Seit Anfang der 1990er Jahre sind im deutschen Sprachraum mehr als ein Dutzend Bücher über Juden bzw. jüdisches Leben in der DDR erschienen, häufig basierend auf neu zugänglichen Archivmaterialien und Zeitzeugenberichten. Während die Mehrheit der Publikationen sich kritisch mit der Politik der SED-Führung bzw. der Regierung des ostdeutschen Staates auseinandersetzt oder jüdische Gemeinden in den Fokus stellt, enthält der vorliegende Band ausschließlich Porträts von Einzelpersonen. Als achtbare Ergänzung zur entsprechenden zeithistorischen Forschung sucht er die Frage zu beantworten, wie Juden in der DDR mit ihrer jüdischen Identität umgingen bzw. in welchem Spannungsfeld zwischen Anpassung und Dissidenz sie sich bewegten.
Herausgeber des Sammelbands sind die in der DDR als Kind jüdischer Exilanten aufgewachsene Schriftstellerin und Kolumnistin Anetta Kahane, Vorsitzende der 1998 gegründeten Amadeu-Antonio-Stiftung, und der aus Freiburg (Breisgau) stammende Historiker, Politikwissenschaftler und Journalist Martin Jander. Die beiden im Band auch mit Einzelbeiträgen vertretenen Autoren hatten im Januar 2017 in Berlin eine Konferenz zum Thema «Nach Auschwitz: Schwieriges Erbe DDR» mitgestaltet und deren Resultate – gemeinsam mit den Historikern Enrico Heitzer und Patrice G. Poutrus – in einer 2018 erschienenen Publikation gleichen Titels vorgestellt. Die aktuelle Veröffentlichung, in der auch sieben Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Tagung zu Wort kommen, kann somit als Fortsetzung bzw. Ergänzung bisheriger Recherchen eines größeren Teams verstanden werden.
In 16 knappen, acht- bis zwölfseitigen Aufsätzen werden Biografien von Menschen vorgestellt, die nach 1945 aus dem Exil – aus westlichen Ländern, Mexiko oder Palästina – in die sowjetische Besatzungszone «zurückkehrten» bzw. in Deutschland überlebt hatten und im neu gegründeten ostdeutschen Staat ihre Zukunft sahen. Gemeinsam ist allen Werdegängen, dass es sich um politisch aktive Persönlichkeiten handelte, die eine linke Weltanschauung vertraten und sich in den Reihen der Sozialdemokratie bzw. als Kommunisten engagierten. Mit wenigen Ausnahmen handelt es sich um Vertreter derselben Generation, geboren am Ende des 19. Jahrhunderts oder in den nachfolgenden Jahrzehnten.
Zusätzlich zu den Porträts bereits bekannter und in der Literatur wiederholt ob ihrer Authentizität thematisierter Persönlichkeiten (Victor Klemperer, Arnold Zweig, Paul Merker, Julius Meyer, Stefan Heym, Helmut Eschwege, Wolf Biermann, Jurek Becker) werden in der neuen Publikation mehrere bisher weniger bekannte Personen vorgestellt. Obwohl in der DDR eine achtbare Zahl von Jüdinnen in Wissenschaft und Kultur präsent war – beispielsweise Lea Grundig, Helene Weigelt, Alex Wedding, Marie Simon, Irene Runge – enthält das Kompendium nur zwei Frauenschicksale. Ausgeblendet werden zudem Personen jüdischer Herkunft, die in der SBZ bzw. in der DDR bedeutende Positionen in Politik, Wissenschaft oder Kultur bekleideten. Die Biografien Albert Nordens, Hermann Axens, Alexander Abuschs, Stephan Hermlins, Rudolf Hirschs, Jürgen Kuczynskis oder Peter Edels bzw. der oben genannten Frauen gehören jedoch unabdingbar zur Geschichte der «Juden in der DDR».
