Seit der Regierungsübernahme der AKP in 2002 nutzte die Partei immer wieder Krisen für sich, um mit ihrer Politik die Gesellschaft zu polarisieren und Repressionen gegen die Opposition zu rechtfertigen. Doch die seit 2018 anhaltende Wirtschaftskrise wurde auch der Koalition der AKP unter Präsident Erdoğan und der mit ihr regierenden neofaschistischen MHP zu viel: Mit den geringer werdenden ökonomischen Ressourcen können sie ihre Regionalmachtbestrebungen schwerer verfolgen und ihr Klientel schlechter bedienen, sodass ihnen, wenn auch nur langsam, die Unterstützung wegbricht. Daher unternimmt die Regierung alles, um Investitionen durch Abkommen, Vergünstigungen und Ausverkauf von Immobilien und anderen staatlichen Besitztümern zu steigern. Neben Privatisierung, Reallohnverlusten und Niedrigzinsen sollen Großprojekte dazu beitragen, die anhaltende Wirtschaftskrise mit möglichst wenig ökonomischem und damit politischem Schaden für die Regierung zu überwinden. Talsperren, Kanäle, Bergbau, Kohle- und Atomkraftwerke, Straßen, Bahnstrecken, Gaspipelines oder Flughäfen spielen hierbei eine wichtige Rolle. Die Bauvorhaben werden größtenteils mit ausländischem Kapital oder Krediten finanziert, denn weder der Staat noch inländische Privatunternehmen haben dafür ausreichend Kapital. Folglich wachsen die Auslandsschulden seit Jahren an. Im März 2019 betrugen sie insgesamt 453 Mrd. USD. Davon liegen zwei Drittel bei Privatunternehmen, die sie mit der Krise kaum zurückzahlen können. Nachdem die Zahl der Insolvenzen großer Firmen ab Ende 2018 spürbar anstieg, ist die AKP-Regierung eingesprungen und hat Schulden türkischer Unternehmen übernommen. Die eigentlichen Gewinner der Krise sind, unterstützt von ihren jeweiligen Regierungen, internationale und vor allem deutsche Unternehmen, da sie die Großprojekte realisieren. Beispielsweise wird der 35 Mrd. Euro schwere Ausbau der Schieneninfrastruktur in der Türkei durch ein von Siemens angeführtes Konsortium durchgeführt.
Ercan Ayboga ist ein langjähriger Öko-Aktivist, der sich vor allem zu Wasser engagiert. Er hat mehrere Jahre in Nord(Türkisch)-Kurdistan gelebt und sich dort vor Ort in diversen Kampagnen eingebracht, die er in Deutschland weiterverfolgt. Seit März 2020 arbeitet er als Regionalmitarbeiter bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Hessen.
Zwar bedeuten die Bauvorhaben kurzfristig gesehen Arbeitsplätze und eine Ankurbelung der regionalen Wirtschaft, doch abgesehen von den sozialen und ökologischen Folgen sind dutzende dieser Bauprojekte auf lange Sicht betriebswirtschaftlich nicht rentabel. Ein Beispiel sind die neuen Flughäfen in vielen Provinzhauptstädten, die nach Fertigstellung nicht mal ein Viertel der kalkulierten Passagierzahlen aufbringen. Auch bei Brücken und Tunnel in der Marmararegion hilft die Regierung mit Garantien aus und zahlt den Unternehmen für «fehlende» Nutzung horrende Summen. Dies ist darauf zurückzuführen, da Bauprojekte häufig nach dem Betreibermodell (Build Operate Transfer) realisiert werden, wofür aus dem Staatshaushalt jährlich mehrere Milliarden Euro verausgabt werden. Im Gegenzug unterstützen Unternehmen offen die Regierungspartei.
In einem diktatorischen Staat wie der Türkei führen schnell vorangetriebene Bauprojekte im internationalen Vergleich zu überproportionaler Zerstörung von Natur und Menschen. In der Vergangenheit wurden soziale und ökologische Vorgaben an Bauprojekten immer weiter abgebaut, durch die Regierung abgeändert oder bewusst nicht eingehalten. Selbst gerichtlich angeordnete Baustopps wurden oft umgangen. Die sozialen und ökologischen Folgen dieser extrem neoliberalen Politik der AKP sind enorm: Durch die Investitionsprojekte wurden in der Türkei und in Nordkurdistan zahlreiche Menschen vertrieben, ihren Grundrechten beraubt und in die Armut gezwungen. Allein durch Staudammprojekte im Südosten der Türkei wurden nach offiziellen Angaben mehr als eine halbe Millionen Menschen vertrieben. Wenn andere Projekte wie im Bergbau mitgerechnet werden, gehen Akteure der ökologischen Bewegungen von einer Zahl an Vertriebenen in Millionenhöhe aus.
