Die im November 1918 entstandene Republik Polen zählte unter ihren rund 27 Millionen Einwohnern etwa 2,7 Millionen Juden; ein Zehntel der Bevölkerung. Damit hatte Polen vor der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten weltweit die größte Zahl an jüdischen Einwohnern. Politisch neigten viele von ihnen bürgerlichen, auch bürgerlich-zionistischen Parteien zu. Unter den sozialistischen Parteien wurde der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund in Polen (Ogólny Żydowski Związek Robotniczy «Bund» w Polsce) jedoch zur wichtigsten politischen Kraft. Seine am Ende tragische Geschichte hat Gertrud Pickhan vorbildlich nachgezeichnet.
Der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund von Russland, Polen und Litauen (die Reihenfolge der Namensgebung wechselte) wurde 1897 in Wilna als marxistische Arbeiterpartei des jüdischen Proletariats gegründet. Er sah sich als dessen authentische Interessenvertretung, lehnte Lenins zentralistische Konzeption einer einheitlichen Partei ab und arbeitete mit den Menschewiki zusammen. Nach der Oktoberrevolution spaltete er sich; ein Teil konstituierte sich in Litauen, Belarus und der Ukraine als Kommunistischer Bund und schloss sich im und kurz nach dem Bürgerkrieg der bolschewistischen Partei an. Ein anderer Teil bestand als selbständige Partei ab 1918 im unabhängigen Polen fort.
Bereits im November 1914, als sich die Gefahr einer deutschen Invasion abzeichnete, wurde in Warschau vom Zentralkomitee des Bundes mit Jan Kuszel (Yekutiel, auch genannt Noah) Portnoy (auch: Portney) als treibender Kraft ein Komitee der bundistischen Organisationen in Polen gegründet. Die erzwungene Loslösung von der gesamtrussischen Bewegung veranlasste die in Kongress-Polen lebenden Bundisten, sich als selbständige Organisation unter dem Namen Allgemeiner Jüdischer Arbeiterbund in Polen zu konstituieren. Das im Vergleich zu Russland gemäßigte Regime der deutschen Besatzungsbehörden ermöglichte es dem Bund in Polen, obwohl er immer noch im Verborgenen arbeitete, seinen Forderungen nach national-kultureller Autonomie Nachdruck zu verleihen und jüdische Gewerkschaften, Arbeiterküchen, Genossenschaftsläden sowie ein Netz von Kultureinrichtungen zu gründen. Der Bund begann mit der Herausgabe eines Wochenorgans (ab Ende 1918 einer Tageszeitung), Lebens-Fragen, und nahm auch an den Wahlen zu den Gemeinderäten teil. Auf der ersten Geheimkonferenz des Polnischen Bundes in Lublin wurde Ende Dezember 1917 ein Zentralausschuss für Polen gewählt. Dieser konstituierte den Polnischen Bund als eigenständige politische Partei. Im Jahr 1918 zählte er 19.000 Mitglieder. Seine prominentesten Politiker waren Henryk (eigentlich Hersz Wolf) Erlich und Wiktor Alter sowie der Vorsitzende des Zentralkomitees Portnoy, Wladimir Kossowsky, beide noch der Gründergeneration des Bundes entstammend, und der Generalsekretär Emanuel Nowogrodzki.
