Kommentar | Arbeit / Gewerkschaften - Wirtschafts- / Sozialpolitik - Sozialökologischer Umbau - Spurwechsel Vom Bohren dicker Bretter

Die Debatte zur Konversion der Autoindustrie

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Ein Lastwagen transportiert Altautos ab.
Ein Lastwagen transportiert Altautos ab., picture-alliance/ dpa | Maurizio Gambarini

Wir schreiben das Jahr 1990. Die 1980er Jahre zuvor waren zwiespältig für die Gewerkschaften. Mit der ersten Regierung von Helmut Kohl und seiner «geistig-moralischen Wende» endete 1982 die sozial-liberale Ära und es begann die neoliberale Konterrevolution, nicht zuletzt gegen die Gewerkschaften. Von links bringt die wachsende Umweltbewegungen vor allem die Industriegewerkschaften unter Druck. Doch starke Gewerkschaften konnten 1984 bzw. 1990 den Kampf um die 35-Stunden-Woche für sich entscheiden – Arbeitszeitverkürzung gilt seit jeher auch als ökologisch zentrale Maßnahme. Gewerkschaften und Ökologiebewegung konnten sich so im Jahr 1990 auf Augenhöhe begegnen, bei der verkehrspolitischen Konferenz der IG Metall und des Deutschen Naturschutzrings «Auto, Umwelt, Verkehr». Schon damals war klar, die Zeit drängt.

Mario Candeias ist Direktor des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Stephan Krull ist ehemaliger Betriebsrat bei VW Wolfsburg. Er ist Mitglied im Attac Rat, war Vorsitzender der Rosa-Luxemburg-Stiftung Niedersachsen, aktiv im Landesvorstandes der LINKEN Sachsen-Anhalt und koordiniert den RLS-Gesprächskreis «Zukunft Auto Umwelt Mobilität».  

Ergebnis der Debatten war u.a. die programmatische Erklärung der IG Metall (Schriftenreihe der IG Metall Nr. 122; ohne Datum): «Auto. Umwelt und Verkehr – Umsteuern, bevor es zu spät ist.» Im Vorwort von Franz Steinkühler, damals Vorsitzender der Gewerkschaft, wird der Zusammenhang deutlich: «Bei der Zukunft von Auto, Umwelt und Verkehr geht es um die Lebensqualität in Stadt und Land, um globale Umweltprobleme und Millionen von Arbeitsplätzen.» (5). Es werden folgende Vorschläge unterbreitet zu den Themen: Automobilproduktion ohne Gift- und Schadstoffe, weniger Emissionen beim Autofahren,  Verkehrssicherheit statt Raserei, Aufbau eines integrierten Verkehrssystems, Ausbau des öffentlichen Verkehrs, Vernetzung der Verkehrsträger, neue Fahrzeugkonzepte und Unternehmensstrategien, vernünftiges Verkehrs- und Verbraucherverhalten sowie staatliche Vorgaben, politische Initiativen und demokratische Beteiligung.

Doch unmittelbar nach der wegweisenden verkehrspolitischen Konferenz (wunderbar dokumentiert in: IG Metall u. Dt. Naturschutzring 1992) kam die Wiedervereinigung und der Steuerungswechsel in den Unternehmen hin zu Shareholder-Value-Konzepten und kurzfristiger Renditeorientierung. Statt arbeitspolitischer Fortschritte und sozial-ökologischer Umbaukonzepte über eine Diversifizierung der Produktion und neue Produkte ging es nur noch um die Konzentration auf die profitträchtigsten Bereiche – alles andere geriet in die Defensive. Verlagerungen und Restrukturierungen waren die Normalität. In der Folge waren «die 1990er Jahre sowohl arbeits- wie umweltpolitisch ein ‹verlorenes Jahrzehnt›. Die Anregungen der Konferenz ‹Auto, Umwelt, Verkehr› wurden nicht weiter verfolgt» (Pickshaus/Waclawczyk 2019, 93). Die Initiative gute Arbeit öffnete ab dem Jahr 2002 zwar wieder Diskussionsräume rund um die Themen Gesundheitsschutz, Arbeitszeitverkürzung und Zeitsouveränität, Ressourcenschonung und einer Kritik an der «Logik des ‹immer-mehr-und-immer-schneller›» und permanenten Wachstums (ebd., 94). Handfeste Erfolge bleiben jedoch aus.

