Hintergrund | Deutsche / Europäische Geschichte - Gesellschaftstheorie - Engels 200 Von einem, der auszog, die Welt zu verändern

Friedrich Engels in Manchester

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Michael Brie,

Am 19. November 1842 kommt Friedrich Engels mit dem Schiff «Sir Edward Banks» in London an, neun Tage vor seinem 22. Geburtstag. Er ist jung, rebellisch, brillant und auf der Suche. Fast alles liegt noch vor ihm. Gerade hat er einen einjährigen freiwilligen Militärdienst bei der Garde-Artillerie-Brigade hinter sich. Ein späterer Steckbrief der Polizei gibt seine Größe mit fünf Fuß, sechs Zoll rheinisches Maß an, das sind 1,76 Meter. Er ist schlank und dunkelblond. Die früheste erhaltene fotografische Aufnahme zeigt Engels aufrecht auf einem Stuhl sitzend, bestens angezogen mit Weste, Gehrock und Uhrkette sowie Halstuch. Das ist der Mann, der die Welt verändern wollte. Sein linkshegelianischer Imperativ: «Die Frage ist bisher immer gewesen: Was ist Gott? Und die deutsche Philosophie hat die Frage dahin gelöst: Gott ist der Mensch. Der Mensch hat sich nur selbst zu erkennen, alle Lebensverhältnisse an sich selbst zu messen, nach seinem Wesen zu beurteilen, die Welt nach den Forderungen seiner Natur wahrhaft menschlich einzurichten, so hat er das Rätsel unserer Zeit gelöst.»

Was Engels nach England mitbrachte, war eine radikale Freiheitsorientierung, ein Verständnis von Hegels Fortschrittsdialektik sowie in die Kindheit zurückreichende Eindrücke von frühkapitalistischen Verhältnissen. Er wuchs als Fabrikantensohn mitten in einer Arbeitersiedlung Barmens auf, die seine Vorfahren gebaut hatten. Dies war bereichert um langjährige Einblicke in die Kaufmannspraxis sowie in die intellektuelle Szene Deutschlands. Als Autor der «Rheinischen Zeitung» und wichtiger linksorientierter Zeitschriften, als Mitglied des Kreises der Berliner Freien war er in den Kreis der radikalen preußischen Intelligentsia vorgestoßen und erhielt – als einer der Jüngsten – wachsende Anerkennung. Wie Arnold Ruge schreibt: «Dieser liebenswürdige junge Mensch überholt alle die alten Esel in Berlin». Friedrich Engels gehörte im Sommer 1842 zum äußersten linken Flügel der radikalen deutschen Demokraten. In einem Spottepos, verfasst unter dem Pseudonym Friedrich Oswald mit Edgar Bauer, schreibt er von sich: «Ist Oswald, grau berockt und pfefferfarb behoset,/ Auch innen pfefferhaft, Oswald der Montagnard,/ Der wurzelhafteste mit Haut und auch mit Haar./ Er spielt ein Instrument: das ist die Guillotine,/ Auf ihr begleitet er stets eine Kavatine;/ Stets tönt das Höllenlied, laut brüllt er den Refrain:/ Formez vos bataillons! aux armes, citoyens!»

Engels brachte zudem nach England eine Fragestellung mit, die Moses Heß, der erste deutsche kommunistische Philosoph, entwickelt hatte. Heß ging davon aus, dass Deutschland die philosophische Revolution vollzogen habe, Frankreich die politische und England nun die soziale Revolution durchführen würde und damit zum Vorreiter für ganz Europa werde. Von der Richtigkeit dieser These war Engels überzeugt. Er war in dieser Hinsicht durch und durch Heßianer. Seine Fragen, an denen er in den knapp zwei Jahren in England arbeitet – soweit ihn nicht der Frondienst in dem Unternehmen Ermen&Engels auffrisst – sind: Steht England vor einer sozialen Revolution der arbeitenden Klassen, die das Versprechen einer freien Gesellschaft der Gleichen verwirklicht? Was wäre ihre Charakter? Wie kann man sie begründen? Wer sind die treibenden Kräfte? In welchem Zusammenhang steht dies mit gesellschaftlichen und politischen Bewegungen auf dem europäischen Kontinent?

