Teutsche und deutsche Akademiker
Akademiker, also geistig Arbeitende, sind von Hause aus Individualisten. Die meisten von ihnen, auch die angehenden, bleiben für die Gesellschaft, in der sie wirken, unsichtbar. Eine Ausnahme bildeten die Studierenden der Jahre 1967/68 – sie taten in der alten Bundesrepublik etwas, das selbst Studierende fast nie tun: als Gruppe in Erscheinung zu treten. Im kollektiven Gedächtnis haben sich diese so genannten Achtundsechziger, zumeist in Akademikerfamilien zwischen den späten 1930er und späten 1940er Jahren geboren, als eine ganze Generation festgehakt. Natürlich ist das ein Missverständnis; sie waren eine Minderheit, wenngleich eine lautstarke und auch eine keineswegs wirkungslose: Mit ihrem Mut, aufzustehen und laut «Nein» zu sagen, lüfteten sie die westdeutsche Gesellschaft durch und leisteten damit etwas, was schon in der Revolution von 1848 auf der Tagesordnung gestanden hatte: aus dem willigen deutschen Untertanen einen selbstbewussten Bürger zu machen. In Deutschland dauert eben manches ein wenig länger.
Mit ihrem Ungehorsam hatten sie sich gegen ihre Väter (seltener gegen ihre Mütter) gestellt, die das Vergangene beschwiegen, das zwischen Leichenbergen verborgen lag. Allerdings war nur wenigen Achtundsechzigern bewusst, dass auch viele ihrer akademischen Väter einst als Gruppe in Erscheinung getreten waren: 1933, als angehende Akademiker, nicht beim Sit-in, sondern am Scheiterhaufen. Der Unterschied zwischen 1933 und 1967/68 springt ins Auge. Die Gruppe von 1933 besaß das – wenn auch anfangs etwas zögerliche – Wohlwollen der Regierenden; hingegen löste die Gruppe von 1967/68 alle möglichen Gefühle aus; Wohlwollen war nicht darunter.
Bücher brannten 1933 im ganzen Reich, eine besondere Kulisse boten am 10. Mai jedoch die Universitätsstädte. Am 21. März 1933 hatte bei der Eröffnung des am 5. März 1933 gewählten Reichstags in der Potsdamer Garnisonkirche Reichspräsident Hindenburg den Nazis per Handschlag mit Hitler die höhere Weihe des deutschen Militarismus verliehen. An den Scheiterhaufen zeigten die angehenden deutschen Akademiker den Nazis, dass auch sie Holz aus ihrem Holze waren. Denn anders als 1967/68 bildeten diese Akademiker in spe in ihrer Generation keine Minderheit.
Eine der wichtigsten deutschen Universitätsstädte war Bonn. Auch hier stand Marx’ «Kapital» auf Platz 1 des zu Verbrennenden – das ist nicht überraschend. Überraschend hingegen ist, dass dieses Buch heute, in Bronze gegossen, zusammen mit 59 anderen, darunter Rosa Luxemburgs «Akkumulation des Kapitals», im Bonner Marktplatz eingelassen wurde, eine Schöpfung von Horst Hoheisel und Andreas Knitz. Einen entsprechenden Beschluss hatte der Rat der Stadt Bonn im Juli 2010 auf Initiative von Wolfgang H. Deuling – einstimmig – gefasst. Drei Jahre später, am 10. Mai 2013, war das Erinnerungsmal eingeweiht, finanziert unter anderem mit Spendengeldern von Bonner Bürgerinnen und Bürger in Höhe von mehr als 20.000 Euro.
Das war ein – später – Sieg der Töchter und Söhne über die Mütter und Väter.
Nicht erst seit heute und nicht nur aus Kreisen der AfD wird den Achtundsechzigern alles Mögliche vorgeworfen, besonders entrüstet und gern ein »Werteverfall«. Damit soll letzten Endes lediglich vergessen gemacht werden, wann in Deutschland moralische Werte verloren gegangen sind und durch wen, und mehr noch: dass es die wütenden Töchter und Söhne waren, die Ende der 1960er Jahre den deutschen Universitäten ihre Würde zurückgaben, auch der in Bonn.
Während in Berlin am 10. Mai 1933 die Schriften und Reden Rosa Luxemburgs insgesamt verbrannt wurden, waren die Nazis in Bonn wählerischer. Sie suchten sich ein einzelnes Werk aus – die Akkumulation des Kapitals; keine ihrer propagandistischen Schriften und auch nicht ihre Werkausgabe. Nun mag dies ein Zufall sein, aber wahrscheinlicher ist, dass es sich um eine bewusste Wahl gehandelt hat. Dazu muss man beachten, dass die Bücherverbrennungen in dieser Phase vor allem akademische Veranstaltungen waren. Aus dem akademischen Leben sollte all das getilgt werden, was aus der Sicht der Faschisten fremd, jüdisch, pazifistisch, bolschewistisch und «nicht völkisch» war.
