Publikation Soziale Bewegungen / Organisierung - Krieg / Frieden - Westasien - Libanon / Syrien / Irak - Westasien im Fokus «Ein Syrien der Zukunft muss ein föderales Syrien sein»

Interview mit Assad Al Achi über die Rolle der Opposition, die Strategien des Regimes sowie über seine persönliche Vision für ein zukünftiges Syrien.

Information

Reihe

Online-Publ.

Autorin

Miriam Younes,

Erschienen

August 2017

Demonstration für eine Flugverbotszone in Syrien, Berlin 2015. #ClearTheSky in Berlin, CC BY-NC 2.0, Leif Hinrichsen/flickr

Assad Al Achi ist geschäftsführender Direktor von Baytna Syria[1], einer syrischen Nichtregierungsorganisation mit Sitz in Gaziantep (Türkei). Mit ihm sprachen Miriam Younes, Leiterin des Beiruter Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) und Mohamad Blakah, Praktikant bei der RLS.

Wie verlief Ihr persönlicher Weg seit 2011?

Ich habe im Jahre 2011 angefangen, mich für die syrische Revolution zu engagieren. Bis Ende 2014 war ich vor allem in den lokalen Koordinierungskomitees[2] aktiv, erst als ihr offizieller Sprecher, später als Leiter des Nothilfebüros.

Am Anfang der Revolution ging es vor allem darum, Material und Geräte, die für die Demonstrationen benötigt wurden, zu besorgen, wie z.B. Kameras, Satellitentelefone und internetfähige Geräte, und diese nach Syrien zu schicken, damit die Komitees sich untereinander koordinieren können. Von Ende Oktober 2011 wurde ich dann für ein Jahr Mitglied im „Syrischen Nationalrat“[3]. In dieser Zeit hatte sich die „Nationale Koalition“[4] gegründet. Souheir Atassi, Ghassan Haytou und ich wurden beauftragt, die „Nothilfekoordinationseinheit“ der „Nationalen Koalition“ zu gründen, wo ich drei Monate tätig war. Nachdem meine Arbeit für die Koalition beendet war, habe ich nur noch für die lokalen Komitees gearbeitet und war dort vor allem im Bereich der Interessensvertretung tätig.

2014 bin ich nach Gaziantep gezogen und habe dort die Nichtregierungsorganisation „Baytna Syria“ gegründet, für die ich seitdem als geschäftsführender Direktor arbeite. Unser Fokus liegt auf der Unterstützung von anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen.

Wer sind Ihrer Meinung nach die aktivsten Oppositionsgruppen innerhalb Syriens?

Es gibt verschiedene oppositionelle und militärisch aktive Gruppen und alle haben unterschiedliche Rollen – nicht nur eine Rolle. Die meisten Fraktionen der „Freien Syrischen Armee“ (FSA) kämpfen an drei Fronten: gegen das Regime, gegen den IS und gegen die Kurden bzw. die „Demokratischen Kräfte Syriens“ (DKS)[5]. Der Kampf gegen die DKS ist im Moment eingestellt, aber die Kämpfe gegen das Regime und den IS dauern an. Der Kampf gegen das Regime sollte eigentlich eingestellt sein, weil es Verhandlungen über eine Waffenruhe gibt, aber in der Realität hat das keine Gültigkeit. Das Ausmaß an Gewalt ist weniger geworden, aber der Krieg wird fortgesetzt. Der gewaltvollste Kampf ist der gegen den IS, sei es von der Stadt Al-Bab aus, oder vom Süden, oder an der Front der DKS in Richtung Deir el Zor und Raqqa.

Was ist die Rolle der syrischen politischen Opposition heute und was ist ihre Strategie?