Die Flexibilisierung und Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen und die Agenda-Politik unter Gerhard Schröder verändern die Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit. Die Gewerkschaften konzentrieren sich auf die Verteidigung betrieblicher Standards im «Häuserkampf» – tarifliche Öffnungsklauseln führten zur Verbetrieblichung, Leiharbeit und Werkvertragsarbeit sowie Auslagerung von Betriebsteilen und damit zur Spaltung der Belegschaften. In den Konzernen der Automobilindustrie bildet sich ein neuer Wettbewerbskorporatismus heraus. Fragen einer sozial-ökologischen Transformation und einer Konversion der Automobilindustrie hatten hier keinen Raum. Es war noch nicht die Zeit.

Zwanzig Jahre später

Mit der größten Krise des Kapitalismus seit Ende der 1920er Jahre geriet 2009 und 2010 auch die Automobilindustrie ins Straucheln. Angesichts der ökologischen Krise und den seit Jahren immer weiter ansteigenden Überkapazitäten schien nun der Moment gekommen, wieder über Alternativen zur «automobilen Gesellschaft» und zur exportorientierten Produktion neu nachzudenken. Es schien der Moment gekommen, an die Konversionskonzepte der 1980er und 1990er Jahre anzuknüpfen und neue Perspektiven für Beschäftigung, Wirtschaftsdemokratie und Umweltschutz zu entwerfen. Es schien der Moment gekommen, Gewerkschaftsbewegung und ökologische Bewegung zusammenzubringen, eine entsprechende Mosaiklinke (so Hans-Jürgen Urban in: Urban/Schumann 2011, 173) für eine sozial- ökologische Transformation zu formieren.

Dies war der Ausgangspunkt der internationalen Konferenz «Auto.Mobil.Krise.» der Rosa Luxemburg Stiftung und der Fraktion DIE LINKE im Bundestag im Oktober 2010 in der Autostadt Stuttgart, die in Kooperation mit der Fraktion SÖS/DIE LINKE im Gemeinderat Stuttgart, dem Wissenschaftlichen Beirat von ATTAC, TIE/Netzwerk Auto und einigen Mobilitätswende-Initiativen durchgeführt wurde. Über 500 Beschäftigte aus der Automobil- und Bahnindustrie, Gewerkschafter*innen und Vertreter*innen von sozialen und ökologischen Bewegungen, lokalen Initiativen aus 14 Ländern – von China, über Indien, Südafrika, ganz Europa, bis Mexiko und Brasilien – nahmen daran teil. Sie diskutierten den Stand und die skizzierten Optionen einer nachhaltigen Krisenüberwindung: Konversion der Autoindustrie, die Transformation der kapitalistischen Autogesellschaft und ihres Produktions-, Wachstums- und Exportmodells sowie Alternativen zu der mit ihr verknüpften Lebensweise; Fragen der gerechten Übergänge (Just Transition) und der Alternativen zum Wachstum. Wesentliche Beiträge der Tagung sind im Buch «Globale Ökonomie des Autos. Mobilität, Arbeit, Konversion» (Candeias u.a. 2011) und in den Heften 3/2010 und 1/2011 der Zeitschrift Luxemburg dokumentiert (www.zeitschrift-luxemburg.de). Wie schon 20 Jahre zuvor - die Überlegungen liegen vor.

Die Konferenz hat gezeigt, welche Spannungen etwa beim Thema Konversion zwischen Gewerkschaften und ökologischen Gruppen bestehen. Sie hat offengelegt, dass innerhalb der Gewerkschaften selbst sehr kontrovers diskutiert wird. Die Arbeit an solchen Differenzen ist freilich Essenz einer Mosaiklinken. Auch wenn von vornherein klar war, wie dick die zu bohrenden Bretter sind, schien die Konjunktur für eine grundlegende Debatte günstig. Tatsächlich machte sich jedoch schnell Ernüchterung breit. Es war einmal mehr noch nicht die Zeit für den Beginn eines Projekts demokratischer Konversionsalternativen. Dessen Ausgangsbedingungen sind weiterhin restringiert.

Es war vielmehr die Stunde der Herrschenden und des Krisenkorporatismus. Die IG Metall hatte – anders als angekündigt – keine Positionsbestimmung zur Konversion mehr vorgelegt. Wozu auch? Abwrackprämie und Kurzarbeit hatten über die Krise geholfen. Die Nachfrage boomte. Angesichts von Milliarden von Menschen in China, Indien, Brasilien oder Russland, den so genannten Zukunftsmärkten, die noch nicht automobilisiert sind, scheint es keine Überproduktion mehr zu geben. Ökologische Probleme wurden, wenn überhaupt, in Kategorien einer grünen Modernisierung diskutiert. Die Debatte um weitergehende Perspektiven war beendet, bevor sie wirklich begonnen hatte.