Auch die Nationalökonomie, oder Volkswirtschaftslehre, war gefordert, ein deutliches Zeichen ihrer Ergebenheit gegenüber dem neuen Regime zu setzen. Rosa Luxemburg war vor diesem Hintergrund eine besonders geeignete Zielscheibe – als emanzipierte Frau, Jüdin, Kommunistin und Vertreterin der marxschen Richtung im ökonomischen Denken verkörperte sie alles, was vernichtet werden sollte. Ihre «Akkumulation des Kapitals» war neben ihrer Promotionsschrift ihr einziges, wirklich akademisch zu nennendes Buch, das gleichzeitig für die kommunistische Bewegung in Deutschland bis in die zweite Hälfte der 1920er Jahre politisch konstituierende Bedeutung hatte. Im akademischen Raum dürften die Diskussionen, die das Werk mit Bezug auf den Charakter des deutschen Imperialismus vor und nach dem Weltkrieg ausgelöst hatte, bekannt gewesen sein. Linke und kommunistische Intellektuelle wie Richard Sorge, Eduard Alexander, Nikolai Bucharin oder Fritz Sternberg bezogen sich in ihrer Gesellschaftskritik in den 1920ern darauf. Richard Sorge hatte z.B. in seiner 1928 erschienen Schrift «Der neue deutsche Imperialismus», inhaltlich anknüpfend an Luxemburgs Klassenanalyse, bereits auf die enge Verbindung von Faschismus und Großkapital verwiesen.
Dieses Zusammenfallen von Wissenschaftlichkeit und politischer Wirkung war ein erster Grund, warum das Buch brennen musste. Ein zweiter Grund war, dass Luxemburg in marxscher Tradition die Entwicklung des Kapitalismus und des Imperialismus streng materialistisch analysiert und davon ausgehend die Spaltungen in der Gesellschaft aus den ökonomischen Interessen ableitete. Sie blieb nicht bei der Konstatierung des Gegensatzes von Kapital und Arbeit in einem Land stehen, sondern lieferte eine Analyse der Klassenwidersprüche im globalen Rahmen. Damit gab sie dem Internationalismus, der internationalen Solidarität eine theoretische Fundierung. So entzog das Werk jedem «völkischen Gedanken» und jedem «ökonomisch begründeten» Antisemitismus die Basis. Aber die Forderung, das «völkische Prinzip» zur Leitschnur der akademischen Nationalökonomie zu machen, war bereits zu diesem frühen Zeitpunkt der faschistischen Diktatur zum Standard an den Universitäten geworden. Drittens zeigte sie am Beispiel von Militarismus und Kolonialpolitik, wie Kriege aus der Logik der Kapitalverwertung erwachsen. Ihre Analyse gab auch in dieser Hinsicht Mystifizierungen keinen Raum, sie benannte schonungslos Gewinner und Verlierer der aggressiven imperialistischen Politik. Viertens zeigte sie, wie sich Großkapital und Staat immer mehr verflechten. Die letztgenannten zwei Punkte waren zu diesem Zeitpunkt heikel, hatte sich doch die NSDAP gerade von ihrer sozialen Demagogie verabschiedet.
Am 2. Mai waren zudem die Gewerkschaften zerschlagen worden. Dieser Schwenk war nicht ohne Risiko und jede Diskussion dieser Verflechtungen musste verhindert werden. Fünftens schließlich kritisierte sie in der «Akkumulation» Quellen, auf die sich auch die «völkische» Nationalökonomie meinte beziehen zu können. Ihre Kritik an Rodbertus und anderen, die mit ihren Auffassungen zur Rolle der bäuerlichen Familienwirtschaften als Ausgangspunkt wirtschaftlicher Entwicklung oder einem starken nationalen Bezug als Begründung von «Blut-und-Boden»- oder «Volksgemeinschafts»- Vorstellungen ausbeutbar schienen, wurde zurecht als Delegitimierung verstanden. Gerade der Rückgriff auf die durch die Verhältnisse eher beschränkte deutsche Nationalökonomie des 19. Jahrhunderts sollte ja den Angriff auf die «liberale» Richtung im ökonomischen Denken zur Durchsetzung nationalistischer Positionen begründen.
Wie man sieht, gab es also, abgesehen vom Namen der Autorin, viele Gründe, die «Akkumulation des Kapitals» aus dem akademischen Leