Die russischen Revolutionen von 1917 warfen eine praktische Frage auf: Konnte eine sozialistische Transformation der osteuropäischen Gesellschaften das «jüdische Problem» dort lösen? Die Juden des Russischen Reiches begrüßten den Sturz des Zarenregimes im März 1917, da dies, so hofften sie, ihr Leiden beenden und eine neue Ära der Menschheitsbefreiung einleiten würde. Die neue Regierung hob sechshundertfünfzig die Juden diskriminierende Gesetze auf. Doch obwohl der Antisemitismus nun offiziell geächtet war, wurde der Verwaltungsapparat von Antisemiten nicht gesäubert und die orthodoxe Kirche als eine Hauptstütze des Antisemitismus nicht entmachtet. Von der Kirche finanzierte Zeitungen setzten vielmehr ihre Judenhetze ungehindert fort. In der Folgezeit nahm der Antisemitismus «auf den Straßen der russischen Hauptstadt und darüber hinaus im ehemaligen jüdischen Ansiedlungsgebiet deutlich zu» (S. 23).
Es gibt bereits eine Reihe von Arbeiten zum Antisemitismus im Jahr 1917 sowie während des russischen Bürgerkrieges, die sich hauptsächlich mit den antisemitischen Gräueltaten der Konterrevolution befassen. Über den Antisemitismus innerhalb der Roten Armee ist dagegen wenig bekannt. Nach den Untersuchungen von Ulrich Herbeck und Oleg Budnitsky ist das vorliegende Buch, dessen Autor Brendan McGeever, Dozent für Soziologie am Birkbeck College der Universität London, ist, die bisher ausführlichste Studie zum Thema.
Nur eine Minderheit von Juden unterstützte die Bolschewiki im November 1917. Führende Bolschewiki jüdischer Herkunft wie Trotzki, Sinowjew, Kamenjew, Swerdlow, Radek, Litwinow oder Joffe waren in der russischen und internationalen sozialistischen Bewegung, nicht aber in der osteuropäischen jüdischen Arbeiterbewegung, politisch tätig gewesen. So unterstützten die meisten linksgerichteten Juden in Russland den Jüdischen Arbeiterbund, die Menschewiki oder die verschiedenen zionistisch-sozialistischen Parteien, von denen die Poale Zion (Arbeiter Zions) die bedeutendste war.
Nachdem die Bolschewiki die Macht ergriffen hatten, versuchten sie trotz ihres Mangels an praktischer Erfahrung, die nationale einschließlich der jüdischen Frage rasch zu lösen. Das «Dekret über die Rechte der Völker Russlands», das der Rat der Volkskommissare am 15. November 1917 (neuen Stils) verabschiedete, erklärte die Gleichheit und Souveränität der Völker, ihr Recht auf Selbstbestimmung bis hin zur Bildung unabhängiger Staaten, die Abschaffung aller nationalen und national-religiösen Privilegien und Einschränkungen sowie die ungehinderte Entwicklung aller nationalen Minderheiten und Volksgruppen zu obersten Prinzipien. Diese Grundprinzipien sollten durch die Einrichtung nationaler Abteilungen im Volkskommissariat für Nationalitäten und durch die Bildung von Selbstverwaltungsorganen für die verschiedenen ethnischen Gruppen in die Praxis umgesetzt werden.
Im Januar 1918 wurde somit ein Kommissariat für jüdische Angelegenheiten eingerichtet, an dessen Spitze Semen M. Dimanstein stand. Es bildete eine Abteilung innerhalb des Volkskommissariats für Nationalitätenfragen, das von Stalin geleitet wurde. Trotz des Mangels an jiddischsprachigem Personal konnte das Jüdische Kommissariat (russische Abkürzung: Jewkom) bereits am 7. März 1918 in Leningrad und später in Moskau die erste Ausgabe der Tageszeitung «Der Emes» (Die Wahrheit) herausgeben. Neben dem Jewkom wurden im Rahmen der Kommunistischen Partei auch Jüdische Sektionen (im russischen Singular und abgekürzt: Jewsekzija) gebildet. Auf der ersten gemeinsamen Konferenz der beiden Organisationen, die am 20. Oktober 1918 in Moskau stattfand, betonte Dimanstein, die Jewsekzija habe eine doppelte Aufgabe: Sie solle den Marxismus unter den jüdischen Arbeitern verbreiten helfen und gleichzeitig zur Konsolidierung der bolschewistischen Macht in den jüdischen Gemeinden beitragen. Auf der Konferenz wurde die Bildung einer speziellen Abteilung für den Kampf gegen Antisemitismus und Pogrome angekündigt. Eine Resolution stellte als «traurige und unglückliche Tatsache» fest, in sowjetischen Institutionen und sogar unter Regierungsbeamten sei ein manifester Antisemitismus zu finden (S. 83).