Die Firma Ermen&Engels ihrerseits hatte eine ganz andere Agenda: Kurz bevor Engels ankam, im Sommer 1842, hatte die englische Regierung mit äußerster Entschlossenheit den Generalstreik im Norden Englands, darunter vor allem in Manchester, niedergeworfen. Die Firma annonciert: «Die Firma Ermen and Engels beeilt sich, den staatlichen Autoritäten, der Polizei und den Spezialkräften ihren tief empfundenen Dank für ihre sehr effizienten und prompten Maßnahmen auszudrücken, die ergriffen wurden, und für die sofortige Hilfe, die gegeben wurde, um während der jüngsten Unruhen den Schutz ihrer Arbeiten und der von ihr angestellten Personen zu gewährleisten.» Es ist dieser Widerspruch zwischen eigenem revolutionären sozialistischen Engagement und der Arbeit für ein kapitalistisches Unternehmen, der Engelsʼ Leben auch die nächsten drei Jahrzehnte immer wieder prägen wird.

Manchester ist der ideale Ort, um in den 1840er Jahren zu studieren, wie die Welt sozialistisch revolutioniert werden könnte. Es ist die Shock-City des Zeitalters, wird mit Athen von Perikles verglichen. Manchester ist das industrielle Herz des globalen Baumwollkomplexes, der Sklavenhandel, kapitalistisch geführte Sklavenplantagen, moderne Leibeigenschaft, imperialistisch-militaristische Unterwerfung der Welt, globale Finanzmärkte und Herausbildung moderner Konsummärkte im Textilbereich umschließt. Hier explodiert die Produktivität und wächst eine historisch noch nie gesehene Klasse, das Industrieproletariat, heran. Hier ist auch das Zentrum des Sozialismus als Massenbewegung, der wichtigste Stützpunkt der Oweniten mit ihren großen Hallen. Hier ist das Machtzentrum des Chartismus, der Millionen organisiert, um das Wahlrecht für die lohnarbeitenden Klassen durchzusetzen, die von der Bourgeoisie bei den Reformen von 1832/4 verraten worden waren. Anstelle des Wahlrechts erhielten sie das neue Poor Law und die Arbeitshäuser, die mit der Bastille verglichen wurden.

Engels studiert dies alles. Ausgangspunkt seiner Artikel aus England sind die inneren Krisen, die im Sommer 1842 als Generalstreik in den Industrieregionen Nordenglands offen auftraten und vielen wie Vorboten einer Revolution erschienen. Im Zentrum seiner Analyse steht erstens die sozialistische und Arbeiterbewegung Englands. Nicht die Welt der Ideen von Hegel oder Kant, sondern die reale Praxis der von Arbeiterinnen und Arbeitern, von Sozialistinnen und Sozialisten getragenen Bewegungen bildete von nun an den wichtigsten Referenzpunkt. Die «Briefe aus London» von 1843 analysieren die sozialistische Bewegung – das heißt die Oweniten – und die politische Bewegung der Arbeiter, die Chartisten. Erstere würde «sich allmählich der öffentlichen Meinung» aufdrängen, letztere sei «neue, unzählbare Partei unter der Fahne der Volks-Charte».

Zweitens studiert Engels intensiv den Sozialismus und Kommunismus in Frankreich, Deutschland und der Schweiz. Ende 1843 beginnt er, für die Zeitung der Oweniten, die «New Moral World», und später für die wichtigste Zeitung der Chartisten, den «Northern Star», zu schreiben. Sein Ziel ist es, über die sozialistischen und kommunistischen Strömungen auf dem Kontinent zu informieren und einen Beitrag zur Kooperation zwischen diesen und den englischen Sozialisten und Chartisten zu leisten. Es käme darauf an, dass sie ihre «ausländischen Bruderkommunisten» kennenlernen.

Friedrich Engels stößt in England drittens auf eine Wissenschaft, die jene Klasseninteressen, die so ganz offensichtlich der englischen Politik zugrunde lagen, wissenschaftlich zum Gegenstand hat. Engels ist es, der für das deutsche radikale Denken die politische Ökonomie zu erschließen beginnt. Ende 1843 reicht er bei Marx und Ruge, den beiden Herausgebern der «Deutsch-Französischen Jahrbücher», seine Schrift «Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie» ein.

