Nachricht | Krieg / Frieden - China - Ukraine Die Quadratur des Kreises

Russlands Krieg in der Ukraine und Chinas Reaktion

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Jan Turowski,

Am 2. März 2022 stimmte die Generalversammlung der Vereinten Nationen über eine Verurteilung des russischen Einmarsches in die Ukraine ab. Das Foto zeigt das Abstimmungsergebnis im Plenarsaal. 141 Staaten stimmten für die Resolution, 5 dagegen, 35 Staaten, darunter auch China, enthielten sich. 12 Staaten waren bei der Abstimmung nicht anwesend. picture alliance / newscom | John Angelillo

Angesichts der russischen Invasion der Ukraine versuchen auch in China verschiedene Akteure vielfach vergeblich, einen größeren Sinn hinter dem russischen Vorgehen zu erkennen, Möglichkeiten der Beendigung des Krieges zu finden und die geopolitischen Konsequenzen, die sich aus dieser epochalen Zäsur ergeben, abzuschätzen und zu bewerten. Und auch in China überlagern sich die «Überschriften» und offizielle Statements versuchen, durch immer neuere, erschreckendere Bilder und Nachrichten steigender Opferzahlen und massiver Zerstörung zu manövrieren.

Auch wenn westliche Medien darüber spekulieren, ob China über Moskaus Pläne informiert war, sprechen doch alle Zeichen dafür, dass auch Beijing von den Ereignissen komplett überrascht und auf dem falschen Fuß erwischt wurde. Die allermeisten chinesischen Expert*innen für Internationale Politik konnten sich nicht vorstellen, dass Russland tatsächlich eine umfassende Invasion der Ukraine starten würde, und sie waren nach dem russischen Angriff mindestens so fassungslos wie viele Europäer*innen. Die offiziellen Verlautbarungen des chinesischen Außenministeriums, sonst kommunikationspolitisch höchst diszipliniert und stringent, waren widersprüchlich, defensiv und vor allem wortkarg. Dies und auch Chinas Abstimmungsverhalten im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, in dem China nicht mit Russland stimmte, sondern sich enthielt, lassen darauf schließen, dass Chinas Führung erst verspätet wirklich realisierte, welches Ausmaß dieser Konflikt tatsächlich hat und in welches Dilemma Russlands Krieg die Volksrepublik gebracht hat. Chinas geopolitische Position und entsprechend die Rolle, welche China in diesem Konflikt spielen kann, will oder muss, scheint längst noch nicht gefunden zu sein.

In der gegenwärtigen Debatte der staatlichen wie auch der sozialen Medien, lassen sich, trotz aller Zensurfilter, unterschiedliche Positionen in diesem Suchprozess identifizieren, deren Argumente und Bewertungen sich häufig überlagern, immer wieder von einem «einerseits-anderseits» bestimmt sind und sich offizielle und inoffizielle Stimmen vielfach vermischen.

Einerseits … es ist kompliziert

Ein Hauptstrang dieser Diskussion betont einerseits die Schuld des Westens, vor allem der USA an diesem Konflikt. Die USA hätten verantwortungslos die lange lodernde Ukraine-Krise immer wieder und gezielt angefacht und einen Stellvertreterkrieg zumindest bewusst in Kauf genommen. Zwei Wochen vor der russischen Invasion veröffentlichte die «Global Times» – als englischsprachige Zeitung der Partei-Zeitung «Renmin Ribao» eine quasi-offizielle Stimme Chinas – einen Kommentar, in dem es heißt: «Es ist die Absicht der USA, die Ukraine zu drängen, in ihrer Konfrontation mit Russland «durchzuhalten» und nicht «zurückzufallen». (…) Washington beabsichtigt, Kriege anzuzetteln, um die Legitimität der Existenz der NATO und den inneren Zusammenhalt des Blocks zu erhöhen, um Europa – das einige Anzeichen einer Abkehr von Washington gezeigt hat – enger an die USA zu binden. (…) Eines der Ziele Washingtons ist es, Russland ein unangenehmes Gefühl zu vermitteln, aber die Ukraine wird sehr wahrscheinlich zum Opfer».

Russland habe ein legitimes Recht, sich gegen eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine zu stemmen. Die offizielle und immer wiederholte Formel des chinesischen Außenministeriums lautet: «dass Sicherheit eines Landes nicht auf Kosten der Sicherheit anderer Länder erreicht werden sollte und dass regionale Sicherheit nicht durch die Ausweitung von Militärblöcken erreicht werden könne». Diese Formel ist mit der russischen nahezu deckungsgleich.

