Wenn es einen Begriff gibt, den man nach der Lektüre von Jörg Magenaus Geschichte der tageszeitung nun wirklich nicht mehr hören kann, ist es der des alternativen Bürgertums. Kaum eine der gut 260 Seiten lässt er aus, um ihn nicht wenigstens einmal fallen zu lassen. Keine Entwicklung der Zeitung, kein Konflikt, keine richtungsweisende Entscheidung, die nicht darauf hinaus liefe, ebendieses Bürgertum zu formieren, ihm zum Durchbruch zu verhelfen oder seiner Bedeutung für die Entwicklung der Bundesrepublik gewahr zu werden. Von den "postmaterialistischen Werten" zum moralisch korrekten Konsum: Mit der Verabschiedung vom Klassenkampf und der Thematisierung der Eigentumsverhältnisse hat sich eine maßgebliche Fraktion der Linken in der Bundesrepublik nach 1968 von der Infragestellung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung verabschiedet und sich selbstbewusst zum neuen Bürgertum erklärt. Die taz war dabei ihr Experimentierfeld. So Magenaus Tenor - freilich mit positiver Konnotation.
Die Geschichte der Zeitung von den Initiativgruppen bis zur Genossenschaft, vom politischen Projekt aus der Alternativbewegung bis zum Profijournalismus, vom Anspruch, Gegenöffentlichkeit zu schaffen, bis zum "Gemeindeblatt" des grün-alternativen Spektrums ist weitgehend bekannt. Interessant sind gerade deshalb die Zwischentöne eines solchen Abrisses, die Gewichtung: Wer wird in die Fußnoten verbannt? Mit welchen ehemaligen oder jetzigen Akteuren werden Interviews geführt? Wer taucht überhaupt nicht auf?
Zudem tritt die Bedeutung von Geschichtsschreibung als Interpretationsleistung politischer Prozesse zutage: Magenau hält sich nicht zurück mit seiner Einordnung der taz als "Heimkehrer-Projekt", das im Anschluss an den "Deutschen Herbst" die "Wiedereingliederung der radikalen Linken in die Gesellschaft" ermöglichte. Erzählt werden könnte auch eine andere Geschichte: Wo sind die, die sich von der taz abwandten, abgeblieben? Welche Strömungen, welche Positionen unterlagen im Richtungsstreit, an welchen Orten, von wem werden sie heute noch vertreten? Aus dem, was er unter den Tisch fallen lässt, könnte eine ganz andere Geschichte der taz entstehen.
Kritisch wird der Journalist Magenau da, wo es direkt ums Blattmachen geht. In Gegenüberstellung der Behandlung zeithistorischer Ereignisse stellt er dem Hohelied der Professionalisierung auch Misstöne der Verflachung der Berichterstattung entgegen. Während etwa 1986 bei der Katastrophe in Tschernobyl noch faktengesättigte Information und sachliche Berichterstattung überwogen, war die taz wie andere Medien auch nach dem 11. September 2001 einer allgemeinen "Hysterisierbarkeit" verfallen. Anderes Beispiel: Während der Internationalismus als eines der zentralen Themen der taz immer wieder zu einer kritischen Berichterstattung aus den verschiedensten Weltregionen beitrug, führte der Paradigmenwechsel zur "Globalisierung" in den Neunzigern zu einer zunehmend wohlstandschauvinistischen Sichtweise - auch in der taz. Unrühmlich für die taz, so Magenau, war schließlich auch ihr DDR-Experiment. Statt sich, wie noch in den Achtzigern als Sprachrohr osteuropäischer Dissidenten zu begreifen, ging es 1990 in dem halben Jahr Ost-taz lediglich um die schnelle Mark. 300.000 DM konnten so bis zur Währungsreform auf dem eigenen Konto verbucht werden.
Nebenbei wird noch mit hartnäckigen Mythen aufgeräumt, etwa dem der "Kriegsgewinnlerzeitung". Die taz erzielte zwar in Krisensituationen wie etwa dem Super GAU in der Ukraine immer wieder Kiosk-Spitzenverkäufe, die von 1987 bis heute gehaltene 60.000er Auflage wurde aber langfristig durch betriebliche Umstrukturierungen, eine umfassende Blattreform, technische Innovationen und nicht zu vergessen professionelle Werbekampagnen erreicht.
Für Magenau ist die taz zentraler Bestandteil der Erneuerungsbewegung des durch den Nationalsozialismus diskreditierten Bürgertums. Aus den Ruinen des "Deutschen Herbstes" aufgestiegen, gelänge es dem grün-alternativen Milieu eine hedonistische Lebensweise, gepaart mit moralischem Anspruch, durchzusetzen; allerdings befreit von der Infragestellung der bürgerlichen Gesellschaft.
Dass die Linke heute allerdings ganz andere Themen an völlig anderen Orten diskutiert, geht an der taz vorbei - was wiederum kaum jemand zu stören scheint - am wenigsten den Chronisten.
Jörg Magenau: Die taz. Eine Zeitung als Lebensform, Carl Hanser Verlag, München 2007, 280 Seiten, 21,50 Euro