Publikation Demokratischer Sozialismus Die PDS ist noch zu retten

in Freitag, 20.6.2003, von Gabriele Zimmer

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Reihe

Online-Publ.

Autorin

Gabriele Zimmer,

Erschienen

Juni 2003

erschienen in Freitag, 20.6.2003»Würdest Du mir bitte sagen, wie ich von hier aus weitergehen soll?« fragte Alice. »Das hängt zum großen Teil davon ab, wohin Du möchtest«, sagte die Katze. Lewis Carroll

Das am besten gehütete Geheimnis jeder Partei ist ihr innerer Zustand. Diese Konvention zu brechen, erfordert Mut. Für die PDS jedenfalls, die sich nach der verlorenen Bundestagswahl und nach all den Zuspitzungen der vergangenen Wochen und Monate in einer äußerst schwierigen Situation befindet, ist Offenheit unverzichtbar. Anstatt die Vorhänge wieder zuzuziehen, sollte der Blick auf die Krise der PDS geschärft werden. Sich selbst ernst zu nehmen, ist alles andere als ein Selbstzweck. Es geht um nicht weniger als um die Chancen der PDS, in dieser Gesellschaft mit tragfähigen Alternativen etwas zu bewegen.

Mitglieder und Mandatsträger sollten sich deshalb den Gründungskonsens der Partei, ihre mehr als dreizehnjährigen Geschichte, ihre strategischen Erfolge, Niederlagen und nicht zuletzt ihre inneren Machtverhältnisse vergegenwärtigen. In der Zeit der Wende waren sich alle in der Erfahrung einig, dass ein Sozialismus, der auf der Herrschaft einer Minderheit über eine Mehrheit beruht, nicht nur undemokratisch ist, sondern auch nicht mehr kreativ und entwicklungsfähig sein kann. Es war offensichtlich geworden, dass der Sozialismus in der DDR zu schwach in der Gesellschaft verankert und deshalb auf Dauer nicht in der Lage war, mit dem real existierenden Kapitalismus ernsthaft ökonomisch, politisch und geistig zu konkurrieren. Unumkehrbarer Bruch mit dem Stalinismus und Bekenntnis zum demokratischen Sozialismus – das war der Gründungskonsens der PDS.

In den neunziger Jahren war die PDS nicht die einzige, aber die wichtigste politische Kraft, die sich der Demütigung des Ostens und der rücksichtslosen Neuverteilung ostdeutschen Eigentums widersetzte. Gerechtigkeit zwischen West und Ost, aber auch soziale Gerechtigkeit in der Gesellschaft insgesamt und friedliche Konfliktregelung in der Welt waren die Themen, für die sich die PDS besonders engagierte und dabei von den Wählerinnen und Wählern zunehmend honoriert wurde. Doch nach diesen Erfolgen entstanden für die PDS neue Herausforderungen. Mit dem weitgehenden Abschluss des Beitritts und der Verarbeitung seiner unmittelbaren Folgen hätte die PDS ihre strategische Ausrichtung neu überdenken müssen. Das Gegenteil geschah: Zu viele vertrauten auf ein Weiter-So und kämpften auch dann noch um die Anerkennung der PDS als »normaler Partei«, als längst schon die Aufgabe stand, mit überzeugenden Alternativen in die Reformdebatten des Landes einzugreifen. Die strategische Wende der Bundesregierung nach dem Abgang Lafontaines, die zunehmende Unterordnung sozialdemokratischer und grüner Politik unter neoliberale Prämissen hätten reichlich Gelegenheit geboten, das Profil der PDS zu schärfen.

Spätestens nachdem die PDS 1998 in Fraktionsstärke in den Bundestag eingezogen war, wäre eine Debatte über die Strategie der Partei und ihren praktischen Nutzen für die Wählerinnen und Wähler fällig gewesen. Obwohl es Ansätze zu dieser Debatte durchaus gab, kam es allzu häufig zu einem kleinkarierten Kampf zwischen verschiedenen Gruppierungen innerhalb der PDS. Eine der Ursachen für diese Unfähigkeit, rechtzeitig und offensiv eine durchsetzungsfähige Strategie der PDS zu diskutieren, sind Machtverschiebungen innerhalb der Partei. Am Anfang lag die Verantwortung ganz unumstritten in der Hand des Präsidiums des Parteivorstandes und des Parteivorsitzenden, während die Partei in den Regionen durch den Verlust der Staatsmacht und die Bildung der Länder einem komplizierten Umwandlungsprozess ausgesetzt war. Schon in der ersten Legislaturperiode der neuen Länderparlamente entwickelten sich dann aber die PDS-Fraktionen und vor allem deren Vorstände zu neuen Machtzentren. Die neugeschaffenen Landesverbände und ihre Vorstände hatten dagegen vor allem den Mitgliederverlust von über zwei Millionen auf unter einhunderttausend und damit einhergehend die Umwandlung ihrer hauptamtlich verwalteten Strukturen in weitgehend ehrenamtliche Mitarbeit zu bewältigen.

