In ihrer Grundsatzrede am 27.11.2019 vor der Wahl zur Präsidentin der Europäischen Kommission hatte Ursula von der Leyen angekündigt: «Den Menschen geht es um Gerechtigkeit und Gleichheit in jedem Sinne des Wortes. Deshalb habe ich Nicolas Schmit (den EU-Beschäftigungskommissar - d.Verf.) damit beauftragt, unsere europäische Säule sozialer Rechte umzusetzen und Armut, angefangen bei der Kinderarmut, zu bekämpfen. Er wird einen Rechtsrahmen vorlegen, der sicherstellt, dass jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer in unserer Union einen gerechten Mindestlohn erhält.» (Link)
Frank Puskarev, PhD, ist Referent für Europa-, Kultur- und Medienpolitik in der Fraktion DIE LINKE im Thüringer Landtag und war zuvor 10 Jahre wissenschaftlich-parlamentarischer Assistent im Europäischen Parlament.
Thomas Händel ist stellvertretender Vorsitzender der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Der gelernte Elektroniker studierte an der Akademie der Arbeit in Frankfurt am Main. Von 1972 bis 2004 war er Mitglied der SPD, von 2005 bis 2007 im Vorstand WASG, seit 2007 Mitglied der LINKEN, von 2009 bis 2019 Abgeordneter im Europaparlament und Vorsitzender des Beschäftigungsausschusses. Er arbeitete ab 1979 beim Vorstand der IG Metall und war von 1987 bis 2012 Geschäftsführer in der IG Metall in Fürth.
Man war überrascht. Sollte es trotz schwieriger Mehrheitsverhältnisse in Europa dennoch möglich sein, sozialpolitische Fortschritte zu erzielen? Nun liegt der Entwurf dieser Richtlinie auf dem Tisch und enttäuscht nahezu auf ganzer Linie. Er gleicht eher dem berühmten «Potemkinschen Dorf». (Link)
Die vorgelegte Richtlinie sollte das Prestigeprojekt von Kommissar Schmit werden und angemessene Mindestlöhne in den Mitgliedstaaten sichern. (Link) Davon kann nun keine Rede mehr sein. Schon im Eingang der Richtlinie stellt die Europäische Kommission (KOM) klar, dass diese keinen Mitgliedstaat verpflichtet, Mindestlöhne einzuführen oder in einer bestimmten (angemessenen) Höhe allen zuzusichern.
Vielmehr ist die Richtlinie ein Katalog an Wünschen und Vorschlägen: Die Mitgliedstaaten sollen Tarifverhandlungen fördern und Flächentarifverträge fördern, sollen angemessene Löhne gewährleisten und der Kommission berichten. Aber, sie müssen nicht. Die postulierte Stärkung der Tarifvertragssysteme ist löblich, bleibt aber eine Schimäre, solange man nichts unternimmt, um die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen auf nationaler und auf europäischer Ebene zu stärken und die Schwächung der Gewerkschaften zu verhindern. Und: kein einziger der Vorschläge ist rechtlich verpflichtend, nirgendwo eine Zusage für Arbeitnehmer*innen, dass sie sich auf die Zahlung von armutsfesten Mindestlöhnen verlassen können.
Argumentiert wird, dass der Vertrag über die Arbeitsweise der europäischen Union (AEUV) im § 153 keine Möglichkeit ließe, in Sachen Entgelten auf europäischer Ebene wirksam zu werden. Das ist jedoch strittig. So heißt es in Absatz 4 des Artikels zwar, dass dieser nicht für das Arbeitsentgelt (u.a.) gilt. Das schließt eine Befassung auf europäischer Ebene mit Arbeitsentgelten und damit auch einer angemessenen Höhe des Mindestlohnes jedoch nicht aus. Wäre dem so, würde zum Beispiel. Art. 157 (gleiches Entgelt für Männer und Frauen) dem widersprechen.
Man könnte demnach auch andere Artikel des AEUV heranziehen, um ein europäisches Mindestlohnniveau zu verankern, so zum Beispiel das Ziel der Aufwärtskonvergenz in Verbindung mit gleichwertigen Lebensverhältnissen und der Kompetenz der KOM, sich eine Kompetenz anzueignen, wenn die Mitgliedstaaten nicht in der Lage sind, ein Problem- oder Politikfeld überall und angemessen zu bearbeiten (sog. Kompetenzkompetenz). Dies ist aber in der Kommission in ihrer Gesamtheit und vor allem im Rat mehrheitlich weder gewollt noch derzeit anders durchsetzbar.
Ein europäisches Mindestlohnniveau wäre dringend nötig. Selbstredend kann dies kein nominal einheitlicher Mindestlohn sein. Dazu sind die jeweiligen Volkswirtschaften und Branchen zu unterschiedlich. Eine koordinierte Mindestlohnpolitik in der EU wäre allerdings höchst sinnvoll. Laut dem letzten Mindestlohnbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (Link) bewegen sich die nationalen Mindestlöhne in der EU derzeit zwischen knapp zwölf Euro in Luxemburg und weniger als zwei Euro in Bulgarien.
Nach der Europäischen Säule sozialer Rechte sollen Mindestlöhne allen Beschäftigten in der Union einen «angemessenen Lebensstandard» (Link) ermöglichen. Doch die jeweiligen nationalen Mindestlöhne in vielen EU-Staaten liegen zum Teil deutlich unterhalb des Existenzminimums und sind faktisch Armutslöhne. Ziel einer europäischen Mindestlohnpolitik müsste es daher sein, (Mindest-) Löhne über der Armutsgefährdungsgrenze zu etablieren. Diese Grenze liegt nach OECD-Standards bei 60 Prozent des jeweiligen nationalen Medianeinkommens. Das fordert auch der Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB).
Richtig ist: In vielen EU-Ländern würde das zu kräftigen Lohnerhöhungen führen. Aber Löhne über der jeweiligen nationalen Armutsgrenze wären nicht nur ein Befreiungsschlag gegen die mittlerweile vor allem im europäischen Süden grassierende Armut. Sie könnten auch dazu führen, dass die durch Notlagen erzwungene Armutsmigration - exemplarisch seien hier vor allem osteuropäische Feldarbeiter*innen genannt - geringer wird. Das tatsächlich soziale Europa käme einen kleinen Schritt näher. Im Übrigen müsste auch in Deutschland dann der Mindestlohn auf annähernd 13 Euro steigen.
Für diese Wunschliste aber bräuchte es das Rechtsinstrument einer Richtlinie eigentlich gar nicht. Eine Mitteilung der Kommission hätte denselben Effekt. Mit diesem Richtlinien-Vorschlag wird mithin Aktion nur vorgetäuscht und auf die Ebene der Mitgliedsstaaten und den Sankt-Nimmerleinstag verschoben. Damit bleibt es bei aller anzuerkennender Bemühungen eine vergebene Chance. Und für die Öffentlichkeit ein «Potemkinsches Dorf».