Das kleine Katar ist einer der reichsten Staaten der Welt – und einer der umstrittensten mit Blick auf die Rechte der Arbeitsmigrant*innen. Sie haben es schwer im Land von Erdgas,
al-Jazeera und gekaufter Fußball-WM.
Es könnte alles so schön sein für das katarische Herrscherhaus: Das kleine, reiche Emirat am Golf macht auf dem internationalen Parkett eine gute Figur und besticht durch hohe Lebensqualität, hochklassige Bildung und Sportveranstaltungen von Weltrang. Das stimmt sogar – zu einem kleinen Teil. Zum größeren Teil, nämlich für die vielen Arbeitsmigrant*innen, die 85 Prozent der katarischen Bevölkerung ausmachen, sieht die Realität anders aus: Im Gegensatz zu den katarischen Staatsbürger*innen spielt Geld für sie sehr wohl eine Rolle, ist die hervorragende staatliche Gesundheitsversorgung nicht ohne weiteres kostenlos, und, vor allem: Sie halten mit ihren Jobs im Dienstleistungs- oder Baugewerbe das Land überhaupt erst am Laufen. Allerdings müssen sie auf ihre Bezahlung oft lange warten – oder sogar vergeblich.
Christopher Resch arbeitet als freier Journalist vor allem zu Themen aus Westasien und Nordafrika und ist Herausgeber des Bandes «Medienfreiheit in Ägypten» (2015). Zuvor war er für das Goethe-Institut in Ägypten und Saudi-Arabien tätig.
6500: Diese Zahl geistert seit dem 23. Februar durch die internationale Presse. So viele Arbeitsmigrant*innen seien in Katar gestorben, seitdem das Land Ende 2010 mit der Ausrichtung der Fußball-WM 2022 beauftragt worden war, schrieb der englische Guardian. Auch wenn die Zahl umstritten ist und nicht klar ist, welchen Anteil etwa Arbeitsunfälle auf den WM-Baustellen daran haben, steigt der öffentliche Druck immens. Auf die Fußballverbände der Teilnehmerländer, aber vor allem auf Katar.
Das Emirat bemüht sich, die Zahl zu zerstreuen: Es sei nicht klar, ob die Menschen auf den WM-Baustellen gestorben seien. Es sei eine vollkommen normale Todesrate. Und es sei ein Unding, dass die Bestrebungen zu einer Abschaffung des Kafala-Systems, in dem das Schicksal einzelner Arbeiter*innen an eine katarische Bürgschaft geknüpft ist, nicht ausreichend gewürdigt werden.
Expert*innen von Amnesty International, Human Rights Watch, Transparency International oder internationalen Gewerkschaften zeichnen ein differenziertes Bild. Es gibt starke Kritik, aber sie sehen durchaus auch eine positive Entwicklung verschiedener Rahmenbedingungen in den vergangenen Jahren. Doch trifft das auch auf die Umsetzung zu? Jüngst gab es erste Berichte, dass manche der angekündigten Verbesserungen bereits wieder zurückgenommen werden sollen. In der Realität sieht es noch häufig genug so aus, dass die gut 2,3 Millionen Arbeitsmigrant*innen teils monatelang auf ihren Lohn warten, bis zu 18 Stunden täglich arbeiten und ihren Job bis vor kurzem nicht aus freien Stücken wechseln durften. Auch die jüngst bekanntgegebene Erhöhung des Mindestlohns auf 1300 Katar-Riyal (Anfang April gut 304 Euro) ist ein Schritt in die richtige Richtung – oder nur ein Feigenblatt.
Die katarischen Herrscher wissen, wie sie die öffentliche Meinung für sich instrumentalisieren können. Dafür spannen sie ein Heer meist angelsächsischer PR-Firmen ein, die lange Zeit ihre Arbeit ziemlich gut erledigten, wenn man so will: Durch intensives «Sportswashing» war und ist ein Großteil der über Katar im Netz kursierenden Informationen positiv besetzt. Im Handball feierte das katarische, aber vor allem aus internationalen Größen bestehende Team große Erfolge. Bayern München fährt regelmäßig ins Trainingslager in die Hauptstadt Doha, der FC Barcelona wirbt wie auch die Bayern für Qatar Airways. Unvergessen, dass der Fußballstar Neymar für eine Wahnsinnssumme von insgesamt 600 Millionen Euro nach Paris wechselte – bezahlt aus Katar.
