Analyse | Rosalux International - China - Sozialökologischer Umbau Chinas kurzer Marsch zur Klimaneutralität

Wie Beijing den Ausbau Erneuerbarer Energien vorantreibt

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Jan Turowski,

Schwimmenden Solarpaneelen auf der Oberfläche eines Sees, der durch die Entwässerung des Bergbaus entstanden ist (Yinchuan, Autonome Region Ningxia Hui, China, 6.5.2024). Das schwimmende Solarkraftwerk hat eine installierte Leistung von 23 Megawatt, mit der jährlich etwa 32 Millionen kWh Strom erzeugt werden sollen.
«Allein 2023 hat China mehr Solarmodule installiert als alle anderen Länder der Welt zusammen.» Schwimmenden Solarpaneelen auf der Oberfläche eines Sees, der durch die Entwässerung des Bergbaus entstanden ist (Yinchuan, Autonome Region Ningxia Hui, China, 6.5.2024). Das schwimmende Solarkraftwerk hat eine installierte Leistung von 23 Megawatt., Foto: IMAGO / VCG

Im Juli dieses Jahres meldete der «Sidney Morning Herold», dass China die Verpflichtung aus dem Pariser Klima-Abkommen, den Höhepunkt seiner Emissionen bis zum Jahr 2030 zu erreichen, offenbar bereits erfüllt habe und die Werte nunmehr rückläufig seien. Das bei all den schlechten Nachrichten zum Klimaschutz ausgerechnet der weltweit größte Emittent von Kohlendioxid Maßstäbe setzt, ist ein klimapolitischer Paukenschlag, zumal China sich immer noch in der nachholenden Modernisierungs- und Industrialisierungsphase befindet.

Noch in den 1990er Jahren war China den immensen ökologischen Kosten seines atemberaubenden Wirtschaftswachstums eher lakonisch begegnet. «Wir machen es wie der Westen: Wir werden erst reich und räumen dann auf», lautete die Devise. Diese Vorstellung ist allerdings längst aus dem politischen Diskurs verschwunden, denn es wurde bald klar, dass es nach einer ökologischen Katastrophe nicht mehr viel «aufzuräumen» gäbe. Hinzu kam, dass eine saubere Umwelt und ökologische Nachhaltigkeit zu wichtigen politischen Forderungen der neuen Mittelschichten wurden. So setzte sich die Einsicht durch, dass ökologische Modernisierung ein integraler Bestandteil der Modernisierung Chinas sein müsse.

Jan Turowski leitet das Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Peking.

Boom der Erneuerbaren Energien

Während konkrete Klimapolitiken trotz des steigenden Handlungsdrucks weltweit auf immer mehr politischen Widerstand stoßen und sich oft in Verteilungskämpfen und Blockaden durch Lobbygruppen verstricken, ist China seit anderthalb Jahrzehnten in die entgegengesetzte Richtung marschiert, wie insbesondere der erfolgreiche Ausbau erneuerbarer Energie illustriert.

Die Geschwindigkeit des Umbaus ist geradezu atemberaubend. Chinas Investitionen in saubere Energie stiegen 2023 im Vergleich zum Vorjahr um 40 Prozent auf 890 Milliarden US-Dollar; damit lagen sie fast so hoch wie die gesamten globalen Investitionen in die Versorgung mit fossilen Brennstoffen. Im Bereich der Solar-Photovoltaik hat das Land inzwischen eine Führungsposition eingenommen und allein 2023 mehr Solarmodule installiert als alle anderen Länder zusammen. Neben dem raschen Ausbau der Solarenergie hat China auch viel in die Windenergie investiert und im vergangenen Jahr 65 Prozent der neuen Windenergieanlagen weltweit errichtet.

Im Juni 2024 wurde bekannt gegeben, dass die Dongfang Electric Corporation, ein staatlicher Stromerzeuger, die Installation der weltweit ersten 18-Megawatt-Windkraftanlage in der Provinz Guangdong abgeschlossen hat. Sie ist in der Lage, Strom für 36.000 Haushalte zu erzeugen. Tatsächlich sind vier der fünf weltweit führenden Hersteller von Windturbinen chinesische Firmen. Die Investitionen in die Windenergie haben zu großen technologischen Fortschritten und Skaleneffekten geführt, was dazu beiträgt, dass die Kosten für installierte Windturbinen in China nur ein Fünftel der Kosten in den Vereinigten Staaten betragen.

