaft und ihren Bewohner:innen noch lange schwer zu schaffen machen wird. Es war der Historiker René Schlott, der schon frühzeitig zu Beginn der „Corona-Krise“ im Frühjahr 2020 die Befürchtung äußerte, dass die „offene Gesellschaft“ auf diese Weise „erwürgt wird, um sie zu retten“. Es geht also auch um die berechtigte existentielle Frage, ob etliche der exekutiven Abwehrmaßnahmen womöglich langfristig schwerere Folgen zeitigen als das, was es abzuwehren gilt.

2. Tatsächlich erlebten wir im Frühjahr 2020 einen partiellen Lockdown, wie wir ihn bislang in der Bundesrepublik nicht kannten. Dieser von Bundes- und Landesregierungen in einer Art Panikreaktion verhängte „Ausnahmezustand“ – nach Novellierung des Infektionsschutzgesetzes Ende März 2020 „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ genannt – beeinträchtigte unser aller Leben. Nach einem etwas entspannteren Sommer erlebten wir im November 2020 eine Wiederholung in Form eines leicht abgewandelten sogenannten „Lockdown-light“, der angesichts weiter steigender Infektionszahlen ab Dezember 2020 wieder zu einem härteren Lockdown verschärft wurde – quälend hart bis hinein ins erste Quartal des Jahres 2021 und noch darüber hinaus.

Die Aussicht auf einen Dauer-Lockdown in unterschiedlichen Härtegraden scheint nicht mehr undenkbar, denn das Corona-Virus wird uns mitsamt seinen Mutationen wohl noch länger begleiten und gefährden. Die Wirkungen der Anfang 2021 nur schleppend angelaufenen Impfaktionen, auf die große Hoffnungen gesetzt werden, sind noch nicht eindeutig abgeklärt. Die Lage war Ende 2020 und Anfang 2021 ernst, zumindest gemessen an den jeweils aktuellen Infektionszahlen und den Corona zugerechneten Todesfällen – wobei es hinsichtlich Exaktheit und Aussagekraft, Relativität und Einordnung dieser Zahlen und festgelegter Grenzwerte täglicher Infektionszahlen bzw. 7-Tages-Inzidenzen auch in Wissenschaftskreisen durchaus recht unterschiedliche Auffassungen gibt.

3. Wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik haben Bundes- und Landesregierungen in den Jahren 2020 und 2021 aus Gründen des Gesundheitsschutzes mit exekutiven Verordnungen elementare Grund- und Freiheitsrechte der gesamten Bevölkerung massiv eingeschränkt. Betroffen sind: allgemeines Persönlichkeitsrecht, Recht auf Freizügigkeit, auf Bewegungs- und Handlungsfreiheit, auf Bildung, auf Versammlungs-, Meinungs-, Kunst- und Religionsfreiheit, der Schutz von Ehe, Familie und Kindern, Freiheit der Berufsausübung, Gewerbe- und Reisefreiheit usw.

Das private, familiäre, gesellschaftliche, soziale, schulische, kulturelle, religiöse und in weiten Teilen wirtschaftliche Leben eines ganzen Landes mit 83 Millionen Einwohnern ist stark heruntergefahren worden und kommt partiell zum Erliegen. Mit gravierenden gesundheitlichen, psychischen, sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Folgen, unzähligen Existenzvernichtungen und weiteren schweren Langzeitschäden in der gesamten Gesellschaft – Schäden, die nicht allein mit staatlichen Unterstützungshilfen kompensiert und verhindert werden können.

4. Es ist hierzulande mit durchaus sinnvollen Schutzregeln zwar zeitweise vieles richtiggemacht worden, aber leider auch manches nachlässig, verzögert oder falsch – zu wenig differenziert und nicht verhältnismäßig. Es gibt zumindest begründete Zweifel an der Angemessenheit mancher der zunächst panikartig und oft zu pauschal verhängten Lockdown-Maßnahmen auf einer weitgehend ungesicherten Datengrundlage. So etwa im Fall der Isolation sterbenskranker Menschen in Alten- und Pflegeheimen, die ihre Angehörigen nicht mehr sehen durften oder bei der Verhängung so mancher Kontaktsperren, Beherbergungs-, „Verweil-“ und anderer Verbote. Mit weniger irrwitzigem, dafür regionalem, lokalem und besonders zielgruppenorientiertem Vorgehen unter Einbeziehung von Gemeinwohlbelangen hätten wohl viele Schäden, hätte womöglich viel persönliches Elend verhindert werden können.