Gegenüber der streng zentralistisch aufgebauten SED ist die PDS mittlerweile eine Partei mit vielen Zentren. Dieser übertriebene Pluralismus ist längst unproduktiv geworden. So kann etwa der Parteivorstand kaum noch eine strategische Diskussion innerhalb der Gesamtpartei initiieren und die Ergebnisse einer solchen Diskussion auch umsetzen. Statt gemeinsam zu streiten und dann verbindliche Beschlüsse zu fassen, dominiert eine Lagerbildung, die auf dem Geraer Parteitag sogar die Form offener Feindschaft annahm – und beinahe bis zur Bereitschaft führte, für den eigenen Sieg auch mit der Zerstörung der PDS zu bezahlen. Probleme wurden personalisiert statt politisiert. Der Preis war die Handlungsunfähigkeit der Partei. Der gewählte Parteivorstand wurde sukzessive zu einem machtlosen Gremium, dessen sich die anderen Machtzentren meist nur dann erinnern, wenn es gilt, die Verantwortung für die Defizite der Partei abzuladen. Daran hat auch der Wegfall der Bundestagsfraktion nichts geändert. Die PDS ist eine Partei ohne strategisches Zentrum, eine Flotte ohne Flaggschiff.

Zusätzlich kompliziert wird die Lage durch Gruppen, die sich ideologisch-avantgardistisch gebärden und der Partei eine Diskussion über den richtigen, streng marxistischen Standpunkt aufzwingen wollen. Diese Gruppen sind amorph, nicht selten zerstritten – und zugleich geeint in der Überzeugung, einer hilflosen Partei und einer verblödeten Gesellschaft das Wissen um den Gang der Geschichte voraus zu haben. Für diese Gruppen ist die PDS nicht wegen ihres demokratisch-sozialistischen Grundkonsenses, sondern wegen ihres Einflusses in der Gesellschaft interessant.

Auf der anderen Seite gibt es seit Ende der neunziger Jahre avantgardistisch-pragmatische Gruppen, deren Anhänger sich als »Reformer« apostrophieren. Ihr Reformbegriff unterscheidet sich zwar positiv vom Reformbegriff der Neoliberalen, bei dem Reform synonym für die Zerstörung des Sozialstaates steht. Gleichzeitig orientieren sich aber diese »Reformer« fast ausschließlich auf den Parlamentarismus und insbesondere auf Regierungsbeteiligungen. So wird die Strategie der PDS auf eine sozialere Verwaltung der heutigen Zustände – letztlich auf eine Politik des kleineren Übels – reduziert, während die Perspektive des Kampfes um eine Veränderung der jetzigen Kräfteverhältnisse und um einen politischen Richtungswechsel verschwindet.

Gegenüber diesen beiden Flügeln vertritt die Mehrheit der Partei nach wie vor die Auffassung, dass die PDS in den parlamentarischen Institutionen, aber auch darüber hinaus, für Auswege aus dem neoliberalen Wahnsinn kämpfen sollte. Zeitweilige Bündnisse mit anderen Parteien und die Kompromisse, die dabei notwendigerweise einzugehen sind, sollten – darin sind sich die meisten PDS-Mitglieder einig – immer wieder an den eigenen Zielen gemessen werden. Nur dann, wenn die Chance besteht, die jeweilige Kommune oder das jeweilige Bundesland gerechter, demokratischer und zukunftsfähiger zu gestalten, haben Regierungsbeteiligungen ihren Sinn.

Die Welt verändert sich rasch und in vielerlei Hinsicht nicht zum Guten. Kriege sind wieder alltäglich. Die Wirtschaft stagniert, und die Arbeitslosigkeit steigt. Die Sozialsysteme werden zu Lasten der Bedürftigen beschnitten. Die Kommunen sind mit ihren Finanzen am Ende. Doch es gibt Alternativen, die Gerechtigkeit, ein selbstbestimmtes Leben in Würde, im eigenen Lande, aber auch in den Beziehungen zwischen den Nationen wieder lebbar machen. Eine andere Welt ist und bleibt möglich.