Dreißig Jahre später - die nächste Krise und (k)ein Aufbruch?

Die Corona-Pandemie mit der Stilllegung wesentlicher Teile des sozialen und ökonomischen Lebens traf auf einen sich bereits im Herbst 2019 dem Ende zuneigenden Konjunkturzyklus (vgl. IfG 2020). Anders als in den Jahren 2008/09 liegt der Auslöser der Krise nicht im Kreditwesen (Subprime-Krise), sondern sie hat mit einem Einbruch bei der Produktion zu tun. Die industrielle Produktion in Deutschland ging im vergangenen Jahr um knapp fünf Prozent zurück, weltweit sank das Produktionswachstum auf null. Wichtigste Ursache sind massive Überkapazitäten in der globalen Automobilindustrie. Seit zwei Jahren ist bereits ein absoluter Rückgang der Produktion zu verzeichnen, in Deutschland allein um über eine Million Pkw. In der Krise von 2009 konnte der Einbruch bei der Autoherstellung noch durch die enorme Expansion des Marktes in China (über-)kompensiert werden. Diesmal jedoch geht auch in China die Produktion drastisch zurück, mit über zwei Millionen Einheiten bereits vor der Corona-Krise. Am Ende des Jahres 2020 könnte in Deutschland die Bilanz so aussehen, dass nur noch etwas mehr als die Hälfte der Autos produziert worden ist im Vergleich zu 2018. Bei der Inlandsproduktion von Autos sind wir heute wieder beim Stand von 1994 bzw. 2009 gelandet. Wir erleben die Schrumpfung der Autoindustrie auf «disruptive Art und Weise» (Krull u.a. 2020).

Die Krise an sich stärkt keineswegs die linken Kräfte. Sie verändert nichts, bereitet nur den Boden für die Veränderung. Wer, wenn nicht wir selbst, soll letztere bewirken? Wann, wenn nicht jetzt, gilt es diese vorzubereiten? Doch die Debatte stockt.

Der Ruf der Automobilindustrie hat gelitten unter Skandalen wie dem Dieselgate und der Untätigkeit in Sachen Ökologie. Statt Ein- oder Drei-Liter-Auto dominieren heute größere, schwerere und eben profitträchtigere SUV die Verkaufszahlen. Beim E-Auto liegen die Konzerne in Deutschland weit hinter globalen Konkurrenten zurück. Und wieder macht die Umweltbewegung, diesmal vor allem Fridays for Future, Druck, denn die Folgen des Klimawandels sind inzwischen längst spürbar. Doch die Debatte stockt. Weshalb?

Man könnte sagen: Ideenlosigkeit und die Einübung ins Co-Management prägen das Denken der Beschäftigten(Vertreter) und der Gewerkschaften – zumindest in den Führungsspitzen, von Ausnahmen abgesehen. Dies ist sicher ein Faktor. Doch schaut man tiefer wird es komplizierter: Der permanente Prozess der Restrukturierung im Rahmen der Transnationalisierung und Vermarktlichung der Produktion durch Industrie4.0/Digitalisierung wird durch die anstehende ökologische Modernisierung noch einmal dynamisiert. Bei Beschäftigten produziert dies unter den Bedingungen sehr ungünstiger Kräfteverhältnisse (zwischen Kapital und Arbeit) Unsicherheit und immer höheren Leistungsdruck. Das Erleben von Ohnmacht angesichts der Restrukturierungswellen führt eher zu Ablehnung und Distanzierung von Veränderung an sich, lässt am Bekannten festhalten, umso mehr dieses bedroht ist (Pickshaus/Waclawczyk 2019, 100f).

Es mangelt an psychologischen, betrieblichen, gewerkschaftlichen und politischen Ressourcen zur Bewältigung und Gestaltung der Wandels durch die Beschäftigten. Selbst in ihrem Sinne positive Veränderungen werden als «nicht machbar» betrachtet. Gute Vorschläge zum sozial-ökologischen Umbau der Mobilitätsindustrien und gerechte Übergänge, etwa von Seiten der LINKEN (vgl. Riexinger 2020 oder Candeias 2020), fehle angesichts der «Übermacht» der Gegner (Urban 2011, 174) die Durchsetzungsperspektive, da es an der entsprechenden Macht mangele. So findet zwar keine kollektive Verdrängung des Problems, doch aber des Handlungsdrucks statt. Der «objektive Problemdruck ist zu groß» - so droht die «Business-as-usual-Falle» (ebd., 171 bzw. 168).