Das gilt vor allem hinsichtlich des so lange sträflich vernachlässigten Schutzes besonders gefährdeter alter und vorerkrankter Menschen, der ambulanten Pflegebereiche und der Alten- und Pflegeheime – spätere Hotspots, in denen bislang die allermeisten schweren Krankheitsverläufe sowie die allermeisten Todesfälle im Zusammenhang mit Corona zu beklagen sind.

5. Die Justiz, die anfänglich die exekutiven Freiheitsbeschränkungen kaum infrage gestellt hatte, hob danach in über hundert Fällen staatliche Corona-Maßnahmen wegen Rechts- oder Verfassungswidrigkeit wieder auf. Allein das müsste zu denken geben. Die Gerichte mahnen mit Blick auf die jeweils aktuelle Corona-Infektionslage – die, wie gesagt, differenzierter als bislang beurteilt werden müsste – immer wieder eine differenziertere Betrachtung und Behandlung der jeweiligen Einzelfälle an: so etwa angesichts anfänglich pauschal verhängter Versammlungsverbote, im Fall von Beherbergungsverboten, nächtlichen Ausgangssperren oder beim verhängten 15-km-Bewegungsradius etc. Diese Differenzierungspflicht gilt selbst für Zeiten erhöhter Infektionszahlen, auch wenn viele Gerichte in solchen Situationen wieder zurückhaltender argumentieren.

6. Bei all dem sollte ohnehin Berücksichtigung finden, was angesichts so manch einseitig-virologischer Politikberatung der Regierungen gelegentlich zu kurz kommt: Auch soziale Verwerfungen und gesundheitliche Folgen, die durch rigide Restriktionen unseres täglichen Lebens verursacht werden, müssen in eine verfassungsrechtlich gebotene differenzierende und transparente Abwägung zwischen Freiheitsrechten, Gesundheit und Leben einbezogen werden. Denn das Grundgesetz kennt kein „Supergrundrecht Gesundheit“, das alle anderen Grundrechte in den Schatten stellt, genauso wenig wie ein „Supergrundrecht Sicherheit“. Allein die Menschenwürde gilt absolut. Und so sind auch die (Über-)Lebenschancen (in) einer Gesellschaft, insbesondere auch für sozial benachteiligte Menschen und Personengruppen bei notwendigen Rechtsgüter-Abwägungen angemessen zu berücksichtigen. Gesundheitsschutz und Freiheitsrechte dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, Menschenleben nicht gegen Menschenrechte.

„Die Gesundheit ist ein Zustand des vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur des Fehlens von Krankheit und Gebrechen“, so steht es schon in der Präambel zur Verfassung der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Dieser ganzheitliche Ansatz, der auch die Grundlagen und Voraussetzungen von Gesundheit mit bedenkt, sollte auch hierzulande stärker Berücksichtigung finden.

7. Die „Corona-Krise“ hat über diese Problematik hinaus schon längst zu einer Demokratie- und Rechtsstaatskrise geführt. Der frühere Bundesverfassungsrichter Hans-Jürgen Papier hat gar vor einer „Erosion des Rechtsstaats“ gewarnt. Diese Entwicklung zeigt sich besonders krass an der exekutiven Missachtung der parlamentarischen Demokratie und an einer Selbstentmachtung der Volksvertretungen. Denn Bundestag und Bundesrat haben mit der Novellierung des Infektionsschutzgesetzes dem exekutiven Durchregieren per Dekret selbst zugestimmt: Und so basieren sämtliche Corona-Maßnahmen des Bundes und der Länder in einer vom Bundestag festzustellenden „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ auf Regierungsdekreten – zumeist ohne vorherige parlamentarische Debatte und Beschlussfassung (mit Ausnahme von Berlin, Bremen und in Ansätzen auch von Baden-Württemberg). Also zumeist ohne demokratische Legitimierung und damit eigentlich verfassungswidrig. Warum?

Weil es bei den exekutiven Verordnungen schließlich um massive Eingriffe in elementare Grundrechte der Bürger:innen, der gesamten Bevölkerung geht, verbunden mit schwerwiegenden gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen. In solchen Fällen sind zweifellos und zwingend die Parlamente gefordert: und zwar mit öffentlichen und kontroversen Debatten zwischen Regierung und Opposition, mit transparenter Rechtsgüter-Abwägung und verständlich begründeten Beschlüssen. Dass der Bundestag über die „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ zu entscheiden hat, genügt für eine demokratische Legitimierung konkreter und schwerer Grundrechtseingriffe, die unter dem „Regime“ dieser „Lage“ verhängt werden, keinesfalls.

8. Um diesen Ausnahmezustand der parlamentarischen Demokratie zu beenden, müssen Bundestag und Länderparlamente zwingend federführend an Beratungen und Entscheidungen über Corona-Abwehr- und Schutzmaßnahmen beteiligt werden. So viel Zeit muss in einem demokratischen Rechtsstaat auch in Zeiten schwerer Krisen sein. Denn nur so kann die Legislative mit transparenten Abwägungs- und Willensbildungsprozessen ihrer eigentlichen Funktion in einer parlamentarischen Demokratie wieder gerecht werden. Nur so sind Entscheidungen demokratisch legitimiert und kontrolliert. Nur so kann die mit der Ausrufung einer „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ erworbene Machtfülle eines dirigistischen Verordnungsstaates zurückgedrängt werden.

Denn Videokonferenzen mit Kanzlerin und Ministerpräsident:innen (Ministerpräsidenten-Konferenzen) sind kein verfassungsmäßiges, kein demokratisch legitimiertes Organ, das solche eingriffsintensiven Entscheidungen alleine treffen kann. Wobei auch Grundsatz-Entscheidungen wie etwa die Impf-Strategie bzw. Impf-Priorisierungen ins Parlament gehören und dort getroffen werden müssten. Das manifeste Demokratiedefizit muss jedenfalls rasch behoben, die parlamentarische Demokratie insoweit wiederhergestellt werden.

9. Und noch ein Warnhinweis für die Zukunft: Der Ausnahmezustand im modernen Präventionsstaat, wie er sich hierzulande schon seit Längerem entwickelt hat, tendiert dazu, auch nach erfolgter Krisenbewältigung zum rechtlichen Normalzustand zu mutieren. Dies kann zu einer gefährlichen Beschleunigung des längst eingeschlagenen Kurses in Richtung eines Sicherheits-, Kontroll- und Überwachungsstaats führen – eines präventiv-autoritären Sicherheitsstaates, der mit der in Corona-Zeiten beschleunigten Digitalisierung von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft noch zusätzlich befördert wird. Diese Tendenz vom Ausnahme- zum Normalzustand hat sich nach 9/11 schon deutlich gezeigt – zuletzt mit der Entfristung sogenannter Antiterrorgesetze aus den Jahren 2002 ff., die Freiheitsrechte stark beschneiden und längst schon als „Notstandsgesetze für den Alltag“ qualifiziert werden können.

Wie hatte es der Soziologe Ulrich Beck in seinem Buch zur „Risikogesellschaft“, in der wir längst leben, bereits Mitte der 1980er Jahre prognostiziert? Er sah mit dieser Risikogesellschaft eine fatale „Tendenz zu einem ‚legitimen‘ Totalitarismus der Gefahrenabwehr“ verbunden: Ausgestattet mit „dem Recht, das Schlimmste zu verhindern“, so Beck, schaffe sie in „nur allzu bekannter Manier das andere Noch-Schlimmere”. Oder anders ausgedrückt: Überschießende Reaktionen des staatlichen Abwehrsystems schädigen und zerstören, wie eine Autoimmunerkrankung, was es doch zu schützen gilt: Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat – und letztlich auch soziale Existenzen, Gesundheit und menschliches Leben.

10. Deshalb ist höchste Wachsamkeit geboten, damit sich der neue gesundheitspolitische Ausnahmezustand nicht allmählich normalisiert – schließlich ist längst die Rede von „neuer Normalität“ auf unbestimmt lange Zeit, in der Freiheit obrigkeitsstaatlich gewährt oder auch wieder entzogen werden kann. Und es ist schon jetzt höchste Wachsamkeit geboten, damit die längst zu verzeichnende autoritäre Wende sich nicht verfestigt – mit einem paternalistischen Staat, einer restriktiven Gesellschaft und einem stark kontrollierten und verkrampften Alltag, wie wir ihn inzwischen kennenlernen und erleiden mussten und weiterhin müssen.

Auch in Zeiten großer Gefahren und Angst muss man, um noch einen Gedanken Heribert Prantls aus der „Süddeutschen Zeitung“ aufzugreifen, nicht nur entschlossen gegen das Virus kämpfen, sondern auch gegen eine verhängnisvolle Stimmung, die in Krisenzeiten den demokratischen Rechtsstaat sowie Grund- und Bürgerrechte als Gefahr, Ballast, Bürde oder Luxus betrachtet und ziemlich bedenkenlos zur Disposition stellt. Diese Stimmung ist, trotz vermehrter Unruhe, Skepsis und Gegenrede, noch längst nicht überwunden. Wer sich in diesen Zeiten, in denen Grundrechte quasi unter Pandemievorbehalt stehen, aufs Grundgesetz beruft, macht sich jedenfalls rasch verdächtig.

Tatsächlich lesen wir in jüngerer Zeit immer wieder von der Sehnsucht nach chinesischen Überwachungsverhältnissen, lesen von „Mehr Diktatur wagen“, so der Schriftsteller Thomas Brussig in der „Süddeutschen Zeitung“, oder von „Es reicht, liebe Freunde der Grundrechte“, so in der Berliner Zeitung. Solch krassen, geradezu verfassungsfeindlichen Positionen und Tendenzen, die sich derzeit verstärkt in die Öffentlichkeit drängen, sollten wir entschlossen entgegentreten. Sie entspringen ganz offenbar der fast schon totalitären Vision einer virenfreien Gesellschaft – koste es, was es wolle.

11. Zum Abschluss möchte ich noch für die Einrichtung unabhängiger und interdisziplinärer Kommissionen oder Pandemieräte in Bund und Ländern unter zivilgesellschaftlicher Beteiligung plädieren, die längst schon hätten eingerichtet werden müssen. Ansätze dazu gibt es bislang lediglich in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein. Aufgabe solcher Räte sollte sein: die Politik in der „Corona-Krise“ kritisch zu begleiten sowie Erforderlichkeit, Wirksamkeit und Verhältnismäßigkeit staatlicher Abwehrmaßnahmen und ihre sozialen, gesundheitlichen, psychischen, kulturellen und wirtschaftlichen Folgen aufzuarbeiten und zu evaluieren. Aus so gewonnenen Erkenntnissen ließen sich Lehren ziehen für eine differenziertere, verhältnismäßige Bewältigung der weiteren Corona-Entwicklung und künftiger Pandemien. Auch wenn inzwischen eine Pflicht zur Evaluation durch eine Sachverständigen-Gruppe festgeschrieben worden ist (taz 4.03.2021), so reicht dies bei Weitem nicht aus – jedenfalls solange lediglich die epidemiologischen und medizinischen Wirkungen der Schutz- und Lockdown-Maßnahmen evaluiert werden sollen und nicht deren soziale und gesundheitlichen Auswirkungen und „Kollateralschäden“.

Eine längerfristige Strategie mit wissenschaftlich begleiteten, ausdifferenzierten und praktikablen Stufenplänen ist dringend geboten und überfällig – um nicht weiter von einem Lockdown in den nächsten getrieben zu werden und dabei die ohnehin schon starke soziale Spaltung noch weiter zu verschärfen.

12. Während der „Corona-Krise“ treten Missstände, Strukturmängel und Fehlentwicklungen in dieser Gesellschaft, ihrer Wirtschaft und weit darüber hinaus besonders krass zu Tage. Deshalb muss es auch darum gehen, Perspektiven für überfällige gesellschaftliche, gesundheitspolitische, soziale, ökonomische, ökologische und friedenspolitische Strukturveränderungen zu entwickeln und umzusetzen – in Richtung Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und Klimaschutz, Abrüstung und Frieden. Kurz: für eine gerechtere und zukunftsfähige Gesellschaft. Und ganz besonders wichtig: Der bereits angesprochenen ohnehin starken sozialen Spaltung, die sich in der Krise noch erheblich verschärft hat und weiterhin verschärfen wird, muss endlich mit geeigneten Maßnahmen begegnet werden.

Hinweis: Nachdruck bzw. Veröffentlichung, auch im Internet, nur mit Zustimmung des Autors

Dr. Rolf Gössner ist Jurist, Publizist und Kuratoriumsmitglied der Internationalen Liga für Menschenrechte (Berlin). Mitherausgeber der Zweiwochenschrift für Politik/Kultur/Wirtschaft „Ossietzky“ und des jährlich erscheinenden „Grundrechte-Reports. Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland“ (Fischer-TB) sowie Mitglied in der Jury zur Verleihung des Negativpreises BigBrotherAward. Ausgezeichnet unter anderem mit dem Kultur- und Friedenspreis der Villa Ichon Bremen sowie dem Hans-Litten-Preis 2020 der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen (VDJ). Internet: www.rolf-goessner.de

Der Referent ist Autor zahlreicher Publikationen zum Themenbereich Demokratie, Innere Sicherheit und Bürgerrechte, zuletzt: „Menschenrechte und Demokratie im Ausnahmezustand. Gedanken und Thesen zum Corona-Lockdown, zu ‚neuer Normalität’ und den Folgen“, hrsg. von der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen e.V. (VDJ); Ossietzky Verlag (Oktober 2020; Mail: ossietzky@interdruck.net). Demnächst erscheint sein neues Buch: „Datenkraken im öffentlichen Dienst. ‚Laudatio’ auf den präventiven Sicherheits- und Überwachungsstaat“, Verlag PapyRossa, Köln (April) 2021 (https://shop.papyrossa.de/Goessner-Rolf-Datenkraken-im-oeffentlichen-Dienst).