Am 9. August 1918 erklärte die sowjetrussische Regierung, der Rat der Volkskommissare: «In der RSFSR, wo das Prinzip der Selbstbestimmung der arbeitenden Massen aller Völker verwirklicht wurde, gibt es keinen Platz für nationale Unterdrückung. Der jüdische Bourgeois ist unser Feind, nicht als Jude, sondern als Bourgeois. Hetze zum Hass gegen irgendeine Nation ist nicht tolerierbar, sondern beschämend und verbrecherisch. Der Rat der Volkskommissare erklärt, dass die antisemitische Bewegung und antijüdischen Pogrome die Sache der Arbeiter- und Bauernrevolution diskreditieren, und appelliert an das arbeitende Volk des sozialistischen Russlands, dieses Übel mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu bekämpfen. Die nationale Feindschaft schwächt die Reihen unserer Revolutionäre, stört die Einheitsfront der Werktätigen ohne Unterschied der Nationalität und hilft nur unseren Feinden. Der Rat der Volkskommissare weist alle Sowjets der Arbeiter-, Bauern- und Soldatendeportierten an, Schritte zu unternehmen, die die antisemitische Bewegung an den Wurzeln effektiv zerstören. Es wird hiermit befohlen, dass Pogromisten und Personen, die zu Pogromen aufhetzen, außerhalb des Gesetzes zu stellen sind.»[1] McGeever sieht diese Erklärung als den «Markstein» im Kampf der Bolschewiki gegen den Antisemitismus (S. 78).
Während des Bürgerkrieges rang sich eine beträchtliche Anzahl russischer und ukrainischer Juden allmählich von der Ablehnung der Oktoberrevolution zur Loyalität und sogar zur substanziellen Unterstützung des bolschewistischen Regimes durch. Der Grund dafür war, dass die Weißen Armeen und die ukrainischen Nationalisten in ihrem Kampf gegen das Sowjetregime zu äußerst gewalttätigem Antisemitismus griffen. Nach zeitgenössischen Schätzungen wurde die Ukraine zum Schlachtfeld von etwa 2.000 Pogromen. Der unmittelbare Verlust an jüdischen Menschenleben war enorm und betrug mehr als 50.000. Rechnet man diejenigen hinzu, die später an ihren Verletzungen starben, dürfte die Zahl der Opfer 150.000 überschritten haben, was zehn Prozent der gesamten jüdischen Bevölkerung der Ukraine entspricht. Es war das größte antisemitische Massaker vor Auschwitz.
Antibolschewisten und Antisemiten schmiedeten ein derart brutales Bündnis, dass selbst viele Juden im Russischen Reich, die die Oktoberrevolution entschieden abgelehnt hatten, sich schließlich den Bolschewiki auf ihrer Suche nach einem Schutz vor den weißen Pogromen anschlossen. Sie sahen in der Roten Armee ihre einzige Chance auf Rettung, obwohl deren Soldaten auch für etwa acht Prozent der Pogrome verantwortlich waren.
Die von der Roten Armee initiierten Pogrome diskreditierten jedoch das revolutionäre Projekt in seinem innersten Wesen. Schon vor der Oktoberrevolution hatten einige Bolschewiki ihre menschewistischen Gegner – trotz der eindeutigen Solidarität der Parteiführung mit den Juden – als «Shidy» («Judenlümmel») geschmäht. Nunmehr traten Befürchtungen auf, Angehörige der paramilitärischen Bewegung der Schwarzen Hundert könnten sich «den Reihen der Bolschewiki zugesellen» (S. 32). Schriftsteller wie Ilja Ehrenburg äußerten Ängste, dass revolutionäre Politik und Antisemitismus ein Bündnis eingehen könnten (S. 31).
