Gespräch mit Miriam Younes, Leiterin des Büros der RLS in Beirut. Die Fragen stellte Katja Hermann, Leiterin des Westasien-Referates der RLS in Berlin.
Im Irak ist am 10. Oktober ein neues Parlament gewählt worden. Das Ergebnis ist bis heute noch nicht offiziell bestätigt worden, obwohl die angesetzte Frist von 20 Tagen bereits am 30. Oktober abgelaufen war. Was sind Deiner Einschätzung nach die Gründe für diese Verschiebung und wie beurteilst Du die vorläufigen Ergebnisse?
Miriam Younes: Gerade erst letzten Freitag kam es in Bagdad zu Straßenkämpfen zwischen Milizen und der Armee, gestern wurde das Haus des noch amtierenden Premierministers Mostafa al-Kazemi mit Drohnen beschossen, ein vermeintlicher Mordanschlag. Diese Akte der Gewalt sind eng mit dem Wahlergebnis verbunden. Das von der Unabhängigen Hohen Wahlkommission verkündete vorläufige Ergebnis wird von vielen politischen Akteuren nicht akzeptiert. Nach diesem Ergebnis ist die Strömung von Moqtada Sadr [1] nicht nur die stärkste Kraft, sie hat mit 73 Sitzen im Vergleich zu den Wahlen von 2018 auch noch um 20 Sitze zugelegt. Das schürt bei vielen der anderen politischen Akteure die Angst, dass Sadr eine Mehrheitsregierung bilden kann und nicht auf Allianzbildungen angewiesen ist. Gleichzeitig hat die sogenannte Fatah-Allianz [2] unter Hadi al-Amiri, einem der wichtigsten Befehlshaber der al-hashd ash-sha’abi (der Volksmobilisierungseinheiten) [3] nach diesem Ergebnis sehr viele Sitze verloren: im Jahre 2018 erhielt die Allianz 52 Sitze, in den jetzigen Wahlen nur 16 Sitze. Das ist für die Allianz und für die verschiedenen Milizen der Volksmobilisierungseinheiten ein schwerer Schlag, weshalb sie das Ergebnis ablehnen und ihre Macht jetzt auf der Straße demonstrieren. Bei vielen Menschen im Irak herrscht mittlerweile die Angst, dass dieser Machtkampf in den folgenden Monaten auf der Straße ausgetragen wird und es einmal mehr zu einer Periode der Instabilität und Gewalt im Irak kommt.
Zu den Ergebnissen und ihrer Analyse selber fällt mir auf, dass gerade in englisch- und deutschsprachigen Medien sehr schnell von einem Sieg der Sadristen gesprochen wird und einem schwindenden Einfluss des Irans und den dem Iran nahestehenden Milizen. Als würde es nur um die Anzahl der Sitze gehen, um zu verstehen, wie die irakische Bevölkerung gewählt hat. Ich denke aber, man muss noch ein wenig weiter schauen: zum einen war die Wahlbeteiligung mit 36% extrem gering, und das ist ein Trend seit den ersten Wahlen nach dem Sturz Saddam Husseins im Jahre 2005. Das heißt, das Ergebnis muss vor allem unter dem Aspekt gesehen werden, dass für die Mehrheit der Bevölkerung diese Wahlen gar nicht relevant waren und sie sich gar nicht erst die Mühe gemacht haben, ihr Wahlrecht auszuüben. Das Ergebnis repräsentiert damit auch weniger als die Hälfte der irakischen Bevölkerung.
Ein zweiter wichtiger Punkt ist das neue Wahlgesetz, das zum ersten Mal in diesen Wahlen vollzogen wurde. Dieses sieht einen Wechsel von einem Wahlgesetz mit geschlossenen Listen und proportionaler Verteilung (wie 2003 beschlossen) zu einem einfachen, nicht übertragbaren Stimmrecht für jede wahlberechtigte Person vor. Zusätzlich wurde die Zahl der Wahlbezirke von 18 auf 83 erhöht. Das Ziel dieses veränderten Wahlgesetzes ist vornehmlich die Verbesserung der Chancen von individuelle Kandidat*innen zuungunsten der großen Parteien. Das ist in der Praxis wohl nur teilweise gelungen, stattdessen ist es einfach einigen der großen Parteien wie den Sadristen besser gelungen, diese veränderten Bedingungen zu nutzen. So haben die Sadristen und die Fatah-Allianz tatsächlich fast die gleiche Stimmzahl (etwa 650,000) erhalten, aber durch das Wahlgesetz verteilen sich die Sitze in komplett anderem Verhältnis.
