Zur Wahlauswertung Europawahl 2004 und Landtagswahl Thüringen 2004
1. Gesamt
Wenn wir methodisch so tun, als wäre das Wahlergebnis Ausdruck dessen, was ein ideeller Gesamtwähler als Ergebnis wollte, dann hat dieser Gesamtwähler alles getan, um ein Stopp-Signal an die SPD und die Politik der Agenda zu senden.
a) Mit dem Wahlergebnis hat der GW eine klare Drohung in Richtung 2006 aufgestellt. Die SPD fährt dramatische Verluste ein, die jedoch nicht der CDU zu gute kommen. Darin drückt sich die berechtigte Einschätzung aus, dass in den Punkten, die der SPD übel genommen werden (vor allem die Sozial- und Arbeitsmarktpolitik), mit der CDU nichts besser würde. Der GW droht mit einem Regierungswechsel (jedoch nicht mit einer Alleinregierung der CDU!), gleichzeitig aber mit einem Aufstieg der Grünen in bislang ungekannter Stärke gegenüber der SPD, sowie mit einem Wiedereinzug der PDS. Die Grünen werden gewählt, weil man nicht mehr SPD, aber auch nicht CDU wählen will, sondern ein Signal für eine „weichere“ Regierungspolitik setzen will.
b) Im Osten besteht die Drohung in der Marginalisierung der SPD. Die PDS ist überall zweitstärkste Kraft, in Brandenburg sogar stärkste. Dabei wird auch an die PDS eine moderate Warnung ausgesprochen, in Gestalt der leichten Verluste dort, wo sie mitregiert (Meck-Pomm, Berlin).
c) Das Thüringer Ergebnis erhält zusätzlich die Drohung aufrecht, mit den nächsten Landtagswahlen eine 2/3-Mehrheit der Union im Bundesrat und damit die weitgehende Regierungsunfähigkeit von rot-grün herbeizuführen.
Kurz: unser ideeller Gesamtwähler hat jedes, aber auch wirklich jedes Mittel benutzt, um der SPD zu zeigen, dass sie nicht alternativlos ist und dass sie so nicht gebraucht wird. Dabei fährt er die Doppelstrategie, sowohl mit dem Regierungswechsel zu Union/FDP zu drohen als auch mit einer Konstellation, wo die SPD durch einen mehr als halb so starken Grünen Partner und durch eine PDS im Bundestag an die Kandare gelegt wäre, während der Ausweg rot-gelb ebenso versperrt wird wie dem Missverständnis vorgebeugt, eine noch unions-nahere Politik fände Akzeptanz.
Etwas prosaischer wäre anzumerken, dass die SPD-Wählerschaft vor allem in die Wahlverweigerung gegangen ist. Von den knapp 13 Mio. WählerInnen, die nicht mehr SPD gewählt haben, haben knapp 11 Mio. nicht gewählt (830.000 zur Union, 390.000 zu den Grünen, 490.000 zu „anderen“, 220.000 zur PDS, 60.000 zur FDP – die Nettoverschiebung habe ich nicht vorliegen). In Thüringen sieht das so aus: von 56.000 nicht-mehr-SPD-WählerInnen haben 32.000 nicht mehr gewählt, 15.000 sind zur PDS gewandert, je 3 zu Grünen, FDP und „anderen“, 0 (!) zur CDU.
2. PDS
Der PDS ist zweifellos ein beeindruckendes Comeback gelungen. Sie hat in West wie Ost gewonnen, mit Ausnahme der Mitregierungs-Länder, und auch dort ist sie nicht abgestraft worden, sondern nur moderat gewarnt. Sie hat in West wie Ost psychologisch bemerkenswerte Hürden durchbrochen (30,8 % in Brandenburg und 25,3 % in Thüringen; 3,7 % in Bremen, über 2 % in NRW, Hessen und Saarland). Was der ideelle Gesamtwähler der PDS mitteilt, liest sich in etwa so: 1. Regierungsverantwortung der PDS auf Länderebene geht in Ordnung, aber nicht um jeden Preis, wobei die kritische Linie noch nicht überschritten ist (Ergebnis Berlin, Meck-Pomm.); 2. Die PDS hat nur als gemeinsames Ost-West-Projekt eine Chance. Auch die 5,3 Mio. Ost-Stimmen (Berlin halbe-halbe gerechnet) reichen nur für 4,6 % bundesweit, wohingegen eine isolierte Westlinke statt der 1,9 % PDS West-Ergebnis satte 6,24 % im Westen bräuchte, um bundesweit 5 % zu schaffen (eine reine Ost-PDS bräuchte 25, 22 % im Osten, statt der aktuellen 23,16 %).
