Interview | Krieg / Frieden - China - Palästina / Jordanien - Krieg in Israel/Palästina - Westasien im Fokus Die Peking-Deklaration: Eine Chance für Palästina?

Der «Deal» zwischen Fatah und Hamas zeigt Chinas Anspruch als globale Führungsmacht. Die Reaktionen in Palästina fallen gemischt aus.

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Mahmoud al-Aloul, stellvertretender Vorsitzender des Zentralkomitees der Fatah, Chinas Außenminister Wang Yi und Mousa Abu Marzouk, ranghohes Mitglied der  Hamas, bei einer Veranstaltung im staatlichen Gästehaus Diaoyutai in Peking am 23. Juli 2024. Foto: picture alliance / via REUTERS | PEDRO PARDO

Am 23. Juli 2024 haben vierzehn palästinensische Organisationen und Gruppen, darunter die Fatah und die Hamas, in China eine Vereinbarung unterzeichnet, mit der die langjährige Spaltung zwischen den palästinensischen Fraktionen beendet werden soll. Die Nachricht von der «Peking-Deklaration» hat zunächst überrascht. Zu tief scheinen die Gräben zwischen der Fatah und der Hamas, spätestens seit dem Jahr 2006, als die Hamas die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in den palästinensischen Autonomiegebieten gewonnen hatte und weder die Fatah noch die USA und das westliche Ausland das Wahlergebnis anerkennen wollte. Allerdings finden seit Jahren Versöhnungsversuche statt, um die sogenannte palästinensische Einheit wiederherzustellen und um eine gemeinsame Positionierung mit Blick auf Israel und die Zukunft Palästinas zu erwirken. Diese regelmäßigen und mit viel Verve inszenierten Gespräche sind jedoch bislang jedes Mal gescheitert.

Eine erst Einschätzungen zum jüngsten palästinensischen «Einheits-Abkommen» und der Rolle Chinas geben die Büroleitungen der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Ramallah, Karin Gerster, sowie Peking, Jan Turowski. Die Fragen stellte Katja Hermann, RLS-Referentin für Westasien in Berlin.  

Worauf haben sich die Hamas und die Fatah und die anderen palästinensischen Parteien in dem neuen «Deal» verständigt?

Karin Gerster: Die «Peking-Deklaration» sieht im Wesentlichen eine von allen vierzehn palästinischen Parteien getragene Interimsregierung oder auch Einheitsregierung vor, um gemeinsam nach dem Krieg den Gazastreifen zu regieren. Nach vielen Monaten des Krieges stellte sich die Frage nach dem „Tag danach“. Dazu muss die palästinensische Seite mit einer Stimme sprechen, auch um gegenüber Israel und der internationalen Gemeinschaft bestehen zu können. Für alle palästinensischen Parteien ist es klar, dass die Zukunft des Gazastreifens primär eine palästinensische Angelegenheit ist.

Wie ist der Zeitpunkt des Abkommens zu erklären?  

Karin Gerster: Der Hintergrund ist der fast zehn Monate währende enorm zerstörerische Krieg gegen Gaza, aber auch die sehr angespannte Lage im Westjordanland. Dort findet ein «leiser Krieg» mit Landnahmen, Häuserzerstörungen, Verhaftungswellen und massiver Gewalt israelischer Siedler*innen gegen Palästinenser*innen statt. Die Fatah-geführte Regierung in Ramallah hält trotz allem an der in den 1990er Jahren verabredeten Sicherheitskooperation mit Israel fest und macht alleine die Hamas für die Lage verantwortlich. Schon lange ist die Fatah geschwächt und innerlich zerstritten. Jetzt steht sie mit dem Rücken zur Wand, der Druck auf sie ist immens. Die Rücktrittsforderungen gegenüber dem Präsidenten Mahmud Abbas sind nicht mehr zu überhören, jetzt musste gehandelt werden. Auch die Hamas steht unter Druck. Da viele in Palästina den Angriff vom 7. Oktober 2023 als Akt des Widerstandes verstanden haben, hat die Hamas ihr Ansehen zunächst steigern können. Die Hamas ist gesprächsbereit, um ihre Stellung nach dem Krieg mit Blick auf die Regierung des Gazastreifens zu festigen. Ein Zusammenschluss mit der Fatah und der Palästinensischen Autonomiebehörde scheint dafür vielversprechend zu sein.