Man muss in der Analyse des Wahlergebnisses also verschiedene Aspekte berücksichtigen, das Ergebnis ist aber nun so wie es ist und hat dementsprechend seine Folgen – die wir heute sehen.
Inwieweit wurden die Forderungen der Protestbewegung, die seit 2019 im Irak aktiv ist, im Wahlkampf und bei den Wahlen aufgegriffen?
Die verschiedenen Gruppen und Aktivist*innen der Protestbewegung waren bezüglich der Wahlen geteilt: die Mehrheit hat die Wahlen als demokratische Farce abgetan und sie dementsprechend boykottiert. Der andere Teil hat entschieden, an den Wahlen teilzunehmen und dazu Allianzen und Parteien gegründet und Kandidat*innen zur Wahl gestellt. Diese Gruppen haben versucht, die Forderungen der Protestbewegungen in ihrem Wahlkampf aufzunehmen. Allerdings sind die Forderungen der Bewegung allgemein eher unklar, häufig eher Wunschdenken als ein wirkliches Programm, die neuen Gruppen und Parteien sind politisch weitgehend unerfahren, deswegen ist es nicht leicht zu sagen, dass die Forderungen der Protestbewegung in den Wahlkampf wirklich integriert wurden, generell ist die Protestbewegung als solche aber in den Wahlen präsent gewesen.
Die vorgezogenen Parlamentswahlen und das neue Wahlgesetz waren Forderungen der Protestbewegung. Warum haben sich Teile der Bewegung dennoch dafür entschieden, die Wahlen zu boykottieren?
Die vorgezogenen Wahlen und das Wahlgesetz waren Teil der Forderungen eines Teils der Protestbewegung, aber sie werden gerne von der politischen Elite als die Forderungen stilisiert, die von ihr aufgegriffen und realisiert wurden. Ein vermeintliches Zugeständnis also an die Protestbewegung. Dabei kam es schon während der Proteste zu Meinungsverschiedenheiten, was diese Forderung angeht. Für viele war und ist immer noch klar, dass das politische System und die politische Elite im Irak in dieser Form nicht weiterexistieren können, sondern von Grund auf erneuert werden müssen. Deswegen macht es auch keinen Sinn, innerhalb der bestehenden Institutionen und Mechanismen zu versuchen, die politische und wirtschaftliche Lage zu verändern. Durch die massive Gewalt der irakischen Sicherheitskräfte gegen die Protestierenden nahm diese Haltung noch zu. Für viele Aktivist*innen war klar, dass sie nicht an der Wahl zu einem Parlament teilnehmen werden, das angesichts so massiver Gewalt schwieg und nicht eingriff.
Aus der Protestbewegung hat sich auch eine Partei herausentwickelt, die sich für die Teilnahme an den Wahlen entschieden hat. Wer sind die Akteure von «Imtidad» («Verbreitung/Verlängerung»), wofür steht diese Partei und wie hat sie bei den Wahlen abgeschnitten?