Kurz vor der Wiedererlangung der Unabhängigkeit Polens im November 1918 organisierte der Bund einen weiteren illegalen Parteitag auf polnischem Gebiet. Im April 1920 fand in Kraków der erste legale Kongress des Polnischen Bundes statt, auf dem sich die Galizische Jüdische Sozialdemokratische Partei mit 4062 Mitgliedern dem Bund anschloss. Auf der Konferenz entbrannte ein Streit darüber, ob die Partei der Kommunistischen Internationale beitreten sollte. Eine Resolution, die den Beitritt der Partei zur Komintern forderte, fand zwar eine Mehrheit, doch wurde der Beitritt nie vollzogen. Dennoch führte allein die Debatte darüber zu einer Reihe staatlicher Repressivmaßnahmen, die die organisatorische Substanz der Organisation bedrohten. Zudem suchte die KP (unter Mithilfe des aus Sowjetrussland entsandten Moissej Rafes) den Bund zu spalten, da ihre Funktionäre fürchteten, bei einer möglichen Vereinigung von dessen zahlenmäßiger Überlegenheit an den Rand gedrängt zu werden. Diese Taktik erwies sich als erfolgreich: Ende 1921 verließ ein Viertel der Mitgliedschaft den Bund und gründete im Januar 1922 den Kommunistischen Bund (Grupa kombundowska oder Kombund), der im Juni in der Kommunistischen Partei aufging. Der Sog zum Kommunismus ergriff auch Teile der Poale Zion: Im November 1921 trat eine Gruppe um Saul Amsterdam, der sich dann Gustaw Henrykowski nannte, der Kommunistischen Partei Polens bei. Hier ist beachtenswert, dass unter den Juden die Aversion gegenüber allem «Russischen» bei weitem nicht so ausgeprägt war wie unter Polen und auch Litauern.
Der Polnische Bund stand der KP wegen der Unterdrückung der Bundisten in Sowjetrussland zwar reserviert gegenüber, hoffte aber auf innersowjetische Reformen. So gab es in Wilna eine linke Mehrheitsgruppe und eine rechte Minderheitsgruppe im Bund, doch zögerten beide Gruppen zunächst, sich dem Bund in Polen anzuschließen, auch nachdem klar geworden war, dass Wilna ein Teil des polnischen Staates werden würde. Der Grund war ein starkes Misstrauen wegen der angeblich zu nachgiebigen Haltung des Polnischen Bundes gegenüber Moskau. Die Wilnaer behaupteten sogar, der Bund in Polen sei keine sozialdemokratische Organisation mehr. Erst 1923 schlossen sich die beiden Wilnaer Organisationen zusammen und bildeten eine einheitliche lokale Parteiorganisation des Polnischen Bundes.
1921 schlossen sich die dem Bund nahestehenden Gewerkschaften der Zentralkommission der Klassengewerkschaften (Komisja Centralna Zwiazków Zawodowych; KCZZ) an, in dem sie vollständige kulturelle Autonomie erhielten. Als ihre wichtigsten Aufgaben sahen sie, neben dem allgemeinen Arbeitskampf, den Kampf gegen den Ausschluss von Juden aus dem öffentlichen Dienst und Gewerbe sowie auch das Angebot von praktischen Weiterbildungs- und Umschulungsmöglichkeiten. Dabei mussten die Bundisten sich auch mit dem Antisemitismus unter Arbeitern und Gewerkschaftern auseinandersetzen. Wegen strittiger Fragen über das Ausmaß ihrer Autonomie traten die bundistischen Gewerkschaften hingegen nicht der Union der Berufsverbände (Związek Stowarzyszeń Zawodowych; ZSZ) bei, dem Verband der Gewerkschaften der PPS. Die Bundisten betonten, sie seien keine Fremden in Polen, sondern Teil einer multinationalen Gemeinschaft und ihrer Arbeiterklasse. «Daß man sich gleichzeitig verbunden fühlen und dabei bewußt ‚anders’ sein konnte, daß eine doppelte Loyalität gegenüber der eigenen Gruppe und gegenüber dem Land, das man ebenfalls als seine Heimat ansah, ist vielleicht das herausragendste Merkmal all derer, die sich im ‚Bund’ wiederfanden», schreibt Gertrud Pickhan. (S. 270)
Neben einer allgemeinen linkssozialistischen Programmatik waren die beiden wichtigsten spezifischen Forderungen des Bundes die Anerkennung der jüdischen Bevölkerung Polens als nationale Minderheit und die Anerkennung des Gebrauchs des Jiddischen in Schule, Staatswesen und öffentlichem Leben. Die jiddische Sprache galt als zentraler Bestandteil der jüdischen Volkskultur, gefördert durch die (1918 in Kiew gegründete) Kulturliga, die 1925 in Warschau die erste jüdische «Volksuniversität» (eine Abendschule) eröffnete. Hinzu kam ein Netzwerk jüdischer Privatschulen, die «Tsentrale Yidishe Shulorganisatsye» (Tsysho), deren Schulen von rund zehn Prozent der jüdischen Kinder besucht wurden. Sie schuf bis 1927 rund zweihundert Bildungseinrichtungen, in denen gut 20.000 Kinder lernten. Die Forderung nach staatlichen Schulen mit Jiddisch als Unterrichtssprache konnte der Bund nicht durchsetzen. Hervorhebenswert ist die Frauenorganisation Yidishe Arbeter Froy. Sie zählte 1929 erst 6161 Mitglieder, zehn Jahre später über eintausend (vgl. S. 131).
