
Eine aktuelle Ausstellung in der Bundeskunsthalle widmet sich den «Lebensreformen ab 1900». Die Lebensreform wendete sich - vereinfacht ausgedrückt - mit Konsumkritik, Gemeinschaft und Spiritualität gegen Prüderie, Konformität, Familie, Militarismus und Nation. Die Ausstellung hingegen möchte «zur Sichtbarmachung und Bedeutung einer alternativen Moderne ab der letzten (sic!) Jahrhundertwende beitragen – in all ihren Ambivalenzen» (S. 8).
Die dazugehörige großformatige Publikation deutet die Lebensreform der Jahre nach 1900 in erster Linie als Reaktion auf Industrialisierung und Urbanisierung. Bereits 1845 zog Henry David Thoreau aus Protest gegen die Industriegesellschaft(!) in eine Blockhütte in Massachusetts, verwendete den Begriff «ziviler Ungehorsam» und schrieb darüber den Bestseller «Walden», der 1854 erstmals erschien. Die in der «Lebensreform» erprobten Praktiken von vor allem gesunder Ernährung, von Musik und Kleidung seien durch die von den USA ausgehende «Gegenkultur» der 1960er-Jahre im «Lifestyle der Mitte der Gesellschaft» (S. 9) angekommen.
Längere Texte gibt es nach der Einleitung dann zur Siedlung Loheland in der Rhön, die ab 1919 vor allem ein privates Ausbildungsinstitut für Gymnastik und Tanz für Frauen war, zur Jugendbewegung in Deutschland, zu den TanzavantgardistInnen Mary Wigman (1886-1973) und Rudolf von Laban und zur «Counterculture» in den USA. Der Text zu Paul Schultze-Naumburg (1869-1949) fällt etwas aus der Reihe: Dieser war ein Förderer moderner Kunst, wandte sich dann aber über Zivilisationskritik und einen Kulturdarwinismus immer mehr völkischen und rassistischen Denkweisen zu – und wurde ab Mitte der 1920er-Jahre zu einem Nationalsozialisten.
Alle andere Themen und Personen werden kürzer abgehandelt. Der Bogen reicht hier von den Künstlern Wassily Kandinsky, Hermann Hesse und František Kupka (1871-1957) über die Theosophie (ein Vorläufer der Anthroposophie) und die Künstlerpropheten und sogenannten Kohlrabi-Apostel wie Fidus (eigentlich Hugo Höppener, 1868-1948), Karl Wilhelm Diefenbach (1851-1913) und Gusto Gräser bis hin zum Monte Verità und Woodstock.
Der sehr ansprechend und übersichtlich gestaltete Band versammelt eine Vielzahl von Aspekten des Themenfeldes, er bietet somit einen guten Überblick; er wird jedoch Interessierten, die sich mit dem Thema bereits etwas beschäftigt haben, wenig Neues bieten. Er veranschaulicht, sofern Leser*innen der Kontinuitätsthese folgen, die Kontinuität dieser Ideen im Spannungsfeld von Kunst, Wissenschaft und Esoterik über einen Zeitraum fast 200 Jahren, von 1845 bis heute.
Die Ausstellung ist in der Bundeskunsthalle in Bonn noch bis 10. August zu sehen.
Johanna Adam / Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.): Para-Moderne. Lebensreformen ab 1900; Verlag Hatje Cantz, Berlin 2025, 304 Seiten, 200 Fotografien, 48 Euro