Die Imtidad-Bewegung («harakat al-imtidad») ist eine junge politische Partei, an deren Spitze Alaa al-Rikabi, ein Pharmazeut aus Nasiriya, steht. Nasiriya liegt südlich von Bagdad und ist die viertgrößte Stadt des Iraks. Die Bevölkerung der Stadt war sehr aktiv in der Protestbewegung und Alaa al-Rikabi war einer der führenden Köpfe der Proteste. Imtidad bezeichnet sich selbst als politische, nicht-konfessionelle, nicht-rassistische und nicht-ethnische politische Bewegung, deren Ziel es ist, einen irakischen Staat aufzubauen, der auf «citizenship» («Staatsbürgerschaft») und staatlichen Institutionen basiert. Das ist natürlich ein großes Ziel in einem Staat, in dem seit Jahrzehnten so viel schiefläuft. Die Imtidad-Bewegung hat sich nun entschieden, an den Wahlen teilzunehmen, und zwar mit extrem geringen Ressourcen und Unterstützung. Quellen zufolge hat die Bewegung etwa 3000 USD für den Wahlkampf in der Dhi Qar Provinz um Nasiriyeh ausgegeben, das ist natürlich sehr wenig und mehr hatten sie auch nicht zur Verfügung. Nach dem momentanen Stand der Ergebnisse hat die Bewegung nun neun Sitze im Parlament erhalten, das ist relativ gesehen ein großer Erfolg für eine solch kleine Bewegung. Gleichzeitig sind die Möglichkeiten mit neun Abgeordneten sehr gering, und das ist der Bewegung auch bewusst. Sie weigern sich, Allianzen mit den großen Parteien einzugehen, suchen eher Verbündete unter den unabhängigen Abgeordneten und den kleinen Gruppen, die ihnen politisch näherstehen und sehen sich eher als eine Art «Wachhund» im Parlament, der die Arbeit der politischen Elite kontrolliert und hinterfragt. Inwiefern ihnen das gelingen wird und sie möglicherweise zu Veränderungen beitragen können, werden die nächsten Jahre zeigen.
Wie steht es derzeit um die Protestbewegung, die vor zwei Jahren so groß und kraftvoll aufgetreten ist und dann mit aller Härte niedergeschlagen worden ist?
Aus der Außenperspektive sieht es so aus, als wäre die Protestbewegung eingeschlafen bzw. an den vielen Herausforderungen zerbrochen. So wurden die Protestierenden auf der Straße von den Milizen und den Sicherheitskräften mit Gewalt niedergeschlagen, und bis heute werden auch einzelne Aktivist*innen Opfer von Anschlägen durch Milizen. Diese extreme Gewalt von Seiten verschiedener Akteure führt zu Angst und Unsicherheit bei den Protestierenden und macht es immer schwieriger für sie, politisch aktiv zu bleiben und für Wandel zu kämpfen. Deswegen gibt es heute keine Protestcamps mehr im Land, viele Aktivist*innen sind aus Angst vor Unterdrückung und Gewalt momentan entweder gar nicht mehr in Bagdad oder weitgehend inaktiv. Innerhalb der Protestbewegung gibt es zudem viele Meinungsunterschiede, z.B. wie man zu den Sadristen steht, ob man an den Wahlen teilnimmt, was die richtige Art und Weise ist, Wandel zu erreichen, welche Forderungen und Strategien man wählt etc. Diese Fragen und unterschiedlichen Haltungen ergeben sich automatisch im Laufe der Zeit bei großen Protestbewegungen. Dennoch denke ich, dass man sich von diesen Entwicklungen nicht täuschen lassen darf: die Aktivist*innen sind weiterhin da und setzen ihren Kampf fort, sie organisieren sich in vielfältiger Weise und mobilisieren weiterhin für einen politischen Wandel im Irak. Es ist eine schwierige Phase im Irak, aber das ist für viele Aktivist*innen nichts Neues, insofern bin ich mir sicher, dass die Proteste in irgendeiner Form weitergehen werden, auch vor allem deswegen, weil die politische und wirtschaftliche Lage im Land sich momentan eher verschlechtert als verbessert.
Du hast eben von dem Erfolg der Sadristen gesprochen. Wie erklärst du den Erfolg der Bewegung, die erneut als stärkste Kraft aus den Wahlen hervorgegangen ist?
Für mich ist der Erfolg der Sadristen auch ein Rätsel. Das liegt auch daran, dass Sadr und seine Strömung vor allem Anhänger*innen in den armen Vierteln und Städten des Iraks haben und ich mit diesen Anhänger*innen tatsächlich noch nie persönlich in Kontakt war. Ich habe die Sadristen im Winter 2019 auf dem Tahrir-Platz gesehen, sie waren damals vor allem im sogenannten «Türkischen Restaurant» präsent, einem leerstehenden hohen Gebäude in der Mitte des Platzes. Es waren vor allem junge Männer, denen man ansah, dass sie im Leben schon viel durchgemacht und nicht mehr viel zu verlieren haben. Das ist aber nur ein Eindruck, der aus einer Momentaufnahme entstanden ist. Klar ist aber: Sadr hat eine große Anhängerschaft im Irak, das zeigen die Wahlen und das haben die Proteste gezeigt. Wer genau diese Anhänger*innen sind und warum sie dieser Strömung und Sadr Glauben schenken, finde ich schwierig zu beantworten. Ich denke, dass Sadr und auch sein Vater charismatische Figuren sind bzw. waren, sehr erfolgreich darin, die Stimmung in der Bevölkerung zu spüren und ihren politischen Diskurs darauf aufbauen. Sadr wechselt seine Position auch häufig, je nachdem, wie der politische Wind weht: mal bekennt er sich zum Iran, mal dagegen, mal zu den USA, mal dagegen. Er spielt mit verschiedenen Identitäten: einer irakisch-nationalen und einer schiitischen und er stilisiert sich als Kämpfer gegen Korruption und soziale Ungleichheit. Ich denke, damit kann man teilweise den Erfolg der Strömung erklären.
