Während man Europas kulturelle Wiege Griechenland gern als die „älteste Demokratie der Welt“ bezeichnet, nennt man Indien häufig die „größte Demokratie der Welt“. Gut über eine Milliarde Menschen (ca. ein Siebtel der Weltbevölkerung) leben in der Vielvölkernation. Meist wird das bevölkerungsreiche Land dabei von seinem großen Nachbarn und Rivalen China publizistisch positiv abgesetzt, dem unterstellt wird, dass dort demokratische Institutionen wenig verankert seien. Wie aber ist es mit der »Dēmos Kratía« (‚Herrschaft des Volkes‘) z.B. Indiens bestellt, wenn das Land beim „Human Development Index“ (HDI) auf Rang 134 (von 187) ausgewiesen wird.1 Während der Anteil hungernder Kinder ein problematisches Bild auf die Ernährungssituation in ganz Südasien wirft, behauptete Indiens Innenminister P. Chidambaram: „Den Hunger haben wir fast überall in Indien besiegt“ ,2 und bewies damit erneut die verehrende Ignoranz staatlicher Stellen. Dies wird auch an dem Prozess um die Einführung eines „National Food Security Bill“ deutlich, der bis heute nicht verabschiedet werden konnte. Dabei gelten nach Angaben der FAO weit über 200 Millionen Inder_innen als unterernährt. Geht man von der notwendigen Mindestaufnahme von Kalorien aus (2.200 für städtische, 2.100 für ländliche Gebiete), dann entspricht die Anzahl derjenigen, die sich eine solche tägliche Kalorienaufnahme nicht leisten können, der gesamten europäischen Bevölkerung. Ist ein demokratisches System vorstellbar, in dem das Wahlvolk körperlich vor Hunger zu schwach ist, den Stimmzettel in die Urnen zu schieben?
John P. Neelsen zeichnet in seinem Text die Entstehung der Idee der Menschenrechte nach und zeigt ihre Verortung zwischen Marktwirtschaft und Mehrparteiendemokratie auf. Vieles, was uns in den Ländern der westlichen Demokratie ‚normal‘ erscheint, ist in Staaten der kapitalistischen Peripherie keineswegs Standard. Hier hat die demokratische Entwicklung teils andere Wege eingeschlagen.
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Inhalt
I. DEMOKRATIE ZWISCHEN VOLKSHERRSCHAFT UND KLASSENANTAGONISMUS
1. Rechtsherrschaft und Friedfertigkeit
2. Demokratie und Marktwirtschaft
3. Demokratie und gesellschaftliche Evolution
II. DEMOKRATISCHER AUFBRUCH IN SÜDASIEN
1. Die aktuelle Situation
2. Politische Herausforderungen und koloniales Erbe
III. JANUSKÖPFIGE AUSWIRKUNGEN DER VOLKSHERRSCHAFT
1. Aufstieg der traditionell Deklassierten
2. Kulturelle Entkolonialisierung
3. Tyrannei der Mehrheit
4. Vom „nation-building“ zum exkludierenden „kulturellen Nationalismus“
IV. PRÄVALENZ DER EXEKUTIVE UND DES ZENTRALSTAATS – SCHWÄCHE DER PARTEIEN
1. Historische und strukturelle Bedingungen
2. Ausdifferenzierung der Parteienlandschaft
3. Demokratiedefizite
V. KOMMERZIALISIERUNG UND KRIMINALISIERUNG
1. Privatisierung der Gewalt, Kriminalisierung der Politik
VI. UNGLEICHHEIT UND UNGLEICHZEITIGKEIT IN PERIPHEREN GESELLSCHAFTSFORMATIONEN
1. Grundzüge des peripheren Kapitalismus – strukturelle Heterogenität
2. Interessenartikulation – zwischen Klassen-und „ursprünglichen“ Identitäten