Das Geld kommt vor allem vom Erdgas. Katar beutet das South-Pars-Gasfeld aus, das mit Abstand größte Erdgasfeld der Welt. Daran hat auch der Iran Anteil, doch das rein auf katarischem Gebiet liegende Nord-Feld macht allein rund 20 Prozent der bekannten Erdgasreserven aus. Das 1984 für diesen Zweck gegründete quasi-staatliche Unternehmen Qatarqas ist heute der weltweit größte Produzent für Flüssigerdgas. Je nach angelegten Kriterien ist Katar eines der wohlhabendsten Länder der Welt – allerdings geht der kleine Staat auch höchst verschwenderisch mit seinen Ressourcen um.
Katars Finanzen fließen nicht nur in teure Marketingkampagnen, sondern immer stärker auch in den Import von Waffen. Vor allem französische und deutsche Hersteller verkaufen an Doha – im Jahr 2020 zahlte Doha 305 Millionen Euro für Kriegsgerät aus Deutschland. Waffen und Geld sichern Einfluss, etwa in Libyen, wo Katar an der Seite der Türkei die international anerkannte Regierung von Ministerpräsident Fajis al-Sarradsch in Tripolis unterstützt. Noch stärkeren, wenn auch schwerer messbaren Einfluss übt das Emirat jedoch über einen anderen Hebel aus: die Medien.
1996 gründete der damalige, bis 2003 amtierende Emir von Katar, Scheich Hamad bin Chalifa Al Thani, den Fernsehsender al-Jazeera. Der Sender wurde schnell zu einer gewichtigen Stimme in der ganzen Region Westasien und Nordafrika. Spätestens nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 und dem darauffolgenden Krieg der USA gegen die Taliban in Afghanistan wurde al-Jazeera auch international bekannt – und genoss lange Jahre den Ruf, vergleichsweise unabhängig zu sein. Al-Jazeera wolle den Marginalisierten der arabischen Welt eine Stimme geben, so der Anspruch. Mit dem Beginn der arabischen Revolten ab 2011 schlug sich der Sender dann zuerst auf die Seite der Aufständischen und tendierte in der Folge angeblich verstärkt in Richtung Muslimbruderschaft.
Dies ist ohnehin der Vorwurf an die katarischen Herrscher: Neben anderen terroristischen Gruppierungen unterstütze Doha die Muslimbrüder, die von den regionalen Playern Saudi-Arabien und Ägypten als einer ihrer inneren Hauptfeinde gesehen werden. Vor allem auch deshalb brach eine Allianz aus Ägypten, Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) und Bahrain Mitte 2017 ihre diplomatischen Beziehungen zu Katar ab und versuchte, das Land international zu isolieren und zu blockieren. Eine der 13 Forderungen, die die Allianz am 22. Juni 2017 an Katar stellte, war die sofortige Schließung al-Jazeeras. Katar kam vor allem aufgrund seines Reichtums gut durch die Blockade, musste einige internationale Lieferketten umlegen, machte ansonsten aber keine Zugeständnisse. Auf Vermittlung Kuwaits wurde der Konflikt Anfang Januar 2021 offiziell beigelegt.
Alles wieder schön also im Emirat – wenn da nicht diese unsägliche öffentliche Meinung im Vorfeld der WM wäre. Momentan herrscht im Land die Meinung, man tue doch mehr als genug und stehe gerade im Vergleich zu den Nachbarländern Saudi-Arabien und den VAE bestens da. Da ist was dran, genauso wie am Vorwurf, dass die westliche Welt die WM 2018 in Russland weit weniger scharf kritisiert habe. Die Hausangestellte in Doha und der Arbeiter auf der Großbaustelle haben davon aber rein gar nichts. Für sie muss sich noch einiges ändern in Katar, dem doch so reichen Land am Golf.