Das bewusst als Gegensatz zum Zionismus offensiv vertretene Konzept des Hierseins, der doykeit, beschrieb sowohl das Klassenbewusstsein als auch, in noch stärkerem Maße, ein soziokulturelles Milieu, das auf Sprache, Tradition (auch religiöser Natur) und Volkskultur, zusammengefasst im Begriff der yiddishkeyt, abzielte. Hierher gehörte auch der Morgnshtern als Verband der Sportorganisationen des Bundes.
Da es im Polen der Zwischenkriegszeit kein starkes jüdisches Industrieproletariat gab und die Übergänge zwischen Handwerker-, Arbeiter- und Heimarbeiterexistenzen fließend waren, sah der Bund ein kulturelles Zusammengehörigkeitsgefühl als wichtige Voraussetzung eines Klassenbewusstseins. Potenzielle Parteimitglieder wurden in diesem Sinn aufgefordert, «sich unserer meshpokhe anzuschließen» (S. 142).
Bereits 1921 hatte der Polnische Bund die Zweite Internationale verlassen. Im Juni 1930 beschloss der Parteitag in Lodz, nachdem sich eine Minderheit, die «Tsveyer» längere Zeit dagegen gewehrt hatte (im Gegensatz zu den «Eintsern”, der Mehrheit, die den Beitritt zur SAI anstrebte), mit einer Mehrheit von 60 gegen 43 Stimmen den Beitritt zur Sozialistischen Arbeiter-Internationale. In seiner Resolution zum Beitritt grenzte sich der Bund vom Reformismus innerhalb der SAI, aber auch von der Komintern sowie der Sowjetunion und dem dort existierenden Gesellschaftssystem ab. Die Bundisten wollten mit ihrem Beitritt für die Umwandlung der SAI in ein Instrument der internationalen sozialen Revolution kämpfen. Eine Minderheit, die Gruppe «Gegenstrom», stimmte gegen den Beitritt und bestand noch bis 1935 als organisierte innerparteiliche Opposition fort. Eine weitere Gruppe trennte sich 1931 in Ostgalizien vom Bund und gründete die Allgemeine Jüdische Arbeiterpartei (Ogólno Żydowska Partia Pracy). Sie arbeitete mit der KP zusammen, doch ohne ihr beizutreten.
Erst am 14. Februar 1935 verabschiedete der Bund die «ideologische Resolution», das Programm der Partei. Darin bezeichnete sich der Bund als sozialistische Partei der jüdischen Arbeiterklasse und als organischer Teil der sozialistischen Bewegung in Polen und weltweit. Der Bund kritisierte die Sowjetunion und die Politik der Kommunisten und rief gleichzeitig zur Zusammenarbeit mit ihnen auf. Das Programm betonte, die endgültige nationale und soziale Befreiung der jüdischen Massen würde erst mit dem Zusammenbruch des Kapitalismus kommen. Eine Forderung war die Nationalisierung der größeren Industrie- und Handelsunternehmen sowie des Großgrundbesitzes. Der Zionismus wurde als Utopie angesehen. Der Bund forderte die Aufhebung aller Beschränkungen für das jüdische Volk und verlangte seine volle Gleichberechtigung sowie die freie Entfaltung der jüdischen Kultur.