Welche Rolle spielte China bei den Verhandlungen? 

Jan Turowski: China positioniert sich zunehmend als ernstzunehmender Akteur auf der weltpolitischen Bühne. Aus Perspektive der chinesischen Führung hat die bisherige westliche Dominanz zu keiner friedlichen und gerechten Weltordnung geführt. Daher strebt China eine neue multipolare Weltordnung an, in der eine Vielzahl von Akteuren zur Lösung globaler Probleme einbezogen werden müssen. China selbst will sich selbst erstens als verlässlicher Partner etablieren, der problemlösungsorientiert neue multilaterale politische Foren und Mechanismen bereitstellt. Zweitens sieht Peking die Eskalationsgefahr des Nahost-Konfliktes, die schnell über die Region hinaus auf den asiatisch-pazifischen Raum übergreifen kann und damit auch massive politische und wirtschaftliche Auswirkungen auf China selbst hätte. Gleichzeitig scheint China für die diversen palästinensischen Fraktionen und deren Partner als durchsetzungsfähiger und vertrauenswürdiger Partner zu gelten – China sitzt schließlich im Sicherheitsrat und hätte die wirtschaftlichen Mittel, beim Wiederaufbau zu helfen. Welche konkrete Rolle China hinter den verschlossenen Verhandlungstüren gespielt hat, lässt sich schwer beantworten. Die Rolle Pekings bei der Verfügbarmachung des «Verhandlungsraumes» und der gezielten Einladung aller Akteure zeugt jedenfalls von hohem diplomatischen Geschick.

Inwiefern und in welche Richtung hat China sich bislang zum Konflikt zwischen Israel und Palästina positioniert? 

Jan Turowski: Für die chinesische Regierung stellt der Ausbruch des Gaza-Krieges im Grunde das Resultat eines lange verschleppten, nie aufrichtig behandelten Konfliktes um die Besetzung der palästinensischen Gebiete dar. Aus diesem Grunde ist sie überzeugt, dass dieser Konflikt nur gelöst werden kann, wenn endgültige Antworten auf die zentralen Fragen gefunden werden. Diese müssen in einer internationalen Friedenskonferenz unter Beteiligung aller relevanten Akteure herbeigeführt werden. Voraussetzung dafür ist aus chinesischer Sicht eine sofortige Waffenruhe. China sieht sich durchaus in der Position, als quasi neutraler Akteur eine solche Konferenz auszurichten. Trotz der bestehenden guten wirtschaftlichen Beziehungen mit Israel hat China sich eindeutig zur Legitimität der palästinensischen Forderungen bekannt. Obwohl sich China sehr lange für eine Zweistaatenlösung und die entsprechenden UN-Resolutionen stark gemacht hat, schimmerte gerade in den offiziellen Verlautbarungen der letzten Monate die Frage durch, ob eine Zweistaatenlösung überhaupt noch realistisch ist.  

Offenbar versucht China, seinen Einfluss in Westasien weiter auszubauen. Welche Interessen verfolgt es?  

Jan Turowski: China ist mittlerweile der Haupthandelspartner der meisten Länder in der Region. Das Land ist in Hinblick auf seine weitere wirtschaftliche Entwicklung extrem energieabhängig und hat entsprechend das Interesse, Zugänge zu den vorhandenen Öl- und Gasreserven sicherzustellen. Auch sichere Handelswege in der Region spielen eine zentrale Rolle.

Wie wird die Nachricht von dem neuen «Deal» in Palästina aufgenommen?

Karin Gerster: Die Reaktionen sind gespalten und insgesamt nicht optimistisch. Es gab schon so viele Versöhnungsversuche, Einheitsvereinbarungen und unterzeichnete Verträge, die nicht gehalten wurden und an der politischen Lage und an den Lebenswirklichkeiten unter der Besatzung nichts verändert haben. Deshalb ist in Ramallah die Nachricht vom neuen Versuch in Peking kein großes Thema. Die Meinungen in Palästina gehen dahin, dass eine Regierung nur erfolgreich sein kann, wenn sie von den Menschen auf der Straße eingesetzt und anerkannt wird, letztlich also durch demokratische Wahlen. Verträge, die von Politiker*innen zum eigenen Machterhalt abgeschlossen werden, sind den Menschen hier suspekt.