Im Februar und März 1844 schreibt Engels viertens eine Serie von Artikeln über die englische Geschichte. Sie sind für die «Deutsch-Französischen Jahrbücher» bestimmt. Dort erscheint aber nur der erste Artikel. Die anderen werden im Herbst 1844 in dem in Paris erscheinenden deutschsprachigen Wochenblatt «Vorwärts!» abgedruckt.

Fünftens sammelt Engels empirisches Material über die Lage der Arbeiterinnen und Arbeiter in England – und dies in den sozialen, politischen und kulturellen Dimensionen. Wie er in seiner Schrift «Zur Lage der arbeitenden Klasse in England» schreibt: «Ich hatte während einundzwanzig Monaten Gelegenheit, das englische Proletariat, seine Bestrebungen, seine Leiden und Freuden in der Nähe aus persönlicher Anschauung und persönlichem Verkehr kennenzulernen und zugleich meine Anschauung durch den Gebrauch der nötigen authentischen Quellen zu ergänzen.»

Nach seiner Rückkehr aus Manchester im Herbst 1844 nach Barmen beginnt Engels die Arbeit an seiner Schrift «Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Nach eigner Anschauung und authentischen Quellen». Sie erscheint im Frühjahr 1845 bei Otto Wigand in Leipzig und ist Engels’ erstes und letztes großes Werk als Solist. Er ist noch keine 25 Jahre alt. Hier wird deutlich, wozu er auf eigenen Füßen stehend in der Lage ist. Es ist Engels’ originärste Schrift überhaupt. In ihr wird auch deutlich, dass er keinesfalls dazu «bestimmt» war, die «zweite Violine» zu sein, sondern sich in seiner lebenslangen und über Marx hinaus fortwirkenden Beziehung auf diesen selbst dazu gemacht hat.

Engels’ Schrift ist deshalb so bemerkenswert, weil die Ausgangsthesen der Umwandlung der englischen Gesellschaft durch Industrialisierung und Urbanisierung, der Reduktion der zwischenmenschlichen Verhältnisse auf nackte Nützlichkeit, der krassen sozialen, kulturellen und politischen Polarisierung und der Proletarisierung der Mehrheit der englischen Gesellschaft mit großer Anschaulichkeit und Präzision bei der Darstellung vor allem der urbanen Struktur Manchesters und der Lage der einzelnen Gruppen des Proletariats verbunden werden. Die Schrift ist ein Musterbeispiel eingreifender, konzeptionell durchstrukturierter Sozialforschung. Seine Schrift entfaltet sich im Dreischritt von Ursache: die industrielle Revolution; unmittelbarer Wirkung: Erzeugung des industriellen Proletariats als entwürdigter Klasse; und bewusster Aktion des Proletariats, um sich aus dieser Lage zu befreien.

Engels folgt bei seiner Arbeit jener Maxime, die er in einem Brief an Marx vom Anfang Oktober 1844 (es ist der erste überlieferte Brief, den Engels an Marx schrieb), so ausdrückte: «Ich war in Köln drei Tage und erstaunte über die ungeheure Propaganda, die wir dort gemacht haben. Die Leute sind sehr tätig, aber der Mangel an einem gehörigen Rückhalt ist doch sehr fühlbar. Solange nicht die Prinzipien logisch und historisch aus der bisherigen Anschauungsweise und der bisherigen Geschichte und als die notwendige Fortsetzung derselben in ein paar Schriften entwickelt sind, solange ist es doch alles noch halbes Dösen und bei den meisten blindes Umhertappen.» Die Entwicklung eines konsistenten Diskurses war für Engels die Hauptbedingung, um auch in Deutschland eine handlungsfähige kommunistische Kraft zu schaffen.

In diesem Zusammenhang wird durch Engels eine strategische Orientierung entwickelt, die weit in die Zukunft wies – die Orientierung auf die organische Verbindung von Arbeiterbewegung und Sozialismus. Die Trennung von Arbeiterbewegung und Sozialismus, die er in England im Nebeneinander von Chartisten als politischer Partei der Arbeiter und Oweniten als emanzipatorischer sozial-kultureller Bewegung beobachtet hatte, so Engels, müsse aufgehoben werden, indem die Arbeiterbewegung selbst sozialistisch wird: «In seiner jetzigen Gestalt wird der Sozialismus nie Gemeingut der Arbeiterklasse werden können; er wird sich sogar erniedrigen müssen, einen Augenblick auf den chartistischen Standpunkt zurückzutreten; aber der durch den Chartismus hindurchgegangene, von seinen Bourgeoisie-Elementen gereinigte, echt proletarische Sozialismus, wie er sich schon jetzt bei vielen Sozialisten und bei vielen Chartistenführern, die fast alle Sozialisten sind, entwickelt, wird allerdings, und das in kurzem, eine bedeutende Rolle in der Entwicklungsgeschichte des englischen Volkes übernehmen.» Die politische Revolution der arbeitenden Klasse wird für Engels zum sozialistischen Hauptweg.

Engels’ Buch zur «Lage der arbeitenden Klasse in England» greift mit seiner erzählerischen Struktur auf das «Manifest der Kommunistischen Partei» von 1848 vor: Aus der Umwälzung der Produktionsweise und den Klassenkämpfen wird die Entstehung der Arbeiterbewegung begründet, die ihrerseits – um die eigene Not zu wenden – sich organisieren und einen wirtschaftlichen wie politischen Kampf führen muss, an dessen Ende eine soziale Revolution steht, die eine kommunistische Gesellschaft begründet. Engels’ Schrift von 1845 wurde in Deutschland unmittelbar nach ihrem Erscheinen vielfach besprochen oder auch in einzelnen Teilen nachgedruckt. Auch eine zweite Auflage erfolgte. Die Vertreter der preußischen Zensur schätzten das Werk als «das beste […], welches bis heute in deutscher Sprache über die Lage der arbeitenden Klasse in England erschienen ist». Der Marburger Professor der Staatswissenschaften Bruno Hildebrand, einer der Begründer der Historischen Schule der Nationalökonomie in Deutschland, bezeichnete das Buch 1848 sogar «als das kommunistische Evangelium der Tatsachen, worauf sich alle Sozialtheorien berufen können», und widmete ihm in seinem Hauptwerk 80 Seiten.

Die Aussage, Engels habe den Marxismus erfunden, ist nicht nur mit Blick auf das Spätwerk richtig. Sie gilt auch für Engels’ Arbeiten zwischen November 1842 und April 1845 – zumindest dann, wenn man unter Marxismus die Einheit von dialektischem Denken, sozialwissenschaftlicher Analyse und strategisch orientierender Reflexion mit dem Ziel einer sozialistischen Transformation der kapitalistischen Gesellschaften auf der Basis praktisch eingreifender emanzipatorischer Bewegungen der Klasse der Arbeiterinnen und Arbeiter versteht. Es ist kein Werk von Marx, sondern es ist Engels’ «Die Lage der arbeitenden Klasse in England» vom Frühjahr 1845, das «die erste große Urkunde des wissenschaftlichen Sozialismus» (Franz Mehring) ist. Engels sah es viele Jahre später mit Recht als sein Verdienst an, der Erste gewesen zu sein, «um dem damals [Mitte der 1840er Jahre, M.B.] entstehenden, in hohlen Phrasen herumfahrenden deutschen Sozialismus eine tatsächliche Unterlage zu geben durch Beschreibung der von der modernen großen Industrie geschaffenen Gesellschaftszustände». Schon an seinen Quellen ist der Marxismus ein «Engels-Marx-Ismus».

Engels hat sich in England zwischen 1842 und 1845 systematisch Aufgaben gestellt, deren Lösung immer die Voraussetzung für eingreifendes Denken in Zeiten einer großen gesellschaftlichen Krise sind. Er formulierte eine eigene weltanschauliche Frage, orientierte sich auf handlungsfähige gesellschaftliche Kräfte, erschloss in strategischer Absicht neue Realgegenstände, arbeitete an einer eigenen Methodologie, um dies alles zu verbinden und zu verarbeiten, und schuf eingreifende Erzählungen, die einen neuen politisch-strategischen Diskurs begründeten. Davon kann man, davon muss man lernen, wenn man selbst auf der strategischen Suche ist. Es sind genau diese fünf Aufgaben, die wir heute für unsere Zeit auch lösen müssen.

Zu Engelsʼ 200. Geburtstag kann man nur empfehlen: «Die Werke von Friedrich Engels wurden immer wieder verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie wieder neu zu studieren!» – Mit dem Ziel der eigenen Arbeit an zeitgemäßen eingreifenden Analysen und neuen Orientierungsprogrammen in Zeiten einer großen Krise.