Zudem hat sich China rasant zum Weltmarktführer bei der Elektrifizierung des Verkehrs entwickelt. Dank staatlicher Unterstützung besitzt das Land heute über 95 Prozent der Elektrobusse weltweit, und fast 80 Prozent aller Busse werden bereits elektrisch betrieben, gegenüber lediglich 16 Prozent im Jahr 2016. Eine Reihe großer chinesischer Städte hat bereits eine vollständige Elektrifizierung der Busflotten erreicht.

Auch im Bereich der Hochgeschwindigkeitszüge liegt China weit vorne und verfügt über mehr Hochgeschwindigkeitsstrecken als der Rest der Welt zusammen. Obwohl das Land erst 2008 mit der Einführung derartiger Züge begann, verfügt das Land heute bereits über mehr als 40.000 Streckenkilometer.

Chinesische Elektroautos machen 60 Prozent des weltweiten Absatzes aus, gegenüber 0,1 Prozent im Jahr 2012. Die Produktion von Elektrofahrzeugen in China ist 2023 im Vergleich zum Vorjahr um 36 Prozent gestiegen. Zurzeit werden neue Vorschriften eingeführt, die in den nächsten Jahren zu einem effektiven Ausstieg aus Autos mit fossilen Brennstoffen führen werden. Schon jetzt entfallen 50 Prozent der Neuzulassungen in China auf Elektrofahrzeuge, und diese Zahl steigt rapide an.

Eine «Ökologische Zivilisation»?

Der erfolgreiche Umbau liegt auch in Chinas Politik- und Planungsprozess begründet, der sich bekanntlich vom hiesigen grundlegend unterscheidet. Entscheidend dafür ist die Langfristigkeit der Planung, die sich weder kurzfristiger Profitmaximierung noch den wechselnden Konjunkturen des Wählerwillens unterwerfen muss. Entgegen landläufiger Meinung ist dieser Prozess mit dem Hinweis auf «fehlende Demokratie» allerdings nicht hinreichend beschrieben. Er ist nämlich durchaus komplex: Den Parteitagsberichten und Fünfjahresplänen, die die grundsätzliche Richtung vorgeben, sind langwierige Kommunikationsprozesse vor- und nachgeordnet. Dabei findet von der anfänglichen Formulierung der Zielvisionen bis zu den konkreten Politikinhalten ein zirkulärer Abstimmungsprozess statt, in dem die Vorgaben immer weiter verfeinert und konkretisiert werden.

Diese experimentelle Politikgestaltung zeichnet sich dadurch aus, dass die Zentralregierung in Beijing Rahmenziele festlegt und lokale «Experimentierzonen» einrichtet, in denen eine Vielzahl von Instrumenten erprobt und unterschiedliche Modelle entwickelt werden. Diese werden im Erfolgsfall auch in anderen Regionen ausprobiert, um zu testen, inwieweit sich die Politik‐Optionen verallgemeinern lassen. Mittlerweile sind 572 Experimentierzonen und 240 sogenannte Innovationszentren ausgewiesen worden.

Auch wenn Umwelt- und Klimafragen in China bereits zuvor diskutiert worden waren, nahm der sozial-ökologische Transformationsdiskurs erst nach 2007 so richtig Fahrt auf, als auf dem 17. Parteitag der KPCh der Aufbau einer «Ökologischen Zivilisation» erstmals offiziell formuliert wurde. Der 18. Parteitag 2012 definierte diese «Ökologische Zivilisation» dann als Kernziel chinesischer Modernisierung und wertete sie zu einer Hauptaufgabe nationaler Regierungspolitik auf – neben der wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Modernisierung (sogenannte «Fünf-in-Eins»-Modernisierung).

2017 erklärte der 19. Parteitag, dass der Widerspruch zwischen Wohlstand und nachhaltiger Entwicklung ein «neues Zeitalter» – sprich: eine neue Entwicklungsstrategie – erfordere. Ein Jahr später wurde das zuständige Ministerium zum Ministerium für Ökologie und Umwelt umgebaut und mit erheblichem Machtzuwachs ausgestattet. Kurz: In nur zehn Jahren wurden die Grundlagen einer neuen systemischen Koordination gelegt. In China ist die Transformation zu einer «Öko-Zivilisation» auf diese Weise zu einer treibenden Kraft der Modernisierung geworden, die alle gesellschaftlichen Teilsysteme umfasst.

