Zehn Jahre nach der Revolution stellt die jüngst veröffentlichte Meinungsumfrage zu Wahlintentionen der Tunesier*innen einmal mehr unter Beweis, was sich schon seit Monaten abzeichnete: Die etablierten linken Parteien des Landes tauchen lediglich noch in der Kategorie «Sonstige Parteien» mit 9,6 Prozent der Stimmen auf. Dabei ist anzumerken, dass zwei Drittel der Befragten keine Präferenz angaben. Einzige Ausnahme ist die arabisch-nationalistische Partei Volksbewegung. Auf den ersten Blick mag dieses Ergebnis angesichts der wochenlangen Proteste, die sich hauptsächlich um soziale Forderungen drehen, überraschen. Auch mit Blick auf die lange Tradition linker Parteien in Tunesien ist diese Lage erstaunlich – feiert doch die tunesische Linke dieses Jahr ihr hundertjähriges Bestehen.
Sicherlich muss dieses Ergebnis zunächst einmal im Licht der allgemeineren Krise der politischen Parteien gesehen werden. So gaben bei zuvor genannten Umfragen 67 Prozent der Befragten keinerlei Präferenz an. Im Gegensatz dazu fielen die Wahlintentionen für die personalisierten Präsidentschaftswahlen wesentlich höher aus. Dabei wird der Vertrauensverlust in Systemstrukturen auch bewusst von politischen Akteuren genutzt und dadurch verstärkt. Insbesondere der Staatspräsident Kais Saied ist für seine Ablehnung politischer Parteien bekannt und hat dies zu einem Hauptpunkt seines politischen Diskurses gemacht. Doch auch wenn die über 200 zugelassenen Parteien des Landes sicherlich alle von wachsendem Misstrauen betroffen sind, scheinen linke Parteien es doch in besonderem Maße zu sein.
Nadia El Ouerghemmi leitet das Programm Wissenschaftskooperation und arbeitet im Büro Tunis der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Dies ist spätestens seit den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2019 nicht mehr zu leugnen und sicherlich zum Großteil das Ergebnis des Scheiterns der Volksfront. Zwar wurde die Linke wie alle anderen politischen Akteure von den Ereignissen 2011 klar überrascht, dennoch wurde die Volkfront –ein 2012 gegründetes Bündnis aus linken Parteien und Organisationen – im Anschluss an die Wahlen 2014 und die Regierungsbildung von Ennahdha und Nidaa Tounes mit 15 von 214 Abgeordneten zur wichtigsten Oppositionskraft. Auch ihrem Kandidaten bei den Präsidentschaftswahlen Hamma Hammami gelang es mit 7 Prozemt der Stimmen Platz drei der Wahl zu erreichen. Experten erwarteten im Vorfeld der Wahlen sogar ein besseres Ergebnis.
Der Erfolg der Volksfront muss in einen breiteren gesellschaftlichen Kontext eingebettet werden, der durch die wachsende Unsicherheit geprägt war und in der Ermordung zweier Repräsentanten der Linken, Mohamed Brahmi und Chokri Belaid, gipfelte. In diesem Kontext gelang es der Volksfront, sich als überzeugende Alternative zu präsentieren und beachtliche Teile der Wählerschaft zu mobilisieren.
Doch dieser Sieg war nur von kurzer Dauer. So konnte die Volksfront ihre Rolle als Oppositionskraft im Parlament nur unzureichend erfüllen, was sich auch daran zeigt, dass sie im Laufe von fünf Jahren lediglich einen Gesetzesentwurf einbrachte. Auch bei anderen Fragen, wie etwa der Anhängigkeit Tunesiens von internationalen Geldgebern war die kritische Haltung des Bündnisses zwar wahrnehmbar, es gelang jedoch nicht, glaubwürdige Alternativen aufzuzeigen.
Stattdessen traten die internen Probleme der Volksfront immer stärker in den Vordergrund. So gelang es nicht, die politischen Divergenzen durch entsprechende Strukturen produktiv zu machen. Insbesondere die Konflikte zwischen den beiden Hauptakteuren der Front, der kommunistischen Arbeiterpartei und der Bewegung der Demokratischen Patrioten (Watad), prägten die Auseinandersetzungen. Sie gipfelten im Kollaps des Bündnisses im Vorfeld der Wahlen im Oktober 2019. Bereits im Mai waren 9 der 15 Abgeordneten aus der Fraktion ausgetreten und zu den Wahlen traten in einem Großteil der Wahlkreise zwei Listen unter dem Namen der Volksfront an. War die Volksfront noch die größte Oppositionspartei, so ist sie im aktuellen tunesischen Parlament nur noch mit einem Mitglied vertreten. Auch bei den Präsidentschaftswahlen kamen die drei Kandidaten lediglich auf 1,67 Prozent der Stimmen.