Im Vorwort des Sammelbands tauchen nicht selten einseitig pauschalisierende Wertungen auf. So heißt es expressis verbis, die DDR habe «eine Anerkennung der deutschen Verbrechen gegen die Juden verweigert»,«viele in die DDR zurückgekehrte Juden in die Flucht getrieben» und «die Juden […] fast vollständig aus dem antifaschistischen Gedächtnis der Gesellschaft» verdrängt (S. 15f). Viele Autorinnen und Autoren der Publikation zeichnen indes stärker differenzierende Bilder. In den Mittelpunkt stellen sie das häufig mit vielen Illusionen behaftete Ringen um «ein neues Deutschland», das seine Lehren aus der NS-Vergangenheit gezogen habe. Mitunter wird auch Überlegungen Raum gegeben, warum relativ viele der Holocaust-Überlebenden den westlichen Teil Deutschlands mit seinen zahlreichen NS-Tätern in wichtigen Positionen nicht als neue Heimat zu akzeptieren vermochten. Im deutschen Westen habe ihnen – so eine mögliche Erklärung – «eine liberale, offene, demokratische Gesellschaft […] als Alternative zur DDR […] bis zum Ende der 1960er Jahre im Wesentlichen» gefehlt. (S. 32)
Die Publikation zeichnet sich jenseits generalisierender Wertungen durch sehr persönlich gehaltene und anrührend subjektive Beiträge aus. So porträtiert Irene Selle ihren Vater Rudolf Schottländer; Anetta Kahane stellt Victor Klemperer, den Onkel ihres Großvaters, vor; Regina Scheer berichtet über ihre Bekanntschaft mit Hertha (Gordon) Walcher, einer engen Mitarbeiterin Clara Zetkins und zeitweilig Sekretärin von Karl Radek. Patrice G. Poutrus beschreibt in seinem Aufsatz eigene Erfahrungen mit dem Werk des Schriftstellers Jurek Becker: «Sein Beharren auf einer atheistischen Grundhaltung und sein erklärter Respekt vor jüdischem Glauben und jüdischer Kultur sind für mich kein Widerspruch. Seinen schwarzen Humor und seine Selbstironie, wovon seine Freunde und Liebsten wiederholt berichten, hätte Icke gern persönlich kennengelernt.» (S. 190)
Positiv hervorgehoben sei auch der Abdruck dreier Schlüsseldokumente aus der Endphase der DDR, die sowohl die Aufbruchstimmung und Hoffnung auf ein «anderes Deutschland» als auch das kritische und selbstkritische Herangehen ostdeutscher Protagonisten an die jüdische Problematik belegen. Konkret handelt es sich um den Aufruf, sowjetische Juden in der DDR aufzunehmen (Antrag der «Initiative Frieden und Menschenrechte», vorgelegt am Runden Tisch am 12. Februar 1990), um die Erklärung der Volkskammer vom 12. April 1990, in der das erste frei gewählte Parlament der DDR sich zur «Verantwortung der Deutschen in der DDR für ihre Geschichte und ihre Zukunft» bekannte und «die Juden in aller Welt um Verzeihung» bat, sowie um den Beschluss der Volkskammer, sich von der UN-Resolution 3379, in der 1975 Zionismus und Rassismus gleichgesetzt wurden, zu distanzieren. (S. 202-205)
Summa summarum enthalten die 16 Porträts Einordnungen, Bezüge oder Sachverhalte, die vielen Leserinnen und Lesern neue Einblicke in das Leben und Wirken der vorgestellten Persönlichkeiten geben. Manch Hintergrund und viele Details jedoch bleiben ausgeblendet. So dienten die Verfolgung und Inhaftierung jüdischer Remigranten zu Beginn der 1950er Jahre nicht zuletzt der Gruppe Ulbricht, sich missliebiger Machtkonkurrenten innerhalb der SED zu entledigen. Vor dem Hintergrund konstruierter Anschuldigungen gegen «Kosmopoliten, Zionisten und imperialistische Agenten» wurden innerparteiliche Auseinandersetzungen ausgetragen. So wurde der (nichtjüdische) Kommunist Paul Merker, seit 1947 Mitglied des Zentralsekretariats der SED und vehement engagiert für die Belange jüdischer Opfer des Nationalsozialismus, 1950 aus der SED ausgeschlossen, zwei Jahre später verhaftet und 1955 zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Über den charismatischen, brillanten Redner hatte Heinrich Mann im März 1946 gesagt: «Deutschland wäre gut daran mit Paul Merker als Reichskanzler» zum Nutzen für «das Land: seine innere Entwicklung, sein Verhältnis zur Welt. Der berufene Staatsmann dieser Epoche beherrscht mehr als je die Kunst des Möglichen; er vermittelt zwischen seiner Entschlossenheit und seiner Bescheidung.»[1]
Arnold Zweig, der die Zeit nationalsozialistischer Verfolgung im palästinensischen Exil überlebt hatte und 1948 seinen Wohnsitz in der SBZ nahm, wird im Buch als Künstler dargestellt, der sich «bis an sein Lebensende zu Israel» bekannt habe (S. 39). Die historisch zutreffende Einschätzung lässt sich verifizieren durch Zweigs «Memorandum, einen Versuch betreffend, die Beziehungen zwischen dem israelischen und dem deutschen Volke zu verbessern». Am 26. Oktober 1949, also unmittelbar nach Gründung des ostdeutschen Staates, ließ der Schriftsteller das Dokument dem ersten DDR-Volksbildungsminister, Paul Wandel, zukommen. Zweig schlug u. a. vor, die DDR solle Israel eine Lizenz für die Produktion eines Werkstoffes aus Magnesiumchlorid, der von den Nazis entwickelt worden war, «als Beitrag zur Entschädigung der Opfer des Naziregimes» überlassen.[2]
Zweifellos hätten Vergleiche zur parallelen Situation bzw. Rück- oder Eingliederung von Jüdinnen und Juden im westlichen Teil Deutschlands den Rahmen der Publikation gesprengt. Dennoch sei betont, dass Antisemitismus zeitbezogen in beiden deutschen Staaten, d. h. in der ost- wie in der westdeutschen Bevölkerung und gleichfalls in Behörden und an Stammtischen, durchaus existierte und belegbar ist. Auch die im Sammelband angesprochene Tatsache, dass über Jahrzehnte das Gedenken an den 9. November 1938 in der DDR vor allem im Rahmen der jüdischen Gemeinden und protestantischen Kirchen stattfand, nicht jedoch durch den Staat verantwortet wurde, trifft ebenso auf die Bundesrepublik zu.
Die klare Abgrenzung und strikte Verurteilung von Antisemitismus in all seinen Erscheinungsformen bleiben somit – sowohl in zeithistorischer Rückschau als auch für Gegenwart und Zukunft – unabdingbare Bestandteile deutscher Vergangenheitsbewältigung und Staatsraison. Daran bindet sich der konkrete Auftrag an Wissenschaft, Kultur und Publizistik, die Schicksale von Jüdinnen und Juden in den Nachfolgestaaten des Dritten Reichs – BRD, DDR und Österreich – nachzuzeichnen. In diesem Kontext sei der Anregung Anja Thieles gefolgt, «die DDR stärker als bisher als postnationalsozialistisches Land wahrzunehmen und zu erforschen» (S. 151) sowie einen differenzierend kritischen Blick auf Dissidenz und Opposition in der DDR zu werfen.
[1] Wolfgang Kießling: "Paul Merker und der «Sozialismus der dummen Kerls»", in: Mario Keßler (Hrsg.): Antisemitismus und Arbeiterbewegung. Entwicklungslinien im 20. Jahrhundert, Bonn 1993, S. 89.
[2] Stiftung Akademie der Künste, Arnold-Zweig-Archiv, AZA 2116. Das Dokument ist vollständig abgedruckt in Angelika Timm: Hammer, Zirkel, Davidstern. Das gestörte Verhältnis der DDR zu Zionismus und Staat Israel, Bonn 1997, S. 462-464.
Anetta Kahane & Martine Jander (Hrsg.): Juden in der DDR. Jüdisch sein zwischen Anpassung, Dissidenz, Illusionen und Repression. Porträts, Berlin 2021: Hentrich&Hentrich (224 S., 22,90 €).