Beitrag zu den Thesen der Rosa-Luxemburg-Stiftung für das Seminar „Reform oder Revolution? Gesellschaftliche Konflikte, Konzepte, Akteure, Strategien des Kampfes gegen den Neoliberalismus“, Rio de Janeiro, Juni/Juli 2004
Bei diesen Texten handelt es sich um Arbeitsübersetzungen für den Seminargebrauch. In einer mehrsprachigen Buchpublikation, die weitere Texte umfassen wird und zum nächsten WSF in Porto Alegre vorgelegt wird, werden die Beiträge in ihrer Endfassung publiziert.Wir bitten darum, die Texte bis dahin nicht zu zitieren.
Der im Zukunftsbericht der Rosa-Luxemburg-Stiftung dargelegte und von Dieter Klein, Michael Chrapa und Rainer Land entwickelte Begriff des „Entwicklungspfades“ ist heute der ambitionierteste und leistungsfähigste Versuch, die klassischen Dilemmata von Reform und Revolution, Klassenkampf und demokratischer Transformation, Fundamentalkritik und Realpolitik etc. zu bearbeiten (auch etwa die Problematik, dass z.B. im Kapitalismus jede parzielle Veränderung entweder systemimmanent funktional wirkt oder scheitern muss, so dass jede graduelle Transformation unmöglich erscheint). Das Konzept der Entwicklungspfade geht davon aus, dass gesellschaftliche Entwicklung sich nicht bruchlosevolutionär vollzieht, dass sich diese Entwicklung aber nicht in ein teleologisches Raster pressen lässt (wie in der klassischen marxistischen Formationstheorie) und dass der Übergang zu einem gesellschaftlichen Strukturmodell Gegenstand einer Wahl ist, also weder zwangsläufig noch vorgegeben. Zum gleichen historischen Zeitpunkt und zum gleichen Stand der gesellschaftlichen Produktivkraftentwicklung kann es unterschiedliche Entwicklungspfade geben, wie etwa den des demokratischen Wohlfahrtskapitalismus und den der staatssozialistischen Gesellschaften nach dem Zweiten Weltkrieg. Ein Entwicklungspfad ist „the next big thing“ – ein kollektiver Versuch, die Widersprüche und Dysfunktionen des bisherigen gesellschaftlichen Strukturmodells zu überwinden und sich dafür neue einzuhandeln. Ein Entwicklungspfad hat eine Jugend, eine vollentwickelte Phase, schließlich altert er. Ein Entwicklungspfad bleibt dynamisch und voller Widersprüche, aber solange er funktioniert, bleiben diese Widersprüche und Dynamiken innerhalb seines gesellschaftlichen Strukturmodells. Die Zukunft ist nicht festgelegt, sie ist machbar, aber sie tritt nur ein in Gestalt eines neuen, 9 möglichen Entwicklungspfades – und dass er möglich ist, ist sowohl eine ökonomische als auch eine politische Frage, eine objektive wie eine subjektive, eine Frage von Alltagshandeln wie von wirtschaftlichen Regulatorien. Auf der Ebene der Formen des Politischen entspricht dem Entwicklungspfad das „politisches Projekt“ – ein sehr breites gesellschaftliches Bündnis für einen bestimmten Entwicklungspfad. Das politische Projekt ist eine Koalitionsbildung, die bewusstes wie unbewusstes Zusammenwirken beinhaltet, Elemente ideologischer Übereinstimmung wie das Zusammenspiel unterschidelich interessengeleiteten Handelns – es ist das Angebot eines möglichen Kompromisses, auf dem ein neues Strukturmodell gegründet sein kann. Die Breite dieser Koalitionsbildung übersteigt Bewegungen, Strömungen, Parteien; sie übersteigt auch Klassen und Eliten, baut verschiedene Fraktionen und Teilgruppen zusammen, usw. Das politische Projekt ist der Gegenstand von gesellschaftlicher Hegemoniebildung. Das idealtypische Modell eines politischen Projekts ist das neoliberale Projekt, welches das keynesianische Projekt abgelöst hat.