Angesichts eines fast weltweit wachsenden Fremdenhasses, der Suche nach Sündenböcken für kaum beherrschbare Probleme und verschiedener Formen des Antisemitismus ist ein solches Buch nicht nur von historischem Interesse. Sein Verfasser ist Professor für moderne europäische Geschichte an der amerikanischen Rutgers University. Die sehr lesenswerte Darstellung spannt den Bogen von der ersten Russischen Revolution 1905 bis zur Gegenwart.
In der ersten Russischen Revolution verbreiteten die präfaschistische Union des Russischen Volkes und ihr paramilitärischer Arm, die Schwarzhunderter, den Hass auf die Juden als «Anstifter» sozialer Unruhen. Dabei stützten sie sich auf ältere, von der orthodoxen Kirche propagierten judenfeindliche Vorurteile, die alsbald mit den aufkommenden neuen Rassen-«Theorien» vermischt wurden. Für das Zaren-Regime, seine Bürokratie und den Klerus war eine solche Verschwörungstheorie bequemer zu handhaben als das pseudosozialistische Konstrukt der Juden als Verursacher wie Nutznießer des Kapitalismus; ein Konstrukt, das trotz seiner Absurdität ein Element von Antikapitalismus beinhaltete.
«Die Idee des jüdischen Bolschewismus beruhte auf drei ehrwürdigen Säulen antijüdischen Denkens. Erstens beruhte das Konzept auf einer langen Geschichte, in der Juden und Judentum mit Ketzerei, Misswirtschaft und sozialen Unruhen in Verbindung gebracht wurden.» Gegen die unsichtbare Macht der Juden «schien es dringend nötig, die christliche Zivilisation verteidigen zu müssen.» Zweitens stützte sich eine solche Idee «auf den fest verankerten Glauben an eine internationale Verschwörung.» (S. 28f.) Sie wurde befeuert von den «Protokollen der Weisen von Zion», einem Produkt des zaristischen Geheimdienstes. «Drittens schließlich knüpfte die Figur des jüdischen Bolschewiken in säkularisierter Form an weit ältere Ängste vor jüdischem Fanatismus an», so Hanebrink weiter. «Im spät-imperialen Russland mündete der Glaube, Juden seien religiöse Fanatiker, die christliche Kinder zu rituellen Zwecken ermordeten, in gewalttätige Pogrome.» (S. 30) Hanebrink schlägt den Bogen zum Jahr 1917 und zeigt, wie sich im Hass auf Leo Trotzki alle antisemitischen Ressentiments bündelten und gegenseitig aufluden. Räumlich voneinander so weit entfernte Exponenten des Antisemitismus wie Henry Ford und Alfred Rosenberg machten die Kommunistische Internationale und ihren von Juden «durchsetzten» Apparat für alle Aufstände, sozialen Unruhen und Revolutionen der Zeit verantwortlich, wie der Autor am Beispiel der Räterepubliken von Bayern und Ungarn zeigt. Hier trafen diese Antisemiten sich mit hohen katholischen Würdenträgern, mit denen sie sonst wenig gemein hatten. Dabei sollte die Mobilisierung von Katholiken gegen den «jüdischen Bolschewismus» auch die Kirchenmitglieder, die im Ersten Weltkrieg aufeinander geschossen hatten, unter einer gemeinsamen Losung wieder einen. Das Buch benennt auch die Verbindung der geschlagenen russischen Konterrevolution im Exil mit dem entstehenden Faschismus mittel- und westeuropäischer Prägung. Hier wäre ein Verweis auf Max Erwin von Scheubner-Richter nützlich gewesen, einen wichtigen, wenngleich publizistisch kaum sichtbaren Verbindungsmann zwischen russischer und deutscher Konterrevolution.
Hanebrink konzentriert sich auf Polen, Rumänien und Ungarn; mit letzterem Land ist er am Besten vertraut. Er listet die oft bewusst übersehenen Pogrome von Seiten der polnischen Armee im Krieg gegen Sowjetrussland 1920/21 ebenso auf wie die Verbindung von Antikommunismus und Antisemitismus im ab 1919 vergrößerten Rumänien, dem durch Bessarabien und die Bukowina Gebiete mit einem starken jüdischen Bevölkerungsanteil zugeschlagen wurden. Rumänien war nach dem Ersten Weltkrieg das letzte europäische Land, das den Juden – auf Druck der Entente – die formelle Gleichberechtigung gewähren musste. Obwohl in allen drei Ländern nur eine Minderheit der Juden sich in den kommunistischen Parteien engagierte, stellten sie doch innerhalb dieser Parteien einen beachtlichen Anteil an Mitgliedern und vor allem an publizistisch Tätigen, die auch für die Komintern arbeiteten. Eine Ursache dafür waren die oft sehr guten Sprachkenntnisse jüdischer Kommunisten, eine andere die Tatsache, dass Juden außerhalb der Arbeiterbewegung dieser Länder politisch gar nicht tätig werden konnten: die bürgerlichen, noch mehr die bäuerlich-christlichen Parteien akzeptierten einfach keine Juden, selbst dann nicht, wenn diese zum Christentum übertraten. Hanebrink sieht darin eine wichtige Ursache für die Zutreiberdienste, die erhebliche Teile der Bevölkerung den deutschen und einheimischen Faschisten im Holocaust leisteten.
