Interview | Rassismus / Neonazismus - Globale Solidarität - Autoritarismus «Wir sollten uns nichts vormachen»

Wolfram Schaffar im Interview mit «maldekstra» über autoritäre Entwicklungen, die Krise der Demokratie und den Zusammenhang von kritischer Analyse und politischer Veränderung

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Wolfram Schaffar
«Im Fall der Fälle müssen die demokratischen Institutionen, die es gibt, verteidigt werden. Dafür braucht es dann eine nüchterne Abwägung, welche kurzfristigen strategischen Allianzen zu schmieden sind. Eine schwierige Balance.» Dr. Wolfram Schaffar

Wolfram Schaffar ist Politikwissenschaftler und beschäftigt sich vor allem mit den Themen Demokratisierungs- und Entdemokratisierungsprozesse, soziale Bewegungen, alternative Entwicklungskonzepte, Internet und soziale Medien. Er ist zur Zeit Fellow am International Institute for Asian Studies (IIAS) in Leiden, Niederlande. Außerdem ist er immer wieder im Ausland für Forschung und als Gastdozent tätig. Seit 2016 ist Wolfram Schaffar Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Mit ihm sprach Tom Strohschneider für maldekstra #4.

maldekstra: Schwerpunkte Ihrer wissenschaftlichen Arbeit waren bisher Länder in Südostasien wie Thailand und Myanmar oder China, auch haben Sie längere Zeit als Professor in Österreich gelehrt. Schaut man sich die genannten Staaten an, sind wir schon mitten im Thema: Es gibt dort mehr oder weniger deutlich autoritäre Entwicklungen.

Wolfram Schaffar: Das ist richtig, auch wenn man die Unterschiede nicht verwischen kann. Aber um beim Beispiel Thailand zu bleiben: 1997 war man doch noch ganz euphorisch, als die «Verfassung des Volkes» in Kraft trat. Inzwischen sind wir dort mit einem autoritären Regime konfrontiert, bei dem – bei aller Vorsicht – der Begriff «Faschismus» angebracht ist. Wenn ich dann heute frühere Kolleg*innen von dort im Exil, etwa in Paris, treffe, bekommt das auch eine persönliche Dimension, die mir nahegeht. Nach zwei, drei Jahren im Exil sind die Leute oft gebrochen.

Autoritarismus, Nationalismus, Postdemokratie, Entdemokratisierung, Illiberalisierung – es kursiert eine Vielzahl von Begriffen, um die zunehmenden politischen Krisen weltweit zu beschreiben. Welchem geben Sie den Vorzug bei der Analyse?

Es gibt keinen analytisch exakt passenden Begriff. Die Situation, über die wir hier sprechen, ist eine, die von ganz unterschiedlichen Entwicklungen geprägt ist. Wenn man diesen Unterschieden wissenschaftlich gerecht werden wollte, müsste man versuchen, der überall sichtbaren Krise der Demokratie mit einem ganzen Korb analytischer Kategorien beizukommen. Das führt aber zu einer Situation, die einen politisch eher lähmt, weil man zu Aussagen kommt wie: Die Welt ist komplex. Für ein kritisches Denken, das auch zur Veränderung der Verhältnisse befähigen soll, ist das ein Problem.

Wie war das in den 1920er und 1930er Jahren?

Damals wurden unter anderem die Begriffe «Bonapartismus» und «Faschismus» geprägt, um autoritäre Dynamiken zu beschreiben. Das Regime von Louis Bonaparte lag aber 60, 70 Jahre zurück und «Faschist» war seinerzeit eine Selbstbeschreibung italienischer rechter Kampfverbände, der «Fasci di Combattimento». Was uns heute als wohl definierte analytische Kategorien erscheint, geht also zurück auf anachronistische und unbeholfene Begriffe, mit denen man damals gerungen hat, um eine Radikalisierung zu beschreiben, die sich den Vorstellungen von der erwartbaren politischen Entwicklung entzog.

Es waren also eher politische denn wissenschaftliche Begriffe.

Damals dienten Kategorien wie «Faschismus» dazu, die unerwartete Wende in der Weltgeschichte fassbar zu machen und gleichzeitig Gegenkräfte zu mobilisieren. Wenn man das auf heute bezieht, geht es also auch eher darum, einen Begriff zu prägen, der zum politischen Handeln befähigt, also mobilisierungs- und strategietauglich ist.

Das politische Handeln, von dem Sie sprechen, hat mindestens einen Bezugspunkt: Es soll verhindern, dass etwas in Gefahr gerät, verschwindet, zurückgeht. In unserem Fall ist das die Demokratie, aber auch hier stellt sich ja gleich die Frage: Was für einen Begriff haben wir davon, welchen haben andere?

Im Umfeld der Rosa-Luxemburg-Stiftung spielt die kritische Debatte über Demokratie eine wichtige Rolle. Kolleg*innen wie Alex Demirović, Mario Candeias, Fritz Burschel, Sonja Buckel oder David Salomon haben sehr differenzierte Analysen der Demokratie vorgelegt: Auf der einen Seite als eine bürgerliche Herrschaftsform, die sich der Durchsetzung des Kapitalismus verdankt, die aber auf der anderen Seite nicht bloß ein kapitalistisches Herrschaftssystem darstellt. Demokratie ist die einzige Form, in der Interessenausgleiche innerhalb des Kapitalismus möglich sind, innerhalb von und zwischen den Klassen. Die Frage ist: Wie kann man – vor dem Hintergrund dieser Kritik – über eine (neo-)liberale Form der Demokratie hinausgehen, ohne das progressive Potenzial, die erreichten Formen eines liberalen, Menschenrechte akzeptierenden Systems aus den Augen zu verlieren?

Man hat sozusagen zwei Fronten.

Ja, einerseits stimmt immer noch die Kritik an der real existierenden Demokratie: Sie wird ihrem eigenen Anspruch nicht gerecht, und das hat etwas mit den ökonomischen Verhältnissen zu tun, denen sie wiederum ihre Existenz verdankt. Die Aushöhlung der Demokratie beginnt im Augenblick ihrer Durchsetzung, das hat schon Johannes Agnoli in seiner «Transformation der Demokratie» in den 1960er Jahren beschrieben. Es gibt eine eingeschriebene Tendenz der Erstarrung zu einem bloß noch formalen, liberal aussehenden System. Gleichzeitig wäre es falsch, zu sagen: Deshalb brauchen wir Demokratie nicht. Das wäre die andere Front. Man kann die ausgehöhlte Demokratie nicht kritiklos verteidigen. Andererseits kann man deren Abbau nicht wünschen.

Colin Crouch, der den Begriff «Postdemokratie» geprägt hat, zeichnet ein beinahe hoffnungsloses Bild: Wir stehen am Ende einer Entwicklung, die er wie eine Kurve beschreibt – von den Anfängen der Demokratie in der Antike über den Höhepunkt der Entwicklung, den «Augenblick der Demokratie» in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, bis heute, wo am anderen Ende der Parabel die Postdemokratie steht.

Ich teile die Einschätzung nicht, das Bild der Parabel suggeriert den Abschluss einer Entwicklung. Wenn wir mit der Demokratie aber schon am Ende wären, müssten wir gar nicht mehr über ihre Rettung, ihre Weiterentwicklung, ihre Vertiefung sprechen. Mir scheint es sinnvoller, wie von Demirović vorgeschlagen, von einer zyklischen Entwicklung auszugehen, wobei die Momente von Krise oder Erneuerung mit der politischen Ökonomie verwoben sind. Die Erneuerung muss immer wieder stattfinden, damit überhaupt ein neuer Akkumulationszyklus beginnen kann. In dem bildet dann eine neue Entwicklungsstufe der Demokratie auch wieder die Kampfarena zwischen den Klassen, die Voraussetzungen für Kompromisse.

Liegt darin nicht die Gefahr einer allzu deterministischen Sicht: Kapitalistische Krise führt zu Krise der Demokratie?

Nein, das wäre aber auch ein falsches Verständnis von dem Zusammenhang. Es ist nicht so, dass, wenn eine Wirtschaftskrise kommt, automatisch Demokratie abgebaut wird. Der Zusammenhang ist komplexer, widersprüchlicher: Die Ausweitung der Demokratie folgt der Notwendigkeit, dass man im Kapitalismus Kompromisse zwischen divergierenden Interessengruppen und gesellschaftlichen Klassen finden muss. Dazu dient zum Beispiel ein Parlament – aber nur dann, wenn dort die Interessen der Subalternen auch glaubhaft vertreten werden. Wenn sich aber nun die Subalternen erfolgreich organisieren und tatsächlich auf das Recht pochen, gefragt zu werden, mitzubestimmen, kann es für die herrschenden Klassen schnell gefährlich werden: Die Subalternen sind ja zahlenmäßig in der Mehrheit und können verlangen, materiell stärker beteiligt zu werden. Das führt auf der anderen Seite zu Gegenbewegungen, die immer wieder auch, aber eben nicht zwangsläufig, auf autoritäre Lösungen setzen. Natürlich kann man in ökonomischen Wachstumsphasen auch von Kapitalseite aus freigiebiger Kompromisse eingehen, in der Phase des Fordismus hat man das gesehen. Umgekehrt gibt es aber auch keinen Automatismus, laut dem es demokratischer wird, wenn es wirtschaftlich besser geht.

Demokratie ist immer auch eine Frage der Bewegungen, die sich ihre Durchsetzung, ihre Ausweitung auf die Fahnen geschrieben haben. Das scheint mir im Bild von Crouchs Parabel unterzugehen. Es hat immer Demokratisierungsschübe gegeben, oft auch unabhängig von ökonomischen Krisenlagen.

Ja, das stimmt. In Thailand zum Beispiel, wo Menschen gegenwärtig bei kleinster Kritik an den Regierenden 15 Jahre und länger ins Gefängnis geworfen werden oder einfach «verschwinden», dort tauchte auf dem Höhepunkt der Unterdrückung ein Musik-Video auf: «Rap against dictatorship», das sich rasend über die sozialen Medien verbreitete und die Militärregierung eiskalt erwischt hat – wie der Sound eines neuen möglichen Schubs der Demokratisierung. Nur ökonomisch ausgerichtete Erklärungen greifen hier zu kurz. Menschen streben offenbar auch in einer ganz idealistischen Form nach Freiheit, das Bedürfnis, nicht zugerichtet und «nicht dermaßen regiert zu werden», wie Michel Foucault das beschrieben hat, speist sich auch aus etwas ganz Unökonomischem. Dass diese Frage in vielen kritischen Analysen nicht systematisch behandelt wird, hat sicher auch etwas damit zu tun, dass der Begriff der Freiheit «von der anderen Seite» okkupiert ist.

Der schon angesprochene Johannes Agnoli hat von der «Involution» der Demokratie gesprochen – diese sei gekennzeichnet dadurch, «dass sie sich nicht gegen die alten Verfassungsnormen und -formen durchsetzen will, sondern tendenziell sich ihrer zu bedienen versucht». Das klingt sehr nach heutigen Mustern: Die Autoritären kommen heute durch Wahlen zur Macht, sozusagen «demokratisch» – seltener als Militärdiktaturen oder im Ausnahmestaat. Was sagt das über die mögliche Entwicklung aus?

Dieser Befund gilt wohl eher für die OECD-Welt, weniger für den globalen Süden. Aber auch in Europa wäre ich vorsichtig, das zu verallgemeinern und zu denken, dass ein Rückfall in die Barbarei wie in den 1930er Jahren ausgeschlossen wäre. Es ist ja trivial, zu sagen, dass sich Geschichte nicht wiederholt. Wenn aber die geschichtliche Entwicklung prinzipiell offen ist, dürfen wir die Augen nicht davor verschließen, dass es auch wieder zu einer Radikalisierung der autoritären Regime kommen kann, mit schlimmsten Auswüchsen, von denen wir heute noch keine Vorstellung haben. Wir denken ja, dass die Menschheit doch aus Auschwitz gelernt hat, lernen musste. Aber was, wenn nicht? Otto Bauer und August Thalheimer, die schon in den 1920er Jahren über den Faschismus geschrieben haben – also vor dessen Durchmarsch –, hatten ein zentrales Anliegen: Sie wollten davor warnen, die Entwicklungen und die zunächst womöglich lächerlich wirkenden Führer in Italien und Deutschland nicht ernst zu nehmen. Das müssen wir uns vor Augen halten, wenn wir auf Donald Trump schauen und denken: Es kann doch nicht wahr sein, dass diese Karikatur von Politiker überhaupt gewählt wird und sich im Amt hält. Aber wir sollten uns immer die Frage stellen: Was, wenn sich hinter diesem Phänomen etwas verbirgt, das wir einfach noch nicht verstehen?

Haben Sie eine Antwort?

Da komme ich noch einmal auf Colin Crouch zurück, denn sein Bild der Parabel der Demokratie stellt diese Frage ja auch: Sind wir womöglich an einem Punkt, an dem unsere bisherigen Annahmen über mögliche Zukünfte nicht mehr zutreffen, weil sich die Voraussetzungen, aus denen Entwicklungen entspringen, radikal verändert haben? Welche Bedeutung hat der Aufstieg Chinas mit seinem neuen Modus kapitalistischer Entwicklung? Was bedeutet die Ausbreitung des Internets, der sozialen Medien für Demokratien? Was heißt es, wenn wir von der planetaren Krise der Ökologie, des Klimas und der Ressourcen aus denken, die einem ökonomischen Wachstum Grenzen setzt und damit auch den Möglichkeiten, soziale Integration durch Umverteilung zu schaffen? Vielleicht haben wir für diese epochale Situation noch gar keinen Begriff.

Wodurch kennzeichnet sich das Neue noch?

Wir haben es einerseits mit einem autoritären Neoliberalismus zu tun, der vor allem auf EU-Ebene immer weiter voranschreitet. Die Wirtschaftspolitik und die Austeritätsregeln werden von demokratisch kaum legitimierten Gremien in Verträgen festgeschrieben und im Zweifelsfall – wie in Griechenland – sehr autoritär auch gegen den erklärten Willen der Bevölkerung durchgesetzt. Dieser europäische Konstitutionalismus legitimiert sich aber unter anderem dadurch, dass gleichzeitig Freiheitsrechte und Antidiskriminierungsrichtlinien festgeschrieben werden. Andererseits beobachten wir populistische Bewegungen, zum Beispiel in Ungarn und Polen, die Zustimmung dadurch erhalten, dass sie sich verbal gegen die Folgen dieses Neoliberalismus wenden. Dies geht aber mit rechten, nationalistischen, ausgrenzenden Ideologien einher, die sich zum Beispiel gegen die europäisch verbrieften Antidiskriminierungsrichtlinien richten.

Wenn es um autoritäre Entwicklungen geht, werden heute meist zuerst China und Russland genannt. Da steckt viel Wahrheit drin, aber es ist auch das Ergebnis einer neuen Auseinandersetzung um globale Hegemonie. Scheint da eine neue Blockkonfrontation auf?

Um bei diesem Begriff gleich einzuhaken: Wer wäre denn dann der demokratische Block? Lange Zeit haben sich die USA und Europa so stilisiert, aber das ist immer schon und zu Recht kritisiert worden. Man sollte bei der Analyse genauer hinsehen, dann rückt in den Blick, dass wir es mit verschiedenen autoritären Spielarten in unterschiedlicher Form zu tun haben, zwischen denen es jedoch auch einen Austausch gibt. Seit März bezeichnet die Europäische Union China offiziell als einen Systemrivalen, und natürlich gibt es zwischen dem autoritären Konstitutionalismus der EU und China riesige Unterschiede. Aber die Logik des Sozialkredit-Systems, das gerade in China eingeführt wird und Bürger einer fast totalitären datenbasierten Bewertung unterzieht, die Wohlverhalten belohnt und Abweichung bestraft, ist auch anderswo bekannt – etwa wenn Kreditwürdigkeit mit intransparenten Methoden und Algorithmen geprüft wird, wenn datenbasiert ins Konsumverhalten eingegriffen wird, wenn per massenhafter Videoüberwachung alle zu potenziellen Gefahren erklärt werden. China ist da gar nicht so weit weg. Da wären nur kleine Schritte nötig. Das sollte man im Kopf behalten.

Welche Rolle spielt technologische Entwicklung für autoritäre Regime heute?

Eine große. Man kann das für alle Staaten durchgehen, in denen sich diese Entwicklung heute vollzieht. Die Konsolidierung autoritärer Regime wird über das Internet ermöglicht: Wahlbeeinflussung und die Relativierung von Wissen etwa durch «alternative Wahrheiten», Kontrolle und Überwachung, Mobilisierung und Emotionalisierung, systematisches Herstellen herrschaftskonformer Öffentlichkeiten durch gelenkte Medien und so weiter.

Das ist auch deshalb bemerkenswert, weil wir das Internet noch vor wenigen Jahren als große Demokratiemaschine betrachtet haben.

Richtig, aber wir sollten uns davor hüten, einer «liberalen» Lesart zu folgen, nach der das Internet als per se gut und demokratiefördernd betrachtet wird, jetzt aber von bösen staatlichen, autoritären Akteur*innen manipuliert und okkupiert wird. Vielmehr müsste man genauer hinschauen: Was von dem, was autoritäre Akteure nun für sich nutzen, ist zum Beispiel in der politischen Ökonomie des Internets angelegt? Manche Internet-Trolle sind einfach prekäre Arbeiter*innen, für die das Posten von «Fake News» eine Einkommensquelle ist, weil sie dadurch hohe Abonnentenzahlen für ihren YouTube-Kanal oder ihre Homepage erreichen und über Google AdSense Werbeeinnahmen generieren können. Dem kommt man nicht durch das Sperren von Hetzern bei, sondern es ginge dann darum, solche Plattformen demokratisch zu kontrollieren, sie gesellschaftlicher Regulierung zu unterwerfen.

In Europa ist augenfällig, dass sich autoritäre Dynamiken gehäuft in postsozialistischen Ländern zeigen. Gibt es ein autoritäres Echo der Vergangenheit? Oder hat das eher etwas mit dem Transformationsprozess nach dem Scheitern des autoritären Sozialismus zu tun?

In der Rede vom autoritären Echo steckt etwas Kulturalistisches, eine diffamierende Stoßrichtung: «Die können Demokratie nicht so gut wie wir, weil sie es nie richtig kennengelernt haben.» Das wird im Übrigen auch gegenüber Gesellschaften außerhalb Europas oft so gesagt. Aber dabei gerät aus dem Blick, dass zum Beispiel Deutschland nach 1945 so ziemlich der letzte Kandidat für eine funktionierende Demokratie war. Sie wurde in der Bundesrepublik trotzdem eingerichtet. Mit einem sehr visionären Grundgesetz. Möglich wurde dies nicht, weil die Menschen hier so eine demokratische Gesinnung hatten. Im Gegenteil. Es waren welthistorische Konstellationen, die die Demokratisierung haben möglich werden lassen. Übertragen auf die postsozialistischen Länder, lenkt das den Blick auf die offenbar schlechteren Ausgangsbedingungen für die notwendigen demokratischen Kompromisse. Vor allem die ökonomische Schocktherapie in den 1990ern hat sich als komplette Fehlpolitik erwiesen.

Autoritarismus, Nationalismus, Postdemokratie, Entdemokratisierung, Illiberalisierung, Faschismus … Was raten Sie den progressiven Kräften in der gegenwärtigen Situation?

Im Fall der Fälle müssen die demokratischen Institutionen, die es gibt, verteidigt werden. Dafür braucht es dann eine nüchterne Abwägung, welche kurzfristigen strategischen Allianzen zu schmieden sind. Eine schwierige Balance. Wir sollten uns aber nichts vormachen und bereit sein, auch negative, pessimistische Szenarien zu denken. Gleichzeitig sollten wir uns nicht lähmen lassen, denn der Drang, sich nicht entmündigen und beherrschen zu lassen und ein gutes Leben zu führen, scheint mir universal.

 
Von Wolfram Schaffar erscheint im Sommer 2019 die Studie «Globalisierung des Autoritarismus. Tendenzen der weltweiten Krise der Demokratie» bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Dieser Text ist zuerst erschienen in maldekstra #4, Juni 2019.