Die offenbare Einsicht des palästinensischen Präsidenten Abbas, dass er die Rückendeckung des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu verloren hat, wird hier zum Teil positiv aufgenommen. Netanjahu geht es um sein eigenes politisches Überleben – und das ist nur mit den rechtsextremen Parteien von Ben Gvir und Smotrich möglich. Die Radikalen in Israel haben weder Interesse an einer funktionierenden palästinensischen Regierung noch an einer Einigung mit den Palästinenser*innen. Im Gegenteil, die Annexion des Westjordanlandes schreitet voran. Der Präsident musste sich jetzt kompromissbereit zeigen, auch um das Ansehen der Fatah und sich selbst zu retten. Allerdings wird hier auch nicht ausgeschlossen, dass es sich bei dem Abkommen um ein taktisches Kalkül handelt und es der Fatah rein um ihren eigenen Machterhalt geht. Denn die Regierung in Ramallah weiß, dass die Hamas international keine Anerkennung erfahren wird. Damit könnte sich die Fatah als bemüht gezeigt haben, während andere Akteure – westliche oder auch arabische Staaten – das Abkommen ablehnen. Um das einzuschätzen, ist es aber noch zu früh.

Wie hat sich die Lage nach dem Anschlag auf den politischen Führer der Hamas, Ismail Hanija, verändert? Was bedeutet dies für das «Einheitsabkommen»?

Jan Turowski: Die offizielle Position Chinas zu dem Anschlag am 30. Juli 2024 war so klar wie erwartbar. Lin Jian, der Sprecher des chinesischen Außenministeriums, sagte, dass «China den Mordanschlag entschieden verurteilt und zutiefst besorgt darüber ist, dass der Vorfall die Situation in der Region weiter eskaliert». Zu dem «Einheitsabkommen» wurde sich offiziell nicht geäußert.

In China sieht man durchaus die Gefahr, dass durch Hanijas Tod nun in der Hamas Machtkämpfe ausbrechen könnten, die zu einer Radikalisierung und einem Machtvakuum führen. Dennoch glaubt die Mehrheit der chinesischen Expert*innen, dass das «Einheitsabkommen» weiterhin Bestand haben wird. Angesichts der Dramatik in Gaza ist aus chinesischer Sicht ein historischer Wendepunkt erreicht, an dem Israels Strategie des «Teilen und Herrschens» der letzten Jahrzehnte nicht mehr funktioniere. Eine palästinensische Nachkriegsregierung wird nach Ansicht Chinas nicht mehr von Israel bzw. den USA eingesetzt werden können und müsse deshalb auch die – wenn auch geschwächte – Hamas einbinden.

Jenseits des «Einheitsabkommens» betrachtet Peking den Anschlag in Teheran als eine Eskalation Israels, die einen Krieg mit dem Iran provozieren könnte, und als weiteren Beweis dafür, dass die USA nicht willens sind, den Israelis in dieser Eskalationsspirale in den Arm zu fallen und somit als «ehrlicher Makler» bei der Lösung der Krise ausfallen.

Karin Gerster: Die Lage in Palästina ist momentan sehr angespannt. Die Tötung von Ismail Hanija in Teheran wird als gezielter Angriff auf den Iran gewertet und gleichzeitig als ein Versuch interpretiert, palästinensische Einheitsabsichten zu verhindern. Der palästinensische Präsident und Widersacher von Hanija, Mahmoud Abbas, hat am darauffolgenden Tag persönlich zu einem Generalstreik in den Palästinensischen Gebieten aufgerufen. Es finden Demonstrationen in vielen Städten statt, und es kursiert ein Aufruf, an allen Check-Points zu demonstrieren. Das hat bereits zu Zusammenstößen geführt und die Lage könnte weiter eskalieren. Es ist brandgefährlich und völlig offen, wie sich die Dinge entwickeln.