Was bedeuten Deiner Einschätzung nach die Wahlen für die weiteren politischen Entwicklungen im Irak?
Es wird sehr wegweisend sein, was in den nächsten Wochen und Monaten passiert, d.h. gelingt es, die Spannungen auf der Straße zu kontrollieren und die Iran-nahen Parteien und Milizen dazu zu bringen, das Wahlergebnis anzuerkennen? Kann das Wahlergebnis dann offiziell verkündet werden? Wird es möglich sein, eine Regierung zu bilden? Und wenn ja, was für eine Regierung wird das sein? Eine Allianzregierung oder eine Regierung, die vor allem von Sadr dominiert ist? Je nachdem, wie diese Fragen beantwortet werden, wird sich das politische Szenario entfalten. Das Problem ist, dass wenige dieser Fragen tatsächlich in Richtung politischer Wandel gehen, es geht wieder einmal vor allem um den Machtkampf derselben Elite und der Aufteilung der Ressource «Staat und seine Institutionen». Insofern gebe ich Teilen der Protestbewegung recht, dass es momentan wohl eher unmöglich ist, profunden politischen Wandel durch Wahlen zu erzielen.
Gibt es sinnvolle solidarische Impulse für Irak, die von außen kommen können und welche könnten das Deiner Meinung nach sein?
Ich denke, ein Problem ist, dass Menschen «von außen» oft gar nicht wissen, was im Irak vor sich geht bzw. nur bestimmte Aspekte von irakischer Politik und Realität sehen, also zum Beispiel die konfessionelle Gewalt, die Präsenz des IS, die Kurdenfrage etc. Ich glaube, es ist wichtig, dass die Stimme des «anderen Iraks» nach außen gebracht wird, also, dass es eine progressive Protestbewegung mit verschiedenen Positionen gibt, bestehend aus unterschiedlichen Gruppen und Parteien, die sich ernsthaft mit einer politischen Alternative für den Irak auseinandersetzen. Ich finde es wichtig, dass wir mit diesen Gruppen in Kontakt sind. Wichtig ist auch, dass man gerade außerhalb des Iraks auf die Gewalt von Seiten der staatlichen Sicherheitskräfte und der Milizen hinweist. Gerade während der Proteste starben fast täglich Menschen auf der Straße oder wurden in ihren Häusern ermordet. Es wurde weder darüber groß berichtet noch wurde die Gewalt verurteilt. Ich denke, hier müsste man mit der Solidarität von außen anfangen.
[1] Moqtada Sadr ist ein schiitischer Kleriker und Politiker im Irak. Er ist Anführer der Sadr-Strömung (at-tayyar as-Sadri) und unterhält auch seine eigene Miliz. In den letzten Jahren hat sich die Strömung häufig gegen den großen Einfluss des Irans im Irak gewandt.
[2] Die Fatah-Allianz ist eine Allianz von verschiedenen Milizenführern im Irak, die dem Iran sehr nahestehen. Angeführt wird die Allianz von Hadi al-Amiri, dem Kommandeur der Badr-Organisation, einer Iran-nahen Partei und Miliz.
[3] Die Volksmobilisierungseinheiten sind ein Bündnis von etwa 40 schiitischen Milizen, die sich im Jahre 2014 im Kontext des Kampfes gegen den IS zusammengeschlossen haben. Das Bündnis wird vom irakischen Staat anerkannt und unterstützt.