Man vergisst immer gern mal, dass die 5,26 Mio. abgegebenen Stimmen Ost ziemlich genau den abgegebenen Stimmen NRW entsprechen. Entsprechend erzielte die PDS die stärksten Stimmengewinne in absoluten Zahlen in NRW (+ 36.000), vor Thüringen (+ 28.000) und Brandenburg (+ 16.000). Umgekehrt deutet nichts darauf hin, dass eine westlinke Liste auch nur in die Nähe der 5 % kommen könnte, selbst zum Zeitpunkt maximaler Unzufriedenheit mit der SPD und mit der Freiheit einer „symbolischen“ Wahl, die hauptsächlich als nationales Signal verwendet wird und der wenig materielle Konsequenzen beigemessen werden.
Die PDS hat davon profitiert, dass sie diesmal breite Zugänge bot. Sowohl Reformlinke als auch radikale Linke in der PDS konnten sich auf der Liste gut vertreten sehen, ebenso das parteiunabhängige Umfeld. Das galt auch inhaltlich. Auch hier dürfte die Mitteilung zu entnehmen sein, dass es nur genau so geht an der Wahlurne.
Der Vorstandswechsel 2003, der im Westen weitgehend als „konservativer Coup“ verarbeitet wurde, wurde sowohl durch die Zusammenstellung der Liste als auch durch die klaren Aussagen zu EU-Verfassung und EU-Militarisierung ausgebügelt. Weder schlug der „Berlin-Faktor“ massiv zu – in der Wählerschaft ist durchaus klar, wie gering die realpolitischen Spielräume mitunter sind – noch liefen der PDS scharenweise enttäuschte SPD-lerInnen zu, nur um ihren Protest auszudrücken. Die PDS funktioniert als reale Alternative, nicht als Protestpartei.
3. Wahlinitiative
Die Wahlinitiative für Tobias Pflüger hat ihr Ziel erreicht und positiv zum Ergebnis beigetragen. Dafür sprechen: das gute Wahlergebnis im Westen; der absolute Gewinn von 10.000 Stimmen in Ba-Wü (prozentual verdeckt durch die ausnehmend hohe Wahlbeteiligung aufgrund paralleler Kommunalwahlen); die 4,8 % in Tübingen; m.E. auch das sehr gute Ergebnis im Saarland, wo die Initiative stark wahrgenommen und verfolgt wurde. Es sprechen dafür auch viele positive Rückmeldungen an Tobias, auch per mail (sowie die schlechte Laune der grünen Ba-Wü-Vorsitzenden nach Lektüre der UnterstützerInnen-Liste). Allgemein war die Rückmeldung, dass das Unterfangen „TP kandidiert auf und für die PDS-Liste“ als glaubwürdig akzeptiert wurde. Tobias sieht auch starke Anteile am NRW-Ergebnis, wo vor allem das migrantische Umfeld sich positiv auf die Kandidatur bezog.
Dies gilt es jetzt zu halten. Die Initiative muss nach der Wahl zeigen, wie sie sich eine stärkere und verpflichtendere Kommunikation zwischen Bewegung und Mandatsträger vorstellt und dass dies funktioniert.
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Insgesamt zeigt die Wahlanalyse wieder einmal mit allem Nachdruck: Der Wähler ist nicht blöd, der Wähler wählt nicht irgend was. Er setzt seine Signale relativ präzise, wozu auch die Wahlbeteiligung gehört (und die Zahl der ungültig abgegebenen Stimmen, die diesmal recht hoch lag offenbar mit 2,4 %, wenn ich richtig rechne). Die Drohung, die Richtung 2006 ausgesprochen wird, darf dabei noch nicht als Fakt missverstanden werden.
Für die Linke zeigt das Ergebnis ein strategisches Dilemma auf. Eine linke Wahlalternative kann offenbar dort, wo sie sich auf bekannte, glaubwürdige Kandidaten stützen kann, beachtliche Erfolge erzielen (siehe die 6 % der „Perspektive“ in Chemnitz). Flächendeckend ist dies jedoch nicht denkbar. Zu klar zeigt das Ergebnis, dass nicht einfach „Protest“ gewählt wird, wie die populistische Wählerschelte es so gern behauptet. Es zeigt auch, dass Wahlkämpfe nur einfahren können, was in den 2 Jahren vorher angelegt wurde.
Damit stellt sich hinsichtlich 2006 das Problem: eine linke Wahlalternative hat keine realistische Chance, es wird sie aber vermutlich zumindest regional geben. Auch breite, offene PDS-Listen können dagegen das Potenzial derer nicht auffangen, die sich als Funktionsträger etc. von der SPD abwenden; sie können auch nicht als Plattform für die Breite der Bewegungs-Funktionäre dienen. Somit besteht die Gefahr, dass eine gespaltene Linke den Einzug ins Parlament verfehlt. Ob die sich objektiv aufdrängende Lösung, als Listenbündnis zwischen PDS-geführten Landeslisten Ost und unabhängigen Landeslisten unter Einschluss der PDS West zu kandidieren (was dann übrigens auch eine Fraktion ohne Fraktionszwang, mit teilweise getrennten Strukturen und eine Entbindung der PDSlerInnen auf Westlisten von der Weisung der Gesamtpartei zur Voraussetzung hätte!), subjektiv eine Chance auf Durchsetzung hat, ist die Gretchenfrage schlechthin im Moment.