Die Ursachen des Antisemitismus in der Roten Armee waren sowohl sozialer als auch politischer Natur. Ähnlich wie Clara Weiss verweist McGeever auf die bäuerliche Herkunft der meisten Rotarmisten. Bauern waren traditionell Träger des Antisemitismus. Während des Bürgerkrieges wechselten viele Einheiten der Roten Armee mehrmals die Front. Sie kämpften zuerst auf Seiten der Roten, dann auf Seiten der Weißen oder umgekehrt. Um militärische Erfolge zu erzielen, waren die Bolschewiki sogar gezwungen, ehemalige zaristische Armeeoffiziere zu rekrutieren, deren Antisemitismus notorisch war.[2]
Einige der brutalsten Pogrome der Roten Armee wurden im Sommer 1920 im sowjetisch-polnischen Krieg von der Ersten Kavalleriearmee unter Semjon Budjonny angestiftet (S. 109). Beachtenswert ist dabei, dass viele Mitglieder dieser Armee Kuban-Kosaken waren, unter denen der Antisemitismus besonders virulent war. Jewsekzia-Funktionäre gehörten zu den ersten, die die bolschewistische Führung alarmierten und sie aufforderten, dagegen harte Maßnahmen zu ergreifen. Die Jewsekzia organisierte Kundgebungen, auf denen der Antisemitismus in der Roten Armee, besonders unter den Budjonny-Soldaten, sowie das scheinbare Zögern der Parteipresse, diese Dinge aufzudecken, angeprangert wurden. Doch hatte Budjonny die Unterstützung Stalins und seines Helfers Woroschilow bei der Vertuschung der von den Truppen begangenen Verbrechen (S. 179).
Leo Trotzki, der Leiter des Revolutionären Militärkomitees, rief dazu auf, Juden für die Rote Armee zu mobilisieren. Er und andere bolschewistische Führer erklärten, der effektivste Weg zur Verringerung des bolschewistischen Antisemitismus sei der, Juden an der Seite von Nichtjuden kämpfen zu lassen. «Wir müssen den jüdischen kommunistischen Organisationen sofort befehlen, die maximale Anzahl jüdischer Arbeiter zu mobilisieren», schrieb er im Juni 1920 (S. 188).
Nach den verheerenden Pogromen, die von der Kavallerie der Roten Armee während ihres Rückzuges aus Polen Ende September und Anfang Oktober 1920 verübt wurden, setzte die Militärführung sofort eine Untersuchungskommission ein, die sich zunächst als unwirksam erwies. Doch am 9. Oktober löste das Revolutionäre Militärkomitee schließlich alle an den Pogromen beteiligten Einheiten auf. Schätzungsweise vierhundert der an diesen Pogromen beteiligten Personen wurden hingerichtet. Darüber hinaus schickte die Führung hochrangige Bolschewiki an die Front, um entsprechende Propagandaveranstaltungen zu organisieren und zu überwachen.
Trotz aller Gewalt, die von den Soldaten der Roten Armee verübt wurde, kämpften die Bolschewiki für die Errichtung und das Überleben einer Gesellschaft, die den Juden gleiche Rechte garantieren würde. Die Weißen Armeen kämpften für die Rückkehr einer Ordnung, die die Juden diskriminiert und verfolgt hatte. Deshalb engagierten sich nach dem Bürgerkrieg viele Juden beim Aufbau der neuen Sowjetgesellschaft. Deren endgültiger Abstieg in den stalinistischen Terror war zu dieser Zeit nicht abzusehen. Die Kenntnis des späteren Verlaufes der Geschichte darf uns nicht dazu verleiten, alles und jedes in der Russischen Revolution in einem absolut negativen Licht zu sehen, denn ein Sieg der Konterrevolution hätte für die Juden eine weitaus größere Tragödie bedeutet. In seiner vergleichenden Studie über den Antisemitismus in der Roten und der Weißen Armee warnt uns der Autor davor, dies je zu vergessen.
[1] Dekrety sovetskoj vlasti [Dekrete der Sowjetmacht], Bd. 3, Moskau 1963, S. 93.
[2] Vgl. Clara Weiss, Antisemitismus und Russische Revolution, Teil 3. World Socialist Website, 15. März 2014, https://www.wsws.org/de/articles/2014/03/15/ase3-m15.html.
Brendan McGeever: Antisemitism and the Russian Revolution, Cambridge/New York 2019: Cambridge University Press (247 S., £ 75,00).
Die Besprechung erschienen in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 62 (2020), Nr. 1, S. 159-162.