Im Gegensatz zu den anderen jüdischen Parteien trat der Bund für eine Wahlkooperation mit den deutschen und ukrainischen sozialistischen Minderheitenparteien (im Wahlbündnis «Block der nationalen Minderheiten») ein. In den Sejmwahlen blieb er jedoch immer unter einem Prozent aller abgegebenen Stimmen, zumal er von Nichtjuden, soweit ersichtlich, überhaupt nicht gewählt wurde. Bei Kommunalwahlen traten Kandidaten des antizionistischen Bundes und der Linken Poale Zion, bei den Parlamentswahlen 1930 auch mit der «rechten» Poale Zion auf gemeinsamen Listen an. Doch kam es nicht zu einer angestrebten formellen Kooperation in Form gemeinsamer Wahllisten mit der Polnischen Sozialistischen Partei (PPS), da diese nicht als pro-jüdische Partei erscheinen wollte. So erlangte der Bund, im Gegensatz zur orthodoxen Agudat Israel, der «territorialistischen» Folkspartei und den zionistischen Parteien nie einen Sitz im Sejm. Seit 1931 wirkten jedoch gemeinsame Maidemonstrationen mit der PPS – und teilweise auch mit der Linken Poale Zion – dem Bild einer Abgrenzung der jüdischen Bevölkerung im linken Lager entgegen.
Seit dem Eintritt des Bundes in die SAI und insbesondere seit den gemeinsamen Aktionen gegen den Antisemitismus betrachteten beide Parteien einander als Verbündete. Schließlich akzeptierte 1937 die PPS den Standpunkt des Bundes zur national-kulturellen Autonomie. Beide Parteien teilten die Hoffnung, eine sozialistische Revolution in Polen würde dem Antisemitismus den Boden entziehen.
Die von Anfang an starken Gegensätze des Bundes zur Kommunistischen Partei Polens verschärften sich mit Stalins Aufstieg in der Sowjetunion und der Stalinisierung der Komintern. Im Zeichen der «Sozialfaschismus»-Politik der Komintern scheuten sich KP-Mitglieder nicht einmal, Bundisten zu überfallen und ihre Einrichtungen anzugreifen.
Der Aufstieg des Nazismus in Deutschland analysierten die Bundisten ähnlich klarsichtig wie die deutschen kommunistischen und sozialistischen Kleingruppen, zu denen es auch eine Reihe von Kontakten gab. Dennoch beschwor Ende 1938 Henryk Erlich angesichts der Hochflut des Antisemitismus in optimistischer Weise den «Geist der herrlichen Kämpfe», die die jüdische Arbeiterklasse unter der Fahne des Bundes seit Jahrzehnten geführt hatte und fuhr fort: «Es ist kein Grund zu verzweifeln. Es gab schon Zeiten, als uns das Dach über dem Kopf gebrannt hat und man meinen konnte, dass die Wände über uns zusammenbrechen. Die Zeiten sind vorbei, und wie erinnern uns an sie wie an einen bösen Traum. Lasst uns alles dafür tun, dass bald eine Zeit anbricht, in der wir über das, was in diesen Tagen passiert, wie über einen bösen Alptraum reden können.» (S. 317)
Der Alptraum aber war nicht vorbei und endete für alle Beteiligten mit dem Höllensturz. Die KP Polens wurde noch 1938 auf Anweisung Stalins aufgelöst, ihre Führer wurden, soweit sie sich in der Sowjetunion befanden, Opfer des Großen Terrors. Auch Wiktor Alter und Henryk Erlich wurden in der Sowjetunion umgebracht; möglicherweise beging Erlich Selbstmord. Die meisten Mitglieder des Bundes, so ihnen nicht die Flucht gelang, starben im Holocaust oder im Widerstand gegen Hitler. Gemeinsam mit Zionisten und mit Juden unterschiedlichster politischer Überzeugung wurden viele von ihnen im Mai 1943 bei der Niederschlagung des Warschauer Ghettoaufstandes hingemordet. Umso wichtiger ist es, ihre Namen und die Erinnerung an ihre Leistungen dauerhaft aufzubewahren.
Gertrud Pickhan, «Gegen den Strom». Der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund «Bund» in Polen 1918-1939. Schriften des Simon-Dubnow-Instituts Leipzig, Bd. 1, Stuttgart/München: Deutsche Verlags-Anstalt, 2000, 445 Seiten.