Die Strategie der syrischen Opposition wurde in London im Juni 2016 verkündet. Sie haben einen Plan und ein Strategiepapier ausgearbeitet, in dem sie ihre Sichtweise auf den Krieg in Syrien darlegten. Es ist eine klare Strategie, ausgehend von einem politischen Übergangsprozess. Die Opposition hält fest an einem politischen Übergang ohne Baschar al-Assad, d.h. Assad nimmt an den Verhandlungen teil, die laut der Opposition sechs Monate dauern sollen. Nach diesen sechs Monaten wird eine Übergangsregierung gebildet, auf die sich das Regime und die Opposition geeinigt haben, aber ohne Assad. Diese Regierung bleibt 1,5 Jahre an der Macht. In dieser Zeit wird eine neue Verfassung entworfen sowie Parlamentswahlen und Präsidentschaftswahlen vorbereitet. Hier endet die Übergangsphase. Es ist schwer, von der Opposition als einer Einheit zu sprechen, aber dies ist die Strategie des „Hohen Komitees der Verhandlungen“[6], in dem etwa 80–85% der syrischen Opposition vertreten sind.

Gleichzeitig hat die syrische politische Opposition keinerlei Macht über irgendeine der militärischen Gruppen innerhalb Syriens. Und in diesem Sinne hat sie auch keinen Einfluss auf die Situation im Land. Das „Hohe Komitee der Verhandlungen“ begründet seine Macht durch verschiedene militärische Fraktionen, und das Gute an dem Komitee ist, dass diese militärischen Gruppen im Komitee vertreten sind, d.h. sie sind Teil des Komitees und Teil der Delegation, die momentan in Genf ist. Hat sie irgendeine Entscheidungskraft? Natürlich hat sie die und die einfachste Entscheidung ist die des Vetos… Das ist die Karte in der Hand der Opposition und sie haben sie bereits ein paar Mal gespielt - in den letzten Verhandlungen hat die Opposition mehr als einmal den Verhandlungstisch verlassen. Aus diesem Grund ist Genf 3 nach der militärischen Eskalation in Aleppo und Ost-Ghouta gescheitert.

Was ist Ihrer Meinung nach eine positive Wirkung der Aufstände von 2011?

Trotz allem Negativen, das wir heute sehen, gibt es einige Hoffnungsschimmer, vor allem die Entwicklung einer Zivilgesellschaft. Es haben sich sehr viele unterschiedliche Organisationen gegründet und sie werden ausschlaggebend sein für Stabilität und Frieden in einem Syrien der Zukunft. Es hat sich eine Struktur gebildet, auf der man aufbauen kann, und das lässt sich meiner Meinung nach nicht mehr zerstören. Diese neuen Strukturen der Zivilgesellschaft werden die Säulen von Stabilität und Frieden bilden, sie sind die Garantie für ein demokratisches Syrien. Ich sehe sie als eine sehr langfristige Investition in die Zukunft, vielleicht sehen wir ihre Früchte erst in zehn oder 15 Jahren, aber ich denke, das, was wir da aufbauen, ist ein Hoffnungsschimmer für Syrien.

Was ist die derzeitige Strategie des syrischen Regimes?

Die Strategie des Regimes hat sich seit 2011 nicht geändert, es ist eine Strategie des Wartens, des Wartens darauf, dass die Umstände für das Regime besser werden. Das war die Strategie von Hafiz al-Assad und Baschar al-Assad setzt sie fort. Am Anfang der Revolution hat Baschar al-Assad gewartet und gewartet und dann eine Rede gehalten über die Terroristen, Salafisten, Jihadisten etc. Er hat diese Rede immer wieder gehalten, bis sich ihr Inhalt in Syrien selbst verwirklicht hat. Und er hat natürlich daran mitgewirkt durch die Entlassung der Islamisten aus dem Gefängnis von Sidnaya. So hat er diese islamistischen Gruppen und Bewegungen, die wir heute sehen, ein Stück weit selbst geschaffen. Der Aufstand, der anfing als ein Aufstand eines Volkes gegen sein Regime, ein Aufstand für Freiheiten und Rechte, wurde von Seiten des Regimes zu einem Kampf gegen Terroristen. Dieser dominiert die Medien bis heute.

