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Über Ausschluss im Workfare-State - Ken Loachs neuer Film «I, Daniel Blake»

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Autor

Ingar Solty,

Filmszene aus «Ich, Daniel Blake» http://www.daniel-blake.de/

Zum aktuellen DVD-Start des neuesten Films von Ken Loach verlosen wir ab dem 31.3.2017 in Kooperation mit dem Filmverleih PROKINO sechs DVDs.

Wer den in Cannes mit der goldenen Palme ausgezeichneten Film gewinnen möchte, schreibt eine Email an martha.doerfler@rosalux.org bis zum 5.4.2017 mit dem Betreff «Ich, Daniel Blake» und nennt uns seinen eigenen Lieblingsfilm von Ken Loach.

Selten kommt es in der Geschichte vor, dass Kunstwerke eine Auswirkung auf die reale Politik, eine Veränderung der Verhältnisse zur Folge haben.

Autonomie der Kunst bedeutet oft genug, dass sie sich in ihrer Sphäre austoben mag, aber doch bitte «frei» bleibe von Politik oder dem Anspruch, Wirklichkeit abzubilden und zu verändern. Ausnahmen gibt es: Wie Upton Sinclairs naturalistischer Roman «The Jungle», der eine Regulierung der Schlachthofindustrie in Chicago zur Folge hatte. Oder auch der Film «Cathy Come Home» des britischen Filmregisseurs Ken Loach über Arbeitslosig- und Obdachlosigkeit im Nachkriegswohlfahrtsstaat, der zwölf Millionen ZuschauerInnen aufrüttelte und zur Gründung von politischen Organisationen im Kampf gegen Obdachlosigkeit führte.

Mit «Cathy Come Home» begann Loachs Kinofilmkarriere. Massive staatliche Zensurmaßnahmen im Kontext des Kalten Krieges konnten den sozialistischen Filmemacher nur zeitweilig stören. 2014 für sein Lebenswerk mit dem Goldenen Ehrenbären der Berlinale ausgezeichnet, hieß es zeitweilig, «Jimmy’s Hall» von 2014 sei sein letzter Film. Jetzt aber hat der 80-jährige Regisseur mit «I, Daniel Blake» einen neuen Film vorgelegt. Auf dem Filmfestival in Cannes wurde dieser– wie schon sein Film «The Wind That Shakes the Barley» von 2006 – mit der Goldenen Palme, dem wichtigsten Preis für den besten Film, ausgezeichnet. Und bereits jetzt hat er eine große Debatte über die Austeritätspolitik der konservativen Regierung des Vereinigten Königreiches ausgelöst.

In Bezug auf Loachs nunmehr fünfzigjähriges Schaffen ist es nicht leicht, Superlative zu benutzen: Viele großartige Filme umfasst sein vielseitiges Werk: Von Arbeiter-(Tragi)Komödien wie «Raining Stones» oder «The Angels‘ Share» über naturalistische oder sozialrealistische Dramen wie «Ladybird, Ladybird» und «Sweet Sixteen» und politische Historienfilme wie «Fatherland» (über die zwei deutschen Staaten), «Land and Freedom» (über den Spanischen Bürgerkrieg) und «Carla’s Song» (über die nicaraguanische Revolution) bis hin zu Dokumentarfilmen wie «A Question of Leadership», «The Spirit of 46» und einem Film über den neuen, linken Labour-Parteivorsitzenden Jeremy Corbyn. Dennoch könnte man überzeugend argumentieren, dass Loachs jüngster Film über einen Arbeiter, dem trotz Arbeitsunfähigkeit vom britischen Staat die Sozialhilfe gekürzt wird, sein krönendes (Alters-)Meisterwerk geworden ist: Erbarmungslos naturalistisch in der Darstellung des Dschungels des neoliberalen Workfare-Staates, analytisch-realistisch in der Darstellung seiner spezifischen Funktionsweise und grundlegenden systemischen (Disziplinar-)Logik. Auch dank zahlreicher Interviews, die Loach und sein langjähriger Drehbuchautor Paul Laverty im Vorfeld des Filmes sowohl mit «Klienten» wie «FallmanagerInnen» des Workfare-Staates führten, ist er zugleich zutiefst humanistisch in der Darstellung individuellen menschlichen Leidens und Liebens.

Dabei umgeht Loachs Film gekonnt die Fallstricke einer rein viktimisierenden und damit politisch entmachtenden Beschreibung der erwerbslosen ArbeiterInnen. Stattdessen zeigt er auch die Würde der Handelnden auf, in deren Alltag sich eine Form von Solidarität spiegelt, in der die Möglichkeit einer besseren Welt und einer sozialistischen Zukunft aufschimmert. Dabei kulminiert der Film in einer Szene des Selbstrespekt bewahrenden Trotzes, die womöglich Loachs kraftvollste Szene des symbolischen Widerstands überhaupt ist.

Loach arbeitet mit seiner unverkennbaren Filmtechnik. Dazu gehört, dass er abermals einfache ArbeiterInnen als ProtagonistInnen auswählt und sich an einer realistischen Darstellung von Klassen-Habitus versucht. Erneut spielen Laien-SchauspielerInnen – Dave Johns als Daniel Blake und Hayley Squires als Katie Morgan – quasi sich selbst. Am Rande der, von der Stiftung in Zusammenarbeit mit dem British Council präsentierten, deutschen Preview in Berlin legte Loach dar, dass – mit Ausnahme von zwei Schauspielerinnen – alle «Jobcenter»-Beschäftigten tatsächlich ehemalige MitarbeiterInnen des britischen Workfare-Staates sind, die etwa aufgrund der Anreize, «Klienten» systematisch zu sanktionieren, ihre Jobs gekündigt hatten.

Die Illusion des Realistischen wird zudem dadurch verstärkt, dass Loach wieder mit flexiblen Skripten gearbeitet hat, Dialoge nur bedingt vorgab. Er ließ seine HauptdarstellerInnen im Unklaren über den Ausgang von einzelnen Szenen, um so unverstellte, realistische Emotionen hervorzurufen. Dies gilt etwa für jene Szene, in der eine – ihren Kindern zuliebe hungernde – alleinerziehende Mutter in einer karitativen «Food Bank», wo Lebensmittel an Mittellose verteilt werden, sich plötzlich verschämt zur Seite dreht und eine Dose Essbares öffnet und gierig deren Inhalt in sich hineinschaufelt – was bei den Umstehenden realen Horror auslöst.

Filmgespräch mit Ken Loach zur Premiere von «Ich, Daniel Blake»

Achtung: Spoiler - der folgende Teil des Textes verrät den Ausgang des Filmes

Gleiches gilt für eine Prostitutionsszene wie auch für jene Szene, in der Daniel Blake tot – verstorben an einem panischen Herzinfarkt – im Badezimmer des Gerichtsgebäudes zu sehen ist, wo sein Fall neuverhandelt werden soll.

Der Film jedenfalls verwandelt – mit Bertolt Brecht gesprochen – Mitleid unmittelbar in Zorn über ein unmenschliches System. Dieser sei die Voraussetzung dafür, sagte Loach während des Publikumsgespräches in Berlin, das System zu ändern, denn: «Wie kannst Du ein Mensch sein, wenn Du nicht zornig bist?»