Doch hatte auch der 1944/45 siegreiche Stalinismus ein Interesse an der Reaktivierung eines speziellen antijüdischen Feindbildes: Mit Bedacht platzierte Stalin an die Spitze der in Ost- und Ostmitteleuropa tätigen Geheimdienste oder auch der Parteikontroll-Organe oftmals Juden, auf die gegebenenfalls der Hass der von den neuen Regimes unterdrückten Bevölkerungen abzulenken war. Auch deshalb, nicht nur wegen Stalins – keinesfalls abzuleugnenden – Antisemitismus nahmen die Schauprozesse zu Beginn der 1950er Jahre im Sowjetblock oft einen antisemitischen Charakter an. Doch auch in der antikommunistischen Opposition blieb das Zerrbild des «jüdischen Bolschewiken» lebendig.
All dies kam, wie der Autor im Schlusskapitel «Between History and Memory» zeigt, ab 1989 an die Oberfläche. Die überfällige Aufbereitung der von den pseudokommunistischen Diktaturen verübten Verbrechen, darunter auch gegen Juden, wurde von der neuen radikalen Rechten in eine Hetze gegen Kommunisten und bald allgemein gegen Linke als land- und volksfremde Elemente, sprich: gegen Juden und deren Helfershelfer, umgeleitet. Ein zweckbestimmter Antikapitalismus mit George Soros als Sinn- und Feindbild trat immer dann hinzu, wenn der Unmut der Bevölkerung über die dunklen Seiten des neuen Kapitalismus auf einen Sündenbock abgeleitet werden sollte. So funktionierten die Mechanismen, die einst den «jüdischen Bolschewiken» geschaffen hatten, noch immer, wenngleich, um in der EU nicht allen Kredit zu verspielen, auf die wörtliche Anrufung des Monsters meist verzichtet wurde.
Damit gingen Versuche einer Rehabilitierung faschistischer und halbfaschistischer Diktatoren einher, so Ion Antonescus in Rumänien – übrigens hatte schon das Ceausescu-Regime versucht, an ihm neben den faschistischen auch «nationale» Seiten zu entdecken. (Vgl. S. 256) Ab 1990 wurde Antonescu zum heldenhaften Kämpfer gegen den Bolschewismus verklärt; 1991 legte das rumänische Parlament eine Gedenkminute für ihn ein, und zahlreiche Zeitungen leugneten den von Antonescu initiierten rumänischen Holocaust. Vielmehr wurde er nun als Held der Nation verherrlicht. Der aus Rumänien stammende Holocaust-Überlebende und Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel, dem Kommunismus denkbar fernstehend, erfuhr nach seiner Erklärung gegen diese Entwicklung öffentliche antisemitische Angriffe. Sie wurden erst nach Protesten des US-amerikanischen Kongresses eingestellt; wohl nicht aus gewonnener Einsicht, sondern aus Furcht vor Sanktionen.
Die Kampagne nahm, und dies nicht nur in Rumänien, eine andere Richtung: Unter den zum reinen Propagandawort gewordenen Totalitarismus wurden faschistische wie kommunistische Diktaturen subsumiert, oft zulasten der Letzteren, wie Hanebrink am Falle Ernst Noltes zeigt, wobei er jüngste Kontroversen um Nolte, so dessen Verteidigung durch Jörg Baberowski, aber nicht mehr berücksichtigt.
Paul Hanebrink: A Specter Haunting Europe. The Myth of Judeo-Bolshevism, Cambridge (Massachusetts)/London: The Belknap Press of Harvard University Press, 2018, 353 S, ca. 27 EUR
[Diese Rezension erschien zuerst, am 10. Juni 2020, auf der nicht mehr existierenden Website der Berliner Gesellschaft für Faschismus- und Weltkriegsforschung e. V.]