Darüber hinaus sind die ökologischen Folgen katastrophal. Heute sind mehr als 80 Prozent Flüsse aufgestaut oder ausgetrocknet, fast alle Feuchtgebiete vernichtet und der Grundwasserspiegel in den meisten Gebieten um hunderte Meter gefallen. Durch industrielle Landwirtschaft hat die Biodiversität im globalen Vergleich enorm abgenommen, riesige Wälder wurden für Straßen- und Bergbauprojekte abgeholzt und hunderte archäologische und kulturelle Stätte zerstört. Weitere Denkmäler sind durch Bauprojekte in Anatolien und Nord-Mesopotamien, die zu den ältesten Siedlungsgebieten der Menschheit zählen, bedroht.
Mit der Ausweitung der zerstörerischen Bauprojekte nahm auch der Widerstand und die Kämpfe für die – wie sie es ausdrücken – «Verteidigung des Landes und des Lebens» in der Türkei zu. Erste nennenswerte Initiativen gab es Ende der 1990er Jahre, die aber weitgehend unabhängig voneinander auf lokaler Ebene agierten. Als Ende der Nullerjahre der Wahn von Bauprojekten – insbesondere von Talsperren – an Fahrt gewann und ökologische Themen landesweit vermehrt in den Fokus gerieten, gab es Versuche, Bündnisse bzw. Netzwerke aufzubauen. Doch vergebens. Politische Repression, fehlende und begrenzte Kapazitäten der lokalen Initiativen aber auch die elitäre Herangehensweise einiger Aktivist*innen verhinderten Erfolge. Eine strukturelle Schwäche der meisten ökologischen Initiativen in der Türkei und Nordkurdistan ist, dass sie zu wenig die durch Großprojekte betroffenen Menschen organisieren. Kämpfe werden meist von Aktivist*innen aus den Städten angeführt und sind dominiert von diversen linken Gruppen und liberalen Umweltverbände, die in Konkurrenz zueinander agieren.
Erst im Jahr 2018 schafften es 52 Gruppen, die sich gegen die ökologische Zerstörung und Ausbeutung in der Türkei und Nordkurdistan engagieren, sich zusammenzuschließen und gründeten mit der «Ökologieunion» (Türkisch: Ekoloji Birliği) ein gemeinsames Netzwerk. Die Ökologieunion ist zwar bisher noch kein starkes Bündnis, aber ein erster wichtiger Schritt zur Formulierung gemeinsamer Forderungen.
Frühjahr und Sommer 2019: Widerstand überall
Die gesellschaftlichen Widerstände gegen zerstörerische Projekte erreichten in 2019, auch bedingt durch die Kommunalwahlen im Frühjahr, zunehmend eine breite Öffentlichkeit. Der Erfolg der linken HDP in Nordkurdistan durch die Rückgewinnung von Gemeinden, die zuvor unter AKP-Zwangsverwaltung standen, und der knappe Sieg der kemalistisch-sozialdemokratischen CHP in den Großstädten zeigten, dass die AKP Macht Risse bekommen und mit einer gemeinsamen «Demokratiefront» geschlagen werden kann. Dies eröffnete wieder mehr Spielräume für zivilgesellschaftlichen Aktivismus und ökologische Bewegungen erhielten neuen Aufwind.
Der Frühling und Sommer 2019 waren vor allem von Diskussionen zum Ilısu-Staudammprojekt in Nordkurdistan und vom Kirazli-Goldminenprojekt in den Ida-(türkisch: Kaz-)Bergen bei Çanakkale geprägt. Letzteres wird vom kanadischen Unternehmen Alamos Gold realisiert und soll Gold in bewaldeten Gebieten extrahieren. Als im Juni Bilder von kahlgeschlagenen Landschaften veröffentlicht wurden, organisierten linke und sozialdemokratisch orientierte Gruppen, Aktivist*innen und die angrenzenden CHP-regierten Gemeinden eine Kampagne gegen das zerstörerische Bergbauprojekt. Monatelang wurde selbst in liberalen und teilweise AKP-nahen Medien darüber berichtet. Im Sommer 2019 kam es daher vermehrt zu Demonstrationen, Konzerten und Mahnwachen und es entstand die Hoffnung, dass Projekt stoppen zu können. Einige liberale europäische Medien sprachen in überzogener Form sogar vom neuen «Gezi-Geist».