Ohne eine Verankerung von «unten» in den Betrieben, lässt sich eine sozial-ökologische Mobilitätswende jedoch nur schwerlich realisieren. Diese Aufgabe kann weder auf der betrieblichen Ebene von den Beschäftigten und ihren Repräsentanten bewältigt werden, aber auch nicht stellvertretend, von außen erfolgen. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung beispielsweise kann nur Impulse geben mit Konzepten, aber vor allem mit Möglichkeiten der Vernetzung und Anschub für eigenes Handeln, etwa um Räume für Beteiligung zu schaffen: Ein solcher Raum wäre die Gründung gewerkschaftlicher Arbeitskreise Alternativer Produktion, wo über die Möglichkeiten und Probleme der sozial-ökologischen Transformation und Konversion gesprochen werden kann. Denn keineswegs wird ein «naiver Anti-Industrialismus» (ebd., 168) gepredigt. Eine andere Mobilität erfordert unglaublich viel Arbeitskraft und alternative industrielle Produktion in zahlreichen Bereichen (Candeias 2020). Die Konzerne werden bei dieser Transformation nicht freiwillig mittun. Dafür braucht es politische Vorgaben und öffentliche Investitionen. Die Konzepte liegen vor. Dafür wiederum braucht es andere politische Mehrheiten sowie Gewerkschaften, Klimabewegung und eine plurale Mosaiklinke, die dafür Druck entfalten. Dies ist eine Aufgabe aller linken Kräfte. Dafür muss man sich allerdings auch entscheiden.

Schon 2010 stellte Hans-Jürgen Urban die Frage, «warum wir» - die Gewerkschaften - in der Debatte «soweit zurück gefallen sind»? Seit der wegweisenden Konferenz «Auto, Umwelt, Verkehr» sind nun 30 Jahre vergangen. Vielleicht keine verschenkten Jahre, denn wir wissen nun die Dicke der zu bohrenden Bretter einzuschätzen, wir kennen die Fallstricke und Probleme. Wir kennen aber auch die Einstiege in eine sozial ökologische Konversion. Wir wissen auch es gibt keine Abkürzungen, aber auch keine Ausreden mehr. Der Zeitdruck wird größer. Es braucht noch den Mut, realistisch zu werden - denn so wie es ist, wird es nicht bleiben.
 

Literatur

  • Candeias, Mario, Rainer Rilling, Bernd Röttger u. Stefan Thimmel (Hg.), 2011: Globale Ökonomie des Autos. Mobilität.Arbeit.Konversion, Hamburg
  • Candeias, Mario, 2020: Der Mietendeckel der Mobilität?, in: Zeitschrift LuXemburg, H. 1
  • Candeias, Mario, 2011: Konversion - Einstieg in eine öko-sozialistische Reproduktionsökonomie, in: Candeias u.a., (Hg), Globale Ökonomie des Autos, Hamburg, 253-72
  • IG Metall u. Deutscher Naturschutzring, 1992: Auto, Umwelt, Verkehr: Umsteuern, bevor es zu spät ist : Verkehrspolitische Konferenz der IG Metall und des Deutschen Naturschutzrings (Die andere Zukunft), Köln
  • Krull, Stephan u.a., 2020: Die Autoindustrie vor und nach «Corona»: Konversion statt Rezepte von gestern!, Stellungnahme aus dem Gesprächskreis «Zukunft Auto Umwelt Mobilität» der Rosa-Luxemburg-Stiftung
  • Pickshaus, Klaus, u. Maximilian Waclawczyk, 2019: Arbeit und Ökologie in der Transformationsperspektive, in: L.Schröder u. H.J.Urban (Hg.), Transformation der Arbeit – ein Blick zurück nach vorn, Frankfurt/M, 91-103
  • Riexinger, Bernd, 2020: Die Autoindustrie umbauen. Vorschlag für einen linken Green New Deal, in: Zeitschrift LuXemburg, H. 1
  • Urban, Hans-Jürgen, 2011: Umbau statt Krise? Gute Arbeit - Umwelt - Mobilität, in: Candeias u.a., (Hg), Globale Ökonomie des Autos, Hamburg, 162-69
  • Urban, Hans-Jürgen, u. Harald Schumann, 2011: Ökologische Konversion und Mosaik-Linke. Ein Streitgespräch zur Rolle der Gewerkschaften, in: Candeias u.a., (Hg), Globale Ökonomie des Autos, Hamburg, 170-75