Doch auch jenseits der gegenwärtigen Krise in der Ukraine, wurde im chinesischen Sicherheits- und Geopolitik-Establishment schon seit Jahren Verwunderung und Ärger darüber geäußert, wie wenig die USA fähig und vor allem gewillt sind (wie sie es noch über langen Phasen des «Kalten Krieges» waren), sich in die Perspektiven und Krisenwahrnehmungen vermeintlicher Gegner hineinzuversetzen. Bei einer solchen geopolitischen oder strategischen Empathie geht es nicht darum, einer gegnerischen Position zuzustimmen, sondern darum, sie zu verstehen, um Krisen zu entschärfen. Wie auch immer die Ansichten über die NATO-Erweiterung sein mögen, es gab überwältigende Hinweise dafür, dass die russische Führung von Anfang an durch diese Einkreisung alarmiert war und wiederholt ihre Besorgnis zum Ausdruck brachte.

Zu Fragen von Einkreisungs- und Eindämmungspolitiken kann auch Beijing einiges beisteuern. Spätestens seit Barack Obamas «Pivot to Asia» sind die USA bemüht, in Asien neue Bündnisse und Militärallianzen zu schmieden, wie «Quad»1 und «AUKUS»2, die alle nur ein Ziel haben, nämlich China ins Visier zu nehmen. Seit der US-Kongress 2019 erklärte, dass der «langfristige strategische Wettbewerb mit China für die USA oberste Priorität habe» wurden neben den ohnehin schon immensen Militärausgaben, die speziell für den Asien-Pazifik-Raum zugewiesen wurden, noch weitere hunderte Millionen US-Dollar für alle möglichen Formen hybrider Konfrontation-, Embargo- und Isolationspolitiken bereitgestellt. Doch auch wenn die USA China jetzt als ihren Hauptfeind identifizieren, Beijing hat stets betont, dass Washington Chinas Sicherheitsinteressen und «rote Linien» respektieren müsse; man müsse ja nicht «beste Freunde» sein, doch zur gemeinsamen Lösung zentraler Menschheitsherausforderungen braucht es zumindest so etwas wie einen «geopolitischen Waffenstillstand».

Doch dass die USA versuchen, auch Asien in eine höchst gefährliche Krisenzone zu verwandeln, in der gleich mehrere Konfliktlinien und angestachelte Krisen einerseits alte und neue Alliierte die USA binden und anderseits schnell eskalieren können, ist eine in China weit verbreitete Ansicht und nicht nur ein Produkt des Beijinger Propaganda-Apparats. Während in der Ukraine der Krieg gerade eskalierte, sah sich fast schon fassungslos-perplex die chinesische Öffentlichkeit mit - aus ihrer Sicht - neuen Provokationen hochrangiger amerikanischer Delegationsreisen nach Taiwan konfrontiert.

Es ist schon länger Beijings Auffassung, dass die Internationale Ordnung, die sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ausprägte und in der der Westen, von den USA angeführt, ein quasi unbeschränktes geopolitisches Führungs- und Militärmonopol besaß, nicht zuletzt auch wegen des Aufstieg Chinas der letzten Jahre nicht mehr zeitgemäß ist und vor allem keine globale Sicherheitsarchitektur bereitstellt, in der die Sicherheitsinteressen aller Länder gleichberechtigt repräsentiert sind. Dementsprechend müsse die unipolare Welt einer multipolaren Welt weichen. In Chinas idealtypischen Vorstellung einer multipolaren Welt spielte Russland – laut der meisten chinesischen Sicherheitsexpert*innen – eine zentrale Rolle, sowohl als Gegengewicht zu den USA als auch potenziell an der Seite Pekings. Dies umso mehr, da andere wichtige Akteure wie Indien und Japan sich bereits auf die USA hin ausgerichtet haben. Vor diesem Hintergrund haben gemeinsame Interessen, vor allem die Ablehnung der westlichen Ordnung und die eines unipolaren US-amerikanischen Führungsanspruch, in den letzten Jahren zu einer kontinuierlichen Annäherung Chinas und Russland beigetragen und die beiden Staaten haben ihre Zusammenarbeit in vielen Bereichen koordiniert und vertieft.

Doch die Vision einer alternativen multipolaren Weltordnung endet mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine abrupt und die Zusammenarbeit mit Russland wird für China zu einer schweren Belastung.

Andererseits … es ist katastrophal

Die chinesische Debatte ist aber ebenso stark auch von einem «Anderseits» bestimmt.

China setzt seit jeher streng auf sein außenpolitisches Kernprinzip der «Wahrung der Souveränität und Integrität aller Staaten und Nicht-Eimischung in innere Angelegenheiten». Angesichts der Bilder aus der Ukraine, die auch in China alle Medienkanäle bestimmen, kann schon lange nicht mehr von einer «Special Military Operation» gesprochen und der Völkerrechtsbruch geleugnet werden. Bereits bei früheren militärischen Aktionen Russlands – wie in Syrien oder bei der Annexion der Krim, die China bis heute offiziell nicht anerkannt hat – war die diplomatische Distanz deutlich zu spüren. Und selbst beim militärischen Eingreifen Russlands in Kasachstan Anfang dieses Jahrs war Beijings Zustimmung eher verhalten.

