Nachricht | International / Transnational Infobrief Türkei Ausgabe 04/2013 erschienen

Der Infobrief kann hier heruntergeladen werden. Die Beiträge können auch im Internet (http://infobrief-tuerkei.blogspot.com) gelesen werden.

Information

Aus dem Editorial:
Liebe Leserinnen und Leser,

die Beziehungen der Türkei zu ihren südlichen Nachbarstaaten stecken inmitten eines Umbruchs, an dessen Ausgang die politischen Grenzen im Nahen Osten neu gezogen werden könnten. Während diese Grenzen in der vergangenen Dekade insbesondere durch den Ausbau von Handelsbeziehungen zwischen der Türkei und Syrien, dem Irak und dem Iran durchlässiger wurden, erscheint der seit zwei Jahren andauernde Krieg in Syrien als Unterbrechung dieser Dynamik. Vor Ausbruch des Krieges wurde noch über den Ausbau der bilateralen Beziehungen zwischen der Türkei und Syrien zu einer Art Wirtschaftsunion gesprochen, diese Option erscheint kaum noch realistisch. Auch wenn unklar ist, wie der Krieg beendet werden wird, ist durch ihn unerwartet eine neue Ausgangslage entstanden. Im Norden Syriens haben sich neue staatliche Strukturen unter der Führung einer kurdisch-nationalen Partei herausgebildet, die in zukünftige politische Gleichungen einbezogen werden muss. Ein Zurück zum Status quo ante wird es wohl kaum geben. Die Beziehungen zwischen der kurdischen Autonomiebehörde im Norden Iraks und der Türkei unterliegen ohnehin seit einiger Zeit einer Dynamik, die ein politisches und wirtschaftliches Zusammenrücken als Option erscheinen lassen. De facto hat es die Türkei an ihrer südlichen Grenze inzwischen mit zwei halb-autonomen kurdischen Staatsgebilden zu tun.

Hinzu kommt ein dritter kurdisch-nationaler Akteur, die kurdische Bewegung in der Türkei, die seit über 30 Jahren mit allen Mitteln bekämpft wird und trotzdem nicht besiegt werden konnte. Noch vor wenigen Monaten sinnierten regierungsnahe Kreise über eine »totale Eliminierung« der kurdischen Bewegung, und der Ministerpräsident bedauerte sehr, dass der inhaftierte Vorsitzende der PKK Abdullah Öcalan seinerzeit nicht hingerichtet wurde. Inzwischen scheint sich das Blatt vollkommen gewendet zu haben. Die türkische Regierung und Öcalan sind erneut »in einen Dialog getreten« und wollen die kurdische Frage angeblich gemeinsam ein für allemal lösen. Frieden steht bevor, heißt es, während die türkische Regierung offiziell weiterhin die »Terrorbekämpfung« als Ziel der aufgenommenen Gespräche benennt.

Diverse Strategen sprechen dagegen von einer türkisch-kurdischen Allianz unter sunnitischer Flagge im Nahen Osten. Als gemeinsame Vision wird eine Konföderation bestehend aus der Türkei und den überwiegend kurdisch besiedelten Gebieten in Syrien, im Irak und im - momentan nicht im Blickfeld stehenden - Iran als Vernunftlösung gepriesen, von der alle Seiten profitierten. Die PKK hat sich zwar äußerst skeptisch gezeigt. Nichtdestotrotz folgte sie Öcalans Aufruf, rief einen Waffenstillstand aus und erklärte sich grundsätzlich bereit, die bewaffneten Einheiten aus der Türkei abzuziehen.

Was für manche eine Horrorvision ist, verbunden mit einem großen Krieg im Nahen Osten, ist für andere das genaue Gegenteil. Der gegenwärtige Prozess könnte die Beilegung des bewaffneten Konflikts zwischen kurdischer Bewegung und der türkischen Regierung bedeuten, sowie die durch den Krieg in Syrien unterbrochene Dynamik in eine vollkommen neue politische Bahn lenken. Angesichts der abrupten Kehrtwende, die die türkische Regierung in dieser Sache hingelegt hat, ist allerdings Vorsicht und Skepsis angebracht. Unwahrscheinlich erscheint desweiteren, dass die kurdische Bewegung in der Türkei, die seit Jahren ein demokratisches, soziales, auf Gleichheit beruhendes Gesellschaftsprojekt verteidigt, sich von einem Tag auf den anderen zur Erfüllungsgehilfin eines solch waghalsigen Projekts transformiert: das einer Konföderation, die auch unter dem Label »Neo-Osmanismus« verhandelt wird. Obgleich manche Stimme aus der kurdischen Bewegung Sympathien für ein konföderales Modell und Begeisterung für diese vermeintliche Win-win-Situation erkennen lässt, erscheint die insbesondere bei Sozialisten und Sozialistinnen in der Türkei aufkommende Befürchtung, die kurdische Bewegung könnte sich einer chauvinistisch, patriarchal und islamistisch artikulierten, regionalimperialistischen Zielsetzung eines imaginierten türkisch-kurdischen Machtblocks verschreiben, einseitig und vorschnell.

In diesem Infobrief haben wir drei Beiträge versammelt, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit Fragen beschäftigen, die mit dem angesprochenen Prozess verbunden sind. Ercan Geçgin beleuchtet in seinem Beitrag einige Aspekte und Hintergründe, die zur Aufnahme eines Dialogs zwischen Öcalan und der türkischen Regierung geführt haben. Eine Kritik an den Anhängern eines unabhängigen kurdischen Nationalstaats formuliert Murat Çakır, der auch auf die engen Beziehungen zwischen der kurdischen Autonomiebehörde im Irak und der Türkei eingeht. Handan Çağlayans Artikel über die Beteiligung und Mobilisierung von Frauen im Rahmen der kurdischen Bewegung in der Türkei rundet diesen Infobrief ab. Auch wenn Çağlayan nicht auf die jüngeren politischen Entwicklungen eingeht, so legt ihre Einschätzung der kurdischen Frauenbewegung nahe, dass diese sich nicht ohne weiteres in einen chauvinistisch-patriarchalen Machtblock einbinden lassen wird.

Der Hoffnung auf den zum Greifen nahe scheinenden Frieden steht weiterhin die Repression gegenüber gesellschaftlicher Opposition in der Türkei entgegen, die in der Zwischenzeit keineswegs nachgelassen hat. Zwar wurden gegenüber der kurdischen Opposition, offensichtlich dem neueren »Annäherungsprozess« geschuldet, kleinere taktische Zugeständnisse wie die Freilassung einiger Untersuchungshäftlinge gemacht. Doch gleichzeitig kam es zur Inhaftierung mehrerer Dutzend linker und gewerkschaftlicher Akteure – auf Grundlage derselben absurden Beschuldigungen und Geheimdienstmethoden, die seit Jahren gegen Tausende Inhaftierte angewendet werden. Ihnen gilt unsere solidarische Verbundenheit.

Errol Babacan im Namen der Redaktion