Chinas Wirtschaftsmodell verfügt zudem über spezifische Eigenschaften, die diesen Prozess unterstützen. Da sind beispielsweise die Staatsunternehmen und Staatsbanken: Die enormen Investitionen werden größtenteils von staatlichen Banken getätigt und viele der Schlüsselprojekte von staatlichen Unternehmen durchgeführt. Selbst die Redaktion der Financial Times räumt ein, dass Chinas – oft als schwerfällige Riesen charakterisierte – Staatsunternehmen entscheidend dazu beitragen, die Einführung sauberer Technologien zu beschleunigen.

Auch Finanzmärkte werden in den Dienst strategischer Steuerung gestellt. Chinesische Kapitalmärkte funktionieren, obwohl sie einige wesentliche Merkmale mit den globalen Kapitalmärkten gemeinsam haben, ganz anders. Dies bedeutet nicht, dass Gewinne oder Renditen auf Finanzanlagen keine Rolle spielen. Gewinne sind nötig, aber sie sind nicht das wichtigste Ziel des Wirtschaftens – und es sind vor allem nicht die Renditen auf Finanzanlagen. Zentral sind inhaltlich definierte wirtschaftspolitische Ziele, beispielsweise die Entwicklung bestimmter Technologien und Produktionsfelder.

Strategische Planungen mit sehr langen Zeithorizonten, wie etwa die Fünfjahrespläne, schaffen die notwendige Sicherheit für die Investitionslenkung und für die beteiligten Akteure. Sie ermöglichen überdies aufeinander abgestimmte Arbeitsschritte: So mussten beispielsweise schon vor fünfzehn Jahren, als noch kein Elektro-Auto auf Chinas Straßen zu sehen war, in den Großstädten alle neuen Tiefgaragen und Parkplätze mit Ladestationen ausgestattet werden.

Die langfristigen Planungen erlauben auch, mehrere Reformprogramme und strategische Ziele wechselseitig zu integrieren. So spielte die Erhaltung und Wiederherstellung von Naturräumen eine wichtige Rolle bei der Armutsbekämpfung, vor allem durch die Schaffung von Arbeitsplätzen im ökologischen Sektor. Seit 2013 wurden knapp fünf Millionen Hektar Ackerland in armen Regionen als Wald oder Grasland wiederhergestellt. Dabei wurden 1,1 Millionen arme Menschen als Förster*innen eingestellt sowie Zehntausende Teams für die Aufforstung und Kooperativen zur Armutsbekämpfung gebildet.

Widersprüche und Spannungen

Bei allen Erfolgen ist der chinesische Ansatz zur ökologischen Transformation nicht frei von Widersprüchen und Reibungen. Gegenwärtig haben sich interessenpolitische Spannungen – auch wenn sie immer wieder lokal auftreten – noch nicht in voller Breite entfaltet.

Bislang scheint die «Öko-Zivilisation» mehr Gewinner als Verlierer erzeugt zu haben. Selbst die Arbeiterschaft in den ehemaligen Kohleregionen scheint relativ problemlos von anderen Branchen absorbiert worden zu sein. Die letzten Jahre der ökologischen Transformation waren jedoch von einem moderaten Wirtschaftswachstum begleitet, das die Transformationskosten abfederte. Inwieweit das politische System in der Lage ist, den Basiskonsens sozial-ökologischer Transformation bei zunehmenden ökonomischen Verteilungskämpfen aufrechtzuerhalten bzw. zu moderieren, ist offen. Kleine und schwache Nichtregierungsorganisationen haben kaum Handlungskapazitäten, um diesen ökologischen Transformationsdiskurs ihrerseits «von unten nach oben» zu führen und Interessen wirkmächtig zu vertreten.

Hinzu kommt, dass das Programm der Öko-Zivilisation überaus technologie- und wachstumsfixiert ist. Dies mag in der ersten Transformationsphase beim Umbau der Energie- und Verkehrssysteme erfolgreich gewesen sein; in der nächsten Phase aber wird man um ein Umdenken in den Lebens- und Konsumweisen nicht herumkommen. Auch wenn sich hier in den letzten Jahren – wenngleich noch eher in gesellschaftlichen Nischen – eine Debatte entwickelt hat, dominieren in Regierung und Gesellschaft immer noch alte, sprich: konsumistische, Vorstellungen der Wohlstandmehrung. Das wird absehbar nicht ausreichen. Die nächste Aufgabe, vor der China steht, ist deshalb die Frage, wie das eigene Entwicklungsmodell das gesellschaftliche Naturverhältnis und die sozialen Verhältnisse neu zusammenführen und gestalten kann.
 

Dieser Text erschien zuerst in «nd.aktuell» im Rahmen einer Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung.