Im kommenden Jahr feiert die Welt das zehnjährige Jubiläum des sogenannten arabischen Frühlings. Es bleibt kontrovers, ob Jubel angebracht ist bei all den Tragödien und dem Exodus, den Menschen für ihr Aufbegehren in Kauf nehmen mussten. Trotz allem: Im Jahr 2019 beweist eine neue Welle revolutionärer Proteste erst im Sudan, dann in Algerien, ihr Wiederaufflammen in Ägypten und schließlich im Libanon und im Irak die Unermüdlichkeit des Aufbruchs. Diese erneute Protestwelle in Westasien und Nordafrika (WANA) steht für die Erkenntnis, dass das Bedürfnis der Menschen nach radikaler Veränderung ungeachtet aller Repressionen und Gewalt nicht mehr zu unterdrücken ist. Für viele Menschen brachten die letzten Jahre trotz aller Aneignung der Revolutionen durch konterrevolutionäre, konservative Kräfte ein Bewusstsein darüber, zu lange für die Interessen autoritärer Machthaber instrumentalisiert und ausgespielt worden zu sein. So kann der Verlauf der syrischen Revolution etwa als ein utopischer Versuch verstanden werden, freie Räume abseits der Kontrolle autoritärer Führungen zu schaffen. Räume, in denen eine Zivilgesellschaft Komplexitäten erkennt und miteinander aushandelt, statt als Spielkarte für die Interessen politischer Eliten zu fungieren.[1]
Maria Hartmann beschäftigt sich im Rahmen ihrer Tätigkeit für Adopt a Revolution mit Möglichkeiten von Diaspora-Aktivismus und deutsch-syrischen Solidaritäten. Darüber hinaus setzt sie sich mit verschiedenen zivilgesellschaftlichen Gruppen für die Differenzierung hiesiger Debatten zum Nahost-Konflikt ein. Sie forscht zu Widerstandstheorien, neuen emanzipatorischen Bewegungen und transnationaler Solidarität.
Auch waren die letzten zehn Jahre eine Zeit des Voneinander-Lernens: Seit Beginn der Aufstände beziehen sich die Aktivist*innen in ihren Demo-Sprüchen und Bannern des gesamten WANA-Raumes aufeinander und feuern sich an – vom sudanesischen Khartoum bis ins syrische Idlib. Aus der Krise der alten, arabischen Linken heraus sich emanzipierend formiert sich eine neue, junge und inspirierende Bewegung, die vieles der alten Ansätze über Bord wirft, um an lange benötigten neuen Visionen und Utopien zu arbeiten.
Nur ein Fleck bleibt auf der Karte von all dem relativ unberührt: Von einem Frühling in Tel Aviv kann bisher kaum die Rede sein. Die israelische Linke stagniert zunehmend – nicht nur in Bezug auf ihre Handlungsspielräume, sondern auch mit Blick auf neue Visionen und theoretisch inspirierende Perspektiven. Ein lähmendes, frustriertes Gefühl des Ausprobiert-Habens-und-nicht-voran-Kommens macht sich breit. Das liegt einerseits an der Andersartigkeit des politischen Systems Israels im Vergleich zu etwa den Baath-Regimen. Wenn die Art der politischen Unterdrückung subtiler funktioniert als in einem klassisch-diktatorischen System ohne legale Opposition wird die Frage nach einflussreichem Widerstand komplizierter.
Sich nicht mehr für die Agenda rechter Populist*innen missbrauchen lassen
Verändert man für einen Moment den Blickwinkel ähneln sich trotz aller unvergleichlichen Besonderheiten, die die jüdische Identität und Geschichte Israels mit sich bringt, die Problemlagen der nach Emanzipation strebenden Menschen aber doch. So beschreiben diverse israelische Menschenrechtsorganisationen den zunehmenden Druck, unter dem sie angesichts der Instrumentalisierung der Zivilbevölkerung durch eine Überbetonung nationaler Identitäten und Pflichten stehen.[2] In Syrien werden vermeintliche Pflichten gegenüber der «gemeinsamen Sache für Palästina» als Druckmittel gegen die Bevölkerung ausgespielt und hierdurch auch Segregation, Militarismus und eine restriktive Sicherheitspolitik auf Kosten von Bürgerrechten legitimiert. In Israel ist es die Pflicht jede*r jüdischen Bürger*in gegenüber der «zionistischen Sache», mit der geschickt politisch gespielt und so manches Fragwürdige gerechtfertigt wird. Viele Oppositionelle aus den neuen arabischen Bewegungen haben in den letzten Jahren erkannt, dass diese Schuldigkeit gegenüber der definierten nationalen Agenda im Angesicht destruktiver Dynamiken radikal in Frage gestellt werden muss, will man sich nicht mehr von rechten Populist*innen missbrauchen lassen. Gleiches gilt für die bedingungslose Loyalität gegenüber den Anführer*innen eigener ethnischer Gruppen. Stattdessen, so wird deutlich, müssen neue Linien der Identifikation gezogen und eigene Ansätze im Umgang mit Ungleichheitsverhältnissen entwickelt werden. Dieser Prozess ist für viele nicht schmerzfrei, rüttelt er doch wie ein Orkan an der eigenen, als wahr gelernten Welt mit allen ihren Identitäten und Ideologien. Und dennoch ist klar, dass eine nötige Umstrukturierung ohne die radikale Ablehnung der alten Ordnung nicht funktionieren wird. Nicht zuletzt, weil die letzten Jahre ohnehin große Allianzen seitens autoritärer Machthaber offenbarten – etwa im Syrien-Konflikt, wo man sich um keinen Kuhhandel auf Kosten der Zivilbevölkerung verlegen ist.[3]
Wenn sich eine autoritär-rechte Allianz die Bälle neu zuspielt, müssen auch emanzipatorische Bewegungen umdenken, um dem etwas entgegenstellen zu können. Sie müssen neu verknüpft und zusammengesetzt werden – und neu definieren, wer für wen einsteht. Voll Erstaunen beobachten wir, was sich in den letzten Wochen vermeintlich aus dem Nichts heraus auf Libanons Straßen ereignete: Gegen jeden Konfessionalismus bildete sich eine breite Protestbewegung von Menschen aus allen Schichten, Gruppen und Geschlechtern gegen die korrupten, politischen Eliten.[4] Dabei hatten sich letztere auf die bedingungslose Post-Kriegs-Hörigkeit ihrer jeweiligen Gruppe verlassen. Auch scheint klar, dass sich eine Kritik an Korruption als zentrales Thema fast aller neuen Revolutionsbewegungen im WANA-Raum nicht mit dem Abwählen einer einzelnen Person erledigen lässt. Es beinhaltet ein grundsätzliches Hinterfragen der Legitimität von alten, maskulinen Autoritäten. Und dass es dabei auch um eine ganzheitlich-gesellschaftliche Befreiung und nicht bloß um ein bisschen mehr politische Freiheit gehen muss, machen zunehmend lauter werdende oppositionelle Feminist*innen deutlich. Syrische Stimmen fordern derweil ein Umdenken in Bezug auf die alten Friedensbegriffe: Demnach bestehe nachhaltiger Frieden aus mehr als einer Re-Stabilisierung der alten Ordnung auf Kosten einer jeden kritischen Stimme.[5]
Der arabische Frühling als Inspirationsquelle?
In Israel dagegen ist in der Verunsicherung, Ratlosigkeit und Depolitisierung des letzten Jahrzehnts mehr denn je zu beobachten, wie sich Kämpfe gegeneinander ausspielen lassen. So verpflichten die queeren oder Umweltbewegungen sich nicht zwingend zu anti-rassistischen, anti-segregatistischen Ansätzen, sondern referieren an vielen Stellen auf eine alte, längst zum Scheitern verurteilte Ordnung. Andere wünschen sich eine ganzheitlich denkende Bewegung, sind mit ihren Ansätzen aber isoliert. Dabei zieht sich der Sack antidemokratischer Tendenzen immer weiter zu: Die Korruptionsvorwürfe gegen Netanjahu stürzten das Land nicht zuletzt deshalb in eine Koalitionskrise, weil man sich von Bibis Einziger-Fels-in-der-Brandung-Rhetorik abhängig gemacht hat. Im Allgemeinen scheint wenig Interesse und Bewusstsein für die neuen Diskurse der Bewegungen umliegender Länder zu herrschen. Gebrochen wird dies nur partiell in Räumen, in denen zum Beispiel eine bilaterale Zusammenarbeit mit Palästinenser*innen ein Gespür für den Rest der Region möglich macht. Diese «Verinselung» fundiert sich in einem Diskurs, der die jüdisch-israelische Zugehörigkeit im anhaltenden Isolations-Trauma der Shoah nur zu sich selbst definiert. Eine Reaktion, die nicht bloß vom israelischen Mainstream proklamiert, sondern weltweit aus den unterschiedlichsten Strömungen und Begründungen heraus reproduziert wird. Die Frage ist, ob dieser einst aus guten Gründen errichtete Schutz- und Verteidungsmechanismus auf Dauer eben zur Stagnation israelischer emanzipatorischer Kräfte führen muss. Wenn die Sehnsüchte des arabischen Frühlings auch für ein Bedürfnis nach Aufbruch ins utopische Ungewisse stehen, welche neuen Perspektiven können sie für jüdisch-israelische Aushandlungen eröffnen? Gibt es ein Momentum, in dem sich die stagnierende israelische Linke aus der Ratlosigkeit befreien und sich in die erfrischende Tradition der anderen Bewegungen stellen kann, um sich radikal als Teil eines Aufbruchs in der Region zu verstehen? Eines Aufbruchs, dessen zentrale Forderung aus einem Aufbegehren gegen Unrecht- und Machtverhältnisse besteht. Und dabei darf auch Folgendes nicht unerwähnt bleiben: Während sich die anderen Bewegungen ebenfalls ihren gesellschaftsspezifischen Herausforderungen stellen müssen, um im eigenen Hinterhof aufzuräumen, kommt Israel um die palästinensische Frage nicht herum.
Wie Teil der Region werden?
Bietet der Identifikationsmoment mit den Revolutionen eine Plattform für jüdische Menschen in der Region, über die nationale und ethnisch-kulturelle Identität hinaus die Fragen zu stellen: «Wie können wir Teil dieser Region werden?» «Wie soll sie in Zukunft aussehen?“ «Was ist die Vision der neuen Generation für diese Region, wenn wir die Agenda der alten Eliten endgültig als gescheitert anerkennen müssen?». Dies stünde entgegen eines israelischen Mainstreams in seiner Ambivalenz, gleichzeitig Israels legitime Position in der Region um jeden Preis verteidigen zu wollen, sich dabei aber gegenüber weitergehenden gesellschaftspolitischen Verantwortungen für die Region vollständig aus der Affäre zu ziehen.
Gleichzeitig hielte dieses Herauswagen aus dem israelischen Schneckenhaus den sogenannten arabischen Revolutionen auch den Spiegel vor: Welchen Platz bieten hegemoniale Kontinuitäten von pan-arabischem Gedankengut den vielzähligen Minderheiten, die für das Voranbringen emanzipatorischer Ideen seit jeher eine maßgebliche Rolle spielten? Den Ruf nach emanzipatorischem Umbruch und Pluralismus ernst zu nehmen, bedeutet auch anzuerkennen, dass diese Welt nie eine Welt homogener Identitäten war – sie war immer auch eine Welt marginalisierter Narrative: der Kurd*innen, der Jüd*innen, der Berber*innen und vieler anderer. Damit würde die Frage nach gemeinsam und ehrlich gelebtem Pluralismus jenseits von versicherheitlichter Segregation zum zentralen Aspekt für die Utopie der Revolutionen. Und die Selbstreflexion gegenüber der eigenen Verantwortung in den (überregionalen wie lokalen) Mehrheitspositionen zur zentralen Aufgabe – in Damaskus wie in Rojava wie auch in Tel Aviv.
[1] Vergl. Bischoff/Hartmann 2019: analyse & kritik Nr. 654
[2] Etwa im Kontext der Arbeit von Organisationen wie B’Tselem, aber auch Breaking the Silence, die durch die Sichtbarmachung von den Konsequenzen der Militarisierung und Menschenrechtsverbrechen durch die IDF unter erheblichen politischen Druck gerieten. Vergl. zB El-Ad 2019: RLS Israel Office. S. 84ff
[3] Vergl. Bischoff/Hartmann 2019: analyse & kritik Nr. 654
[4] Vergl. Fleischer 10/2019: disorient.de
[5] Vergl. Aziza 2019: Qantara.de