Das gilt zunächst und ganz besonders für internationale Konflikte, die friedlich beigelegt werden müssen. Die Menschheit ist stark genug zur friedlichen Konfliktbewältigung. Auch wenn der Irak-Krieg nicht verhindert werden konnte, besteht kein Grund, unsere Anstrengungen nicht zu verstärken und unsere Kräfte nicht mit anderen zu bündeln, um neue Kriege zu verhindern. Und wir bleiben dabei: Krieg ist die falsche Antwort auf den Terror.

Genauso wie es Alternativen zur militärischen Gewalt gibt, so ist auch der von SPD und Grünen beschrittene Weg des forcierten Soziabbaus nicht alternativlos. Mit der »Agenda 2010«, die kein Reform-, sondern ein Unternehmerprogramm ist, wird Armut in Deutschland für ein Fünftel der Bevölkerung zum Normalfall. Statt den Sozialstaat immer weiter zu beschränken, sollten alle Gruppen und alle Einkommensarten an seiner Finanzierung beteiligt werden. Nicht Abbau, sondern Ausbau einer solidarischen Gesellschaft wäre das Leitthema einer zukunftsfähigen Politik. So sollten etwa Renten- und Krankenversicherung von allen für alle finanziert werden.

Wenn das Sparen ohne Vision zum Dogma wird, gibt es keine Zukunft. Das gilt für die Sozialabgaben, aber auch für die steuerfinanzierten Aufgaben des Staates. Wer heute in kaputten Schulen und zu großen Klassen lernen muss, erleidet Verluste für das ganze Leben. Wir wollen eine Gesellschaft, die nicht an ihren Kindern spart. Wir wollen Steuern, die gleiche Bildungschancen für alle möglich machen. Wer viel hat, muss viel einbringen. Die großen Vermögen und Unternehmensgewinne müssen deshalb endlich wieder zur Finanzierung der gesellschaftlichen Entwicklung herangezogen werden.

Die Steuereinnahmen müssen vor allem dorthin, wo die Menschen sind – in die Kommunen. Bankrotte Städte und Gemeinden sind eine Bankrotterklärung der Gesellschaft insgesamt. Das gilt für den Westen und noch mehr für den Osten der Republik, dessen Ausbluten nicht länger hinzunehmen ist. Und die staatlichen Gelder, die für Wirtschaftsförderung eingesetzt werden, müssen vor allem dorthin, wo tatsächlich Arbeitsplätze geschaffen werden, also zu den kleinen und mittleren Unternehmen. Sie sind das Herz eines interessanten Wettbewerbs, eines vielfältigen Wirtschaftslebens und regionaler, direkt mit dem Leben der Menschen verbundener Wirtschaftskraft.

Die angedeuteten Reformalternativen bieten Raum für kluges und kühnes Regierungshandeln dort, wo die PDS auf Landes- und kommunaler Ebene in der Verantwortung steht, aber auch für mutiges Agieren in der Opposition und in der Zusammenarbeit mit Gewerkschaften, Verbänden, Initiativen, alten und neuen sozialen Bewegungen. Wichtiger als kräftige systemoppositionelle Gebärden sind dabei Vorschläge, die dem argumentativen Kreuzfeuer anderer Parteien gewachsen sind, auch wenn sie – wie bei der Rente von allen für alle – auf einen fundamentalen Richtungswechsel hinauslaufen. Von der Angst, zu radikal zu erscheinen, sollte sich die PDS nicht schrecken lassen. Gleichwohl sollte sie sich immer fragen, ob denn die eigenen politischen Alternativen gegen sachliche Einwände bestehen können und ob sie den Wählerinnen und Wählern realistische Perspektiven eröffnen.

Die PDS muss, wenn sie bestehen will, ihren Gründungskonsens zeitgemäß fortschreiben und dabei auf jedweden falsch verstandenen Avantgardismus verzichten. Ohne einen starken, handlungsfähigen und von der ganzen Partei legitimierten Parteivorstand wird der unabdingbare Klärungsprozess kaum vollzogen werden können. Die PDS benötigt selbst wieder ein Flaggschiff, damit sie – bei aller Wertschätzung innerparteilicher Pluralität – wieder in der öffentlichen Arena mit überzeugenden Alternativen wahrgenommen wird. Zugleich braucht sie eine Erneuerung, die aus ihr selbst heraus wachsen muss. Dafür reichen die Potenziale in den Vorständen und bei den Berufspolitikern nicht aus. Wenn beides gelingt, wenn es wieder handlungsfähige Mandatsträger gibt und wenn die Kraft für einen neuen Aufbruch vorhanden ist, kann sich die PDS zu einer überzeugenden Linkspartei entwickeln, die sich den Sorgen der Menschen zuwendet und gegen die Tristesse der »Alternativlosigkeit« ihre Stimme erhebt.