Der Ilisu-Staudamm ist das größte Talsperrenprojekt am Tigris und mit ihm sollen 1.200 Megawatt Strom erzeugt werden. Seit 20 Jahren ist das Projekt aufgrund der zu erwartenden katastrophalen ökologischen, sozialen und kulturellen Folgen auch international stark umstritten. Nach vollständiger Inbetriebnahme würde der Staudamm rund 80.000 Menschen in 199 Dörfern jegliche Lebensgrundlagen entziehen, den Tigris auf 136 Kilometern einschließlich des 12.000 Jahre alten Ortes Hasankeyf überfluten und eines der letzten weitgehend intakten Großflusslandschaften im Mittleren Osten zerstören. Aufgrund starker zivilgesellschaftlicher Proteste wurde dem Projekt bisher zweimal die Finanzierung entzogen und der 2010 begonnene Bau mehrmals monatelang gestoppt. Nach der Ankündigung der Regierung im Frühjahr 2019, mit der Aufstauung zu beginnen, wurden am Tigris tausende Gegner*innen mobilisiert und trotz Versammlungsverbote nahmen hunderte Menschen an Kundgebungen und Protesten in Hasankeyf teil. Auch in westtürkischen Städten engagierten sich viele Gruppen gegen den Ilisu-Staudamm. Ein Aufstauen konnte so zumindest kurzfristig um einige Monate verzögert werden. Letztlich wurde im Juli 2019 mit der Flutung von Hasankeyf begonnen. Mehrfach hatten Aktivist*innen vergeblich versucht, im Dorf Mahnwachen zu organisieren, doch sie wurden von der Polizei brutal angegriffen.
Zunehmende Repression ab Herbst 2019
Mit der Zunahme staatlicher Repressionen im August 2019 wurde die Hoffnung, eine breite Protestbewegung gegen die zerstörerische Baupolitik der Regierung zu mobilisieren, zerschlagen. Erneut setzte die Regierung in den von der HDP regierten Großgemeinden Diyarbekır, Wan und Mardin Zwangsverwaltungen ein und konnte mit dem völkerrechtwidrigen Einmarsch in Rojava/Nordsyrien im Oktober einen Keil zwischen die linke und sozialdemokratische Opposition treiben.
Erst als der Krieg in Nordsyrien Ende Oktober an Intensität verlor, nahmen die ökologischen Kampagnen ihre Arbeit wieder langsam auf und es fanden unter anderem aufgeschobene Kundgebungen gegen das Goldminenprojekt am Ida-Berg statt. In Nordkurdistan hielt die Regierung aber weiterhin an Repressionen fest, nahm inhaftierte Aktivist*innen und verbot Aktionen in Hasankeyf und weiteren Orten. Die Dynamik und positive Atmosphäre vom Sommer war verschwunden.
Zu jenem Zeitpunkt kam im Dezember 2019 ein neues Megaprojekt hinzu: der 20 Mrd. Euro teure Istanbul-Kanal. Seitdem ist er Dauerthema in Istanbul und der Politik. Der geplante Kanal soll westlich des Bosporus' das Marmarameer mit dem Schwarzen Meer verbinden und vermeintlich die Schifffahrt sicherer machen, die Durchfahrthäufigkeit erhöhen und dem Staat weitere finanzielle Einnahmen bescheren. Tatsache ist, dass die Schifffahrtszahlen durch den Bosporus in den letzten Jahren rückläufig sind und auch der letzte gefährliche Tankerunfall im Bosporus mehrere Jahrzehnte zurückliegt. Die Folgen des Kanals wären fatal: Riesige Flächen des ohnehin stark dezimierten Istanbuler Waldes würden zerstört und so die Haupttrinkwasserressourcen für 8 Mio. Istanbuler*innen gefährden. Durch den geplanten Ausbau weiterer Bezirke am Kanal könnte die Metropole um weitere 3 bis 4 Mio. Menschen anwachsen und sich die Meeresströmungen so sehr verändern, dass sogar die Winde beeinflusst werden könnten. Das Marmarameer könnte biologisch komplett umkippen.
Die Kritik am riskanten Istanbul-Kanal hat schnell viele Menschen, NGOs und auch politische Parteien mobilisiert. Mehr als die Hälfte der Einwohner*innen von Istanbul lehnt das Projekt ab. Doch die Regierung hat eine Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) schnell absegnen lassen und ein Gesetz im Parlament verabschiedet, das den Kommunen bei Großprojekten jegliche Mitsprache entzieht. Wohl auch, da sich der neue CHP-Oberbürgermeister von Istanbul Imamoğlu klar gegen das Projekt stellte.
Zeitgleich zu den Diskussionen um den Istanbul-Kanal erreichte der Ilisu-Stausee im Januar 2020 den historischen Ort Hasankeyf, Symbol für die katastrophalen Folgen des Megaprojektes. Die Bilder der Flutung bewegten die Öffentlichkeit und mobilisierten kurzfristig wieder Aktivist*innen.
Neue Lage mit der Covid-19-Pandemie
Die Folgen der aktuellen Covid-19-Pandemie und die als Reaktion darauf von der Regierung eingeführten Maßnahmen haben direkten Einfluss auf die ökologischen Kämpfe. Aufgrund der Einschränkungen des öffentlichen Lebens durch Kontaktverbote oder Ausgangssperren können seit Mitte 2020 keine öffentlichen Aktionen mehr durchführen werden. Die in Bedrängnis geratene AKP-Regierung nutzt die Covid-19-Pandemie, um nun diejenigen Projekte durchzupeitschen, die durch Proteste seit Jahren stillstehen oder langsam vorankommen. Exemplarisch dafür steht ein Wasserkraftwerk am Hevek Bach in der Provinz Artvin, das wegen starker, lokaler Widerstände seit fünf Jahren nicht realisiert werden konnte. Obwohl ein Gerichtsverfahren gegen den Bau läuft, begann das zuständige Unternehmen unter Schutz des türkischen Militärs Ende März mit den Baumaßnahmen. Andere Vorhaben wie am Ida-Berg gehen ebenfalls weiter. Um Demonstrationen oder Kundgebungen zu verhindern, wurden die Baustellen zu Sperrgebieten erklärt.
Zwar werden in sozialen Medien weiter die Folgen des Ilisu-Stausees kritisiert und die Bilder der inzwischen fast vollständigen Flutung von Hasankeyf führten zu einem großen gesellschaftlichen und medialen Aufschrei, jedoch konnte aufgrund der Corona-Maßnahmen bisher kein physischer Protest mehr organisiert werden. Trotz massiver Kritik wurde auch Ende März der erste kleine Vergabeprozess im Rahmen des Istanbul-Kanals durchgeführt. Ob und wann es zum Bau kommt, ist angesichts der politisch-ökonomischen Lage unklar.
Ausblick
Die ökologischen Kämpfe haben das Potential, einen wichtigen Beitrag zur Schwächung der faschistischen AKP-MHP-Diktatur zu leisten. Auch wenn momentan aufgrund der Pandemie keine physischen Proteste stattfinden können, nimmt angesichts der dramatischen Zerstörung der Natur die Vielfalt und Stärke der ökologischen Bewegungen zu. Die Kämpfe der letzten Jahre haben gezeigt: Kontroverse Projekt können breite Proteste mobilisieren. Zwar ist dies nicht überall der Fall, aber immer mehr Menschen beteiligten sich an der «Verteidigung des Landes und des Lebens».
Der sich formierende Widerstand gegen den Istanbul-Kanal ist zurzeit besonders wichtig, da Istanbul als Weltstadt eine internationale Öffentlichkeit erreicht. Er kann aber nur erfolgreich sein, wenn eine breite Masse an Aktivist*innen, NGOs und sozialen Bewegungen erreicht wird. Gegenseitige Solidarität mit anderen ökologischen und sozialen Bewegungen ist unabdingbar, um die Kämpfe gegen zerstörerische Bauvorhaben in der Türkei und Nordkurdistan zu stärken. Es ist nie zu spät für die Natur und das Leben. Die Renaturierung von Gewässern oder Wäldern und der Schutz der Biodiversität sind erreichbar, wenn die politischen Rahmenbedingungen durch soziale Bewegungen und politische Widerstände erkämpft werden. In diesem Sinne ist es auch nicht zu spät für Hasankeyf, den Tigris oder die Wälder im Norden Istanbuls und am Ida-Berg.