Auch militärisch verfolgt das Regime eine ähnliche Strategie: die Stellung halten und angreifen, wenn die Situation es erlaubt. Es ist eine „Politik des Beißens“. Das Regime geht keine großen militärischen Auseinandersetzungen ein, es „beißt“ vielmehr kleine Stücke von Regionen ab und übernimmt dort wieder die Kontrolle, die es 2012 und 2013 verloren hat. Wir haben diese Strategie von Anfang an gesehen in Homs und im Dezember 2016 auch in Ost-Aleppo. Und natürlich basiert die Kampfkraft des Regimes vor allem auf ausländischen Kämpfern. Ohne die iranische Unterstützung und die russischen Luftangriffe wäre das Regime schon lange zusammengebrochen.

Wie sehen Sie die Rolle der internationalen Gemeinschaft in den letzten Monaten?

Die internationalen Allianzen haben sich in der letzten Zeit ständig geändert - und das in einer unglaublichen Geschwindigkeit. Wenn wir uns die Welt heute anschauen, dann ist sie grob in zwei Lager aufgeteilt: ein Lager, das sich die „Freunde des syrischen Volkes“ nennt unter der Führung der USA steht, und mit ihnen die Europäische Union, die Golfstaaten und die Türkei. Das andere Lager besteht aus den „Freunden des Regimes“: Iran und Russland ganz vorne, außerdem China und die BRICS-Staaten, sei es Brasilien, Venezuela oder Indien. Die Freunde des Regimes haben viel mehr in das Regime investiert als die Freunde der Revolution in die Revolution, sei es durch Waffen, Geld, Unterstützung oder Erfahrung. Russland und Iran haben alles daran gesetzt, dass das Regime an der Macht bleibt, während die Freunde der Revolution immer einen Schritt vorwärts gingen und dann wieder einen zurück. Die USA zum Beispiel zögerten ständig und dieses Zögern wirkte sich negativ auf die syrische Revolution aus. Obama wollte die Opposition einerseits unterstützen, andererseits zögerte er, wenn es darum ging, Entscheidungen zu treffen, und so endete vieles in leeren Versprechungen.

Die Entwicklungen in Syrien haben die verschiedenen Staaten dazu gebracht, ihre Sichtweise noch einmal zu überdenken, da sich die Polarisierung auf internationaler Ebene zugespitzt hat. Auch die Türkei hat ihre Position nach dem Putschversuch im letzten Jahr geändert und ist zu einer Politik zurückgekehrt, in der es vor allem um die Vermeidung von Konflikten geht, wie sie es bereits vor der Revolution getan hat. Man vermeidet Konflikte mit allen Ländern der Region wie Iran, Irak, Russland, Syrien, Bulgarien, Griechenland etc. Nach dem Ausbruch der syrischen Revolution entwickelte sich die Türkei zum zentralen Exilland für die politische Opposition sowie zu dem Land, durch das die syrische Opposition an Waffen, humanitäre Hilfe und Unterstützung gelangte. Anstatt Konflikte zu vermeiden, hat die Türkei seit 2011 eine Politik verfolgt, in der sie fast in eine direkte militärische Auseinandersetzung mit Russland verwickelt wurde. Nach dem Putschversuch hat sich diese Politik wieder verändert. Damit meine ich nicht, dass die Türkei wieder Beziehungen zu Assad aufbaut, das ist unmöglich, aber sie will die Beziehungen eher in eine Art kalten Krieg verwandeln und keine Fronten und militärischen Angriffe mehr. Die Priorität der Türkei liegt nun auf ihrer eigenen nationalen Sicherheit und diese Sicherheit ist ihrer Meinung nach von zwei Seiten bedroht: den Kurden (der DKS) und dem Islamischen Staat (IS). Ihr Fokus liegt momentan darauf, diese beiden Bedrohungen einzudämmen.

Und die USA? Momentan haben wir einen quasi Wahnsinnigen als Präsidenten der USA, und von ihm kann man so ziemlich alles erwarten. Er widerspricht sich ständig, es ist klar, dass er nicht weiß, was er wirklich will. Viele Syrer warten darauf, dass Trumps Politik im Hinblick auf Syrien klarer wird, aber bisher warten sie vergeblich. Die USA kümmert sich um andere Themen.

Was sollte die Rolle von linken Akteuren in Bezug auf Syrien sein?

