Zu den zentralen Unterschieden zwischen der Zweiten und der Dritten Internationale zählt die Haltung zum Kolonialismus. Die 1889 – auf dem Höhepunkt der Besetzung und Ausbeutung der Länder des Südens – gegründete Internationale der klassischen Sozialdemokratien Europas stand für eine «positive Kolonialpolitik», die man prokolonial nennen muss. Die 1919 entstandene Dritte Internationale – die Komintern – besann sich hingegen im Weltmaßstab auf das Grundprinzip eines sozialistischen Internationalismus. Schon 1847 hatte Friedrich Engels mit Blick auf den polnischen Aufstand von 1830 geschrieben: «Eine Nation kann nicht frei werden und zugleich fortfahren, andre Nationen zu unterdrücken.»
Am 15. Juni 1920 – rund ein Jahr nach deren Gründung – rief das Exekutivkomitee der Komintern die kolonisierten Völker Asiens und Afrikas auf, Vertreter zu einem «Kongress der Völker des Ostens» nach Baku zu schicken, das die Bolschewiki im Russischen Bürgerkrieg kurz zuvor erobert hatten. Aufgrund der instabilen Sicherheitslage um die Stadt verzögerte sich der Kongress zunächst etwas. Doch als er am 1. September 1920 eröffnet wurde, waren trotz oft gefährlicher Anreise rund zweitausend Delegierte vor Ort, unter ihnen 55 Frauen. Geführt wurden die Teilnehmer nicht nach Staatsbürgerschaft, sondern nach ethnischer Zugehörigkeit. Als größte Gruppen wurden 235 Türken, 192 Perser, 157 Armenier, 104 Russen, 100 Georgier und 82 Tschetschenen genannt, doch befanden sich auch 41 Juden, 14 Inder, fünf Polen und je drei Deutsche, Ungarn, Kalmücken, Koreaner und Araber auf der Liste.
Auch wenn keine afrikanischen Teilnehmer vermeldet wurden – der organisierte Austausch mit diesen begann 1927 auf dem Brüsseler «Kongress gegen koloniale Unterdrückung und Imperialismus» – war das die bis dahin größte internationale Tagung, die sich mit Perspektiven kolonialer Befreiung befasste. Die Schirmherrschaft der Komintern zeigte sich in der aktiven Präsenz führender Funktionäre. Zu ihnen gehörten der Komintern-Vorsitzende Grigori Sinowjew, Karl Radek als Mitglied ihres Exekutivkomitees, Béla Kun, Volkskommissar der früheren Ungarischen Räterepublik, Alfred Rosmer, Thomas Quelch und Karl Steinhardt sowie der US-amerikanische Schriftsteller John Reed, der mit seinem dokumentarischen Bericht über den russischen Oktober – «Zehn Tage, die die Welt erschütterten» – weltberühmt geworden war.
Die Komintern wollte die durch die Zweite Internationale aufgerissene Kluft zwischen den Befreiungsbewegungen des Ostens und den Arbeiterbewegungen des Nordens überbrücken. Sinowjew beschwor dies in blumigen Worten: Es müsse erreicht werden, «dass diese beiden Ströme einander immer näherkommen, dass der zweite Strom von den nationalen Vorurteilen befreit wird, dass beide sich zu einem mitreißenden und gewaltigen Strom vereinigen, der, dem Meere gleich, alle sich ihm in den Weg stellenden Hindernisse fortreißen, die Welt von all dem Übel befreien wird, unter dem wir so lange haben leiden müssen.» Die Kongresslosung «Proletarier aller Länder und unterdrückte Völker der ganzen Welt, vereinigt euch!» fasste das zusammen.
Von der Sprache abgesehen, verhandelte der Kongress durchaus Fragen, die noch in heutigen Diskussionen über das Nord-Süd-Verhältnis prominent sind. Wenn etwa Kun erklärte, wie es «dem Imperialismus» gelinge, «durch Brosamen, die den Kolonialvölkern abgepresst wurden, Teile der Arbeiter im Westen zu korrumpieren», mag man an aktuelle Debatten über die «imperiale Lebensweise» denken. Und wenn er darüber wetterte, dass es «der imperialistischen Bourgeoisie in den Kolonialländern» oft gelinge, «jene Schicht der einheimischen Bevölkerung und jene herrschende Klasse in den halben Kolonien zu finden, deren Hilfe sie benutzen kann, um ihre Ausbeutungspolitik leichter und billiger zu gestalten», dann ist man nah an jener Gemengelage an Macht, Symbolismus und korruptem Interesse, die seit dem späteren 20. Jahrhundert mit dem Ausdruck «Postkolonie» beschrieben wird.
Verhandelt wurde – neben wichtigen Themen wie der Agrarfrage – auch das Problem, wie im Osten religiös grundierten, also oft islamischen Kräften zu begegnen sei, die den Kolonialmächten entgegenstünden. Hier knüpfte Sinowjew an die frischen Erfahrungen des Bürgerkriegs an, in dem Muslime als Bündnispartner der Bolschewiki agiert hatten – etwa die zunächst keineswegs sozialistisch orientierte Partei der Jungbucharischen Revolutionäre im heutigen Usbekistan. Im Allgemeinen seien «Panislamismus» und «Muslimismus» nicht «unsere Strömungen», doch müsse man «die religiösen Stimmungen der Massen» achten. Im praktischen Umgang mit diesen sei insofern «Vorsicht» geboten. Dennoch gehe es darum, die Massen allmählich «umzuerziehen». Am Ende jedenfalls müsse auch den «Sultanen» die Stunde schlagen, donnerte Sinowjew in seiner Rede, die am Ende in regelrechten Jubelstürmen untergegangen sein soll, wobei etliche Teilnehmer ihre Waffen reckten: «Ihr dürft keine Selbstherrschaft dulden. Ihr müsst den Glauben an den Sultan zerstören und vernichten. Ihr müsst wahre Räteorgane erkämpfen!» So sei es auch in Russland gewesen, wo die Revolution allen Zarenglauben getilgt habe.
Zu einer anderen Frage der Bündnispolitik hatte es schon im Vorfeld – auf dem II. Komintern-Kongress im Juli und August 1920 – Auseinandersetzungen gegeben. Dabei setzte sich gegen die Haltung etwa des indischen Kommunisten Manabendra Nath Roy zunächst Lenins Position durch, dass auch bürgerliche Nationalbewegungen gegen den Kolonialismus – man sprach von «national-revolutionären» Kräften – zu unterstützen seien. In Baku aber erläuterte Sinowjew: Dies sei nicht etwa so zu verstehen, «dass zunächst jedes Land das Stadium des Kapitalismus zurücklegen» müsse, um quasi reif zu werden für die Revolution. Vielmehr rief er dazu auf, sofort Räte zu bilden – wo es keine Industrie gab, sollten sich darin Bauern und Landarbeiter organisieren.
Schon der Kongress von Baku bezog Engels’ Diktum, es könne sich nicht befreien, wer andere unterdrücke, auch auf das Geschlechterverhältnis in kolonisierten Gebieten. Erstmals geriet hier die jahrhundertealte Unterdrückung der Frau auf die Tagesordnung einer internationalen Tagung im Orient. In der letzten Sitzung am 7. September ergriff Naciye Suman aus der Türkei das Wort: Der Aufbruch der Frauen des Orients müsse «als eine ernsthafte und notwendige Konsequenz der revolutionären Bewegung gesehen werden, die sich in der ganzen Welt abspielt». Die Frauen des Ostens kämpften «nicht nur für das Recht, auf der Straße gehen zu dürfen, ohne die Tschadra (den Körperumhang) zu tragen, wie viele Menschen vermuten. (...) Wenn die Frauen, die die Hälfte jeder Gemeinschaft bilden, im Gegensatz zu den Männern stehen und nicht die gleichen Rechte haben wie sie, dann ist es für die Gesellschaft offensichtlich unmöglich, voranzukommen: Die Rückständigkeit der östlichen Gesellschaften ist ein unwiderlegbarer Beweis dafür.»
Eine Delegierte aus Sowjetisch-Mittelasien, von der nur der Name Bibinur überliefert ist, betonte derweil, es sei noch ein weiter Weg bis zur Befreiung der Frau im Orient: «Wir müssen unermüdlich kämpfen und uns für die Emanzipation aller unterdrückten Völker des Ostens einsetzen. Wir Frauen sind aus unserem Albtraum der Unterdrückung erwacht, und jeden Tag stärken wir ihre Reihen mit all unseren besten Kräften.» So forderte der Kongress die volle Gleichberechtigung der Frau, den Zugang zu jedwedem Bildungsgang, gleiche Rechte für beide Ehepartner und Abschaffung der Polygamie, die bedingungslose Zulassung von Frauen zur Beschäftigung in Regierungs- und Verwaltungseinrichtungen – sowie die Einrichtung von lokalen Ausschüssen für die Rechte und den Schutz der Frauen in Städten, Gemeinden und Dörfern vor Gewalt.
Konkret zeitigte Baku einen kurzlebigen Propaganda- und Aktionsrat der Orientvölker, dem unter anderem Sergej Kirow, Nariman Narimanow, Michail Pawlowitsch, Konstantin Skatschko und Jelena Stassowa angehörten. Als erfolgreicher erwies sich die 1921 ins Leben gerufene Kommunistische Universität der Völker des Ostens in Moskau. Sie diente der Ausbildung von Kadern der kleinen oder erst zu bildenden kommunistischen Parteien in kolonialen und halbkolonialen Ländern. Die Lehranstalt bestand bis 1938, als sie im Rahmen der stalinistischen «Säuberungen» geschlossen wurde. Als Organisation der Fachvertreter entstand eine Gesamtrussische Wissenschaftliche Vereinigung der Orientalisten.
2010 – zum 90. Jahrestag des Kongresses – erinnerte eine internationale Tagung in Baku an das Ereignis. Die aserbaidschanische Historikerin Solmaz Rüstemova-Tohidi sagte damals, der Platz des Kongresses in der Geschichte sei unbestritten. «Bei all den deklamatorischen und pompösen Reden und Losungen» seien die dort diskutierten Themen «von erstrangiger Bedeutung» gewesen: «Indem sie mit prominenten Persönlichkeiten der kommunistischen und Arbeiterbewegung der westlichen Länder sprachen, Meinungen austauschten und sich mit den Problemen der anderen Seite vertraut machten», seien teils einfache Leute aus verschiedenen östlichen Ländern «in die Diskussion über solche, für ihre Völker lebenswichtigen Probleme einbezogen» worden. Der Kongress sei «für diese Menschen zu einer Schule der politischen Erfahrung» geworden, die ihnen «ein Gefühl des Vertrauens in ihre eigenen Rechte und Möglichkeiten» gegeben habe. Es ging also um solche Strategien der Selbstermächtigung, die im heutigen Sprachgebrauch oft als «Empowerment» bezeichnet werden.
Dieser Text erschien zuerst im «ND» vom 29./30.8. 2020. Eine längere Fassung des Textes mit ausführlichen Quellen- und Literaturhinweisen findet sich hier online auf der Seite des Willi-Münzenberg-Forums.
Mario Kessler ist u.a. Vertrauensdozent der RLS. Er forscht und publiziert zur Geschichte des Zionismus, des Antisemitismus sowie der Arbeiterbewegung mit dem Schwerpunkt Historische Kommunismusforschung.