Angesichts dieser Krise mehren sich seitdem die Versuche, Lösungen zu finden. Dabei lassen sich aus den bis jetzt bekanntgegebenen Ankündigungen und Initiativen zwei Strategien unterscheiden: Zum einen versuchen Vertreter*innen der etablierten Parteien, den Anschluss an die politische Aktualität zurückzugewinnen. In diesem Sinne lässt sich etwa der Aufruf zu den jüngsten Demonstrationen für soziale Gerechtigkeit und gegen die Rückkehr des Polizeistaates interpretieren. Das geringe Mobilisierungspotenzial dieser Aufrufe dürfte jedoch ein Rückschlag gewesen sein. So waren es doch vor allem Zusammenschlüsse junger Aktivist*innen und nicht die etablierten Parteien des Landes, die etwa am 6. Februar anlässlich des Jahrestages der Ermordung einer der Hauptgründer der Volksfront an die 2.000 Demonstrierende auf der Avenue Bourguiba versammeln konnten.
Gleichzeitig lassen sich jedoch auch «radikalere» Herangehensweisen ausmachen, die weniger eine Reform der bestehenden Parteien und vielmehr die Gründung neuer linker Parteien anstreben. Hierzu zählt etwa die Ankündigung, eine neue kommunistische Partei zu gründen. Zum aktuellen Zeitpunkt lassen sich jedoch kaum verlässliche Aussagen über den Stand dieser Projekte machen. Auch wenn das Krisenbewusstsein weit verbreitet ist, sind die Lösungswege noch sehr unklar. Zum aktuellen Zeitpunkt zeichnet sich nicht ab, dass eine der Strategien die fragmentierte tunesische Linke hinter sich vereinen kann. Gerade angesichts der viel diskutierten Parlamentsauflösung mit anschließenden Neuwahlen ist dies jedoch dringend notwendig. Dabei gilt es, eine Reihe von Herausforderungen anzugehen. Neben einer internen Neuorganisierung müssen die linken Parteien des Landes insbesondere ihren Diskurs weiterentwickeln.
Es wird vielfach kritisiert, dass es den linken Parteien nicht gelingt, die breite Masse der Bevölkerung zu erreichen und sich ihre Zielgruppe größtenteils auf die intellektuelle Elite in den Großstädten konzentriert. Doch scheiterten sie bis jetzt nicht nur daran, neue Wähler*innen anzusprechen. Vielmehr gelingt es ihnen immer weniger, insbesondere die progressive Jugend des Landes zu überzeugen. Dies hängt auch damit zusammen, dass sie nicht imstande sind, zufriedenstellende Antworten auf eine Vielzahl wichtiger Fragen zu geben. Exemplarisch herangezogen wird hierfür oftmals das Thema Umwelt oder die Debatte um den Bericht der vom ehemaligen Präsidenten Béji Caid Essebsi eingesetzten Kommission zu individuellen Freiheiten, die sich unter anderem mit der Angleichung des Erbrechts oder der Entkriminalisierung von Homosexualität befasste. Durch ihre Unfähigkeit bzw. ihren Unwillen, sich zu diesen Themen klar zu positionieren, setzt die Linke auch ihr Potenzial bei jungen progressiven Wähler*innen aufs Spiel.
Tatsächlich konzentrierte sie sich lange Zeit auf ihre Rolle als Opposition – was vielfach die Opposition zum politischen Islam und der seit 2011 regierenden Ennahdha bedeutete. Ebendiese Rolle der Gegnerschaft zur Ennahdha und zum politischen Islam im Allgemeinen wird aktuell vor allem von der Parti Destourien Libre (PDL) und seiner Vorsitzenden Abir Moussi besetzt. Der PDL – bei der es sich um die Nachfolgerin der ehemaligen Regierungspartei handelt – gelang es dabei auch, Teile des linken Wählerpotenzials zu mobilisieren. Entscheidend für die Linke wird sein, inmitten der starken Polarisierung zwischen PDL und Ennahdha, ihre eigene Identität zu finden und überzeugend zu kommunizieren. Bis dahin ist zu erwarten, dass sich die Umfrageergebnisse zu den Wahlabsichten in den nächsten Monaten nicht nennenswert ändern werden.