Das Problem mit vielen linken Gruppen ist, dass Assad immer noch häufig innerhalb eines festgelegten Rasters betrachtet wird: als Symbol des Widerstandes, des Boykotts und des Kampfes gegen den Imperialismus. Der Syrienkonflikt wird oft nur unter diesem Blickwinkel betrachtet. Und dementsprechend ist, wenn die USA eine Seite in diesem Konflikt unterstützt, diese Seite das ultimativ Böse, und die Seite in dem Konflikt, die gegen die USA kämpft, ist die richtige. Das ist klassisches Lagerdenken. Und solange die Linke in diesem Lagerdenken verharrt, sehe ich für sie keine positive Rolle in diesem Konflikt. Für mich fühlt es sich wie Verrat an: Werte der sozialen Gerechtigkeit, der Demokratie und des Pluralismus werden groß auf die Fahnen geschrieben. Aber als wir versucht haben, genau diese Werte in Syrien durchzusetzen, wurde es als Imperialismus abgeschrieben. Und dadurch stehen viele Syrer der Linken sehr ablehnend gegenüber.

Was ist Ihre eigene politische Vision für Syrien?

Ich denke, dass eine Rückkehr eines Zentralstaates in Syrien etwas quasi Unmögliches ist, und nicht nur das, ich glaube auch, dass eine solche Rückkehr schädlich wäre. Ich bin für einen Übergang zu einem dezentralisierten Staat, möglicherweise einer Art Föderalismus, ich habe keine Angst vor diesem Wort. Es gibt viele positive Beispiele des Föderalismus: die USA, Deutschland, oder, in der arabischen Welt, die Vereinigten Arabischen Emirate. Ich denke, ein Syrien der Zukunft muss ein föderales Syrien sein, mit einer klaren und gerechten Aufteilung von Macht und Ressourcen. Ein pluralistisches System, offen und tolerant dem Anderen gegenüber, Religionen, Konfessionen, Ethnien etc. Es ist unmöglich, dass ein solcher Staat ein religiöser Staat sein kann, aufgrund der herrschenden Pluralität in Syrien kann das nicht funktionieren. Wir können diesen Staat weder „Syrische Arabische Republik“ noch „Syrische Islamische Republik“ nennen. Der Staat muss eine neutrale Rolle in Hinblick auf Religion und Ethnien haben, basierend auf Glaubens-, Religions- und Meinungsfreiheit. Das ist meine Vision für ein unabhängiges Syrien der Zukunft. Dies sind die Faktoren, die zu einer Kontinuität führen. Solange wir diese Faktoren nicht vorfinden, werden wir einen ewigen Konflikt führen.


[1]          Baytna Syria ist eine syrische Nichtregierungsorganisation, deren Ziel es ist, eine Plattform für syrische Zivilgesellschaft innerhalb und außerhalb Syriens zu schaffen. Mehr zu Baytna Syria unter: baytnasyria.org/en/home/.

[2]          Die lokalen Koordinierungskomitees sind Anfang der syrischen Revolution 2011 in verschiedenen Städten Syriens entstanden. Sie organisierten anfänglich vor allem Proteste und dokumentierten die Gewalt des Regimes. Im Laufe der Revolution haben sich einige Komitees immer mehr zu lokalen Selbstverwaltungseinheiten entwickelt und auch die Koordinierung untereinander verstärkt.

[3]          Der „syrische Nationalrat“ wurde 2011 in Istanbul gegründet und hat das Ziel, die syrische Opposition zu einen. Der Nationalrat unterstützt die Freie Syrische Armee.

[4]          Die „Nationale Koalition der syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte“ wurde im November 2012 in Doha in Katar gegründet. Sie vereint verschiedene Oppositionsbündnisse, unter Anderem den Nationalrat, erfährt aber auch Ablehnung, wie z.B. von der PYD.

[5]          DKS ist eine Koalition zwischen den kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) und einigen arabischen Stämmen und Clans.

[6]          Das „Hohe Komitee der Verhandlungen“ ist ein Zusammenschluss syrischer oppositioneller Kräfte, das die Opposition in den Verhandlungen von Genf 2016 vertritt.