Bei allem Verständnis für Russlands legitime Sicherheitsbedenken, die völkerrechtswidrige russische Invasion der Ukraine ist für China nicht zu rechtfertigen. Beijing kann den Krieg nicht billigen.

Hinzu kommt, dass China auch zu der Ukraine seit Jahren gute Beziehungen unterhält. Auch wenn diese von einem stetigen Auf und Ab geprägt waren, entwickelte sich China zu einem der größten Handelspartner der Ukraine, insbesondere in der Landwirtschaft. Ein Drittel der chinesischen Maisimporte der letzten Jahre stammten zum Beispiel aus der Ukraine. China bestellt auch ukrainische Kernreaktorteile und Rüstungsgüter. Zudem ist die Ukraine wichtiges Mitglied und geographisch Brückenland der chinesischen Seidenstraßen-Initiative. Nach der Invasion mussten mehr als 6000 chinesische Staatsbürger evakuiert werden, was in den sozialen Medien überaus kritisch gegenüber Russland, das Chinas Kooperation missbraucht habe, aber auch gegenüber der eigenen Regierung diskutiert wurde. Jenseits des Schreckens des Krieges, kann Beijing kein Interesse an einer dauerhaften Destabilisierung der Ukraine und der gesamten Region haben.

Die für Moskau noch wohlmeinendste Kritik fragt nach dem taktischen Sinn des russischen Angriffs auf die Ukraine, der Russland international vollkommen isoliert habe und keinen Gewinn bringen kann. Viel häufiger hingegen finden sich in der Debatte spürbare Irritationen über Moskaus Tendenz zum unverantwortlichen «Abenteurertum» oder Putins fehlgeleiteter «Politik des starken Mannes».

Doch vor allem wird sich China schmerzlich bewusst, dass die weltpolitische Zäsur des Ukraine-Krieges die Gefahr einer neuen bipolaren Weltordnung schafft, in der sich China in einer Zwangsallianz mit Russland wiederfindet, in der China zwar dann der stärkere Partner ist, aber ansonsten zum Gegner (fast) aller anderen Staaten wird.

Dies ist genau das Szenario, das China immer vermeiden wollte. In den letzten Jahren hat Beijing immer wieder artikuliert, dass es Partnerschaften der USA auch mit seinen Nachbarländern sogar begrüßen würde, solange diese nicht explizit in Gegnerschaft zu China begründet werden. Denn eine solche Blockkonstellation, in der sich Länder für einen Block entscheiden müssen, bedeutet nicht mehr, sondern weniger Sicherheit, und würde insgesamt die wirtschaftliche Entwicklung Asiens hemmen.

Dem sicherheitspolitischen Zirkeln in Beijing scheint zudem zu dämmern, dass das langsam gewachsene Bündnis zwischen China und Russland aus US-amerikanischer Sicht keine nicht-intendierte und inkompetente Fehlkalkulation der eigenen Konfrontationspolitik gewesen sein könnte, sondern im Gegenteil ein beabsichtigtes Ergebnis globaler Strategie der USA. Denn Westeuropa, in welcher politischen Form auch immer, wird nun mehr denn je als transatlantischer Flügel der Vereinigten Staaten in einem neuen kalten oder vielleicht heißen Krieg zwischen den beiden globalen Machtblöcken fungieren. Die Hoffnung der Chinesen, dass die EU nach strategischer Autonomie streben und den Einfluss USA einzudämmen könnte, hat der russisch-ukrainische Krieg nun endgültig begraben. Diese Entwicklung ist für China eine diplomatische Katastrophe. Wie kann sich Beijing von Russland distanzieren, ohne sich der geopolitischen Hegemonie der USA unterzuordnen? Wie kann Beijing seine Beziehungen zu Moskau aufrechterhalten, die China ja immer noch unterhalten muss (Freunde kann man wechseln, Nachbarn nicht), ohne seine Beziehungen zur EU zu beschädigen?

Je länger und tödlicher der Krieg in der Ukraine wird, je konfrontativer die geopolitische Situation wird, desto größer wird das Kopfzerbrechen in Beijing.


1 «Quadrilateral Security Dialogue» (Quad) ist ein strategischer Sicherheitsdialog zwischen den Vereinigten Staaten, Indien, Japan und Australien.

2 AUKUS ist ein trilateraler Sicherheitspakt zwischen Australien, dem Vereinigten Königreich und den Vereinigten Staaten, der am 15. September 2021 für die indo-pazifische Region angekündigt wurde. Im Rahmen des Pakts werden die USA und das Vereinigte Königreich Australien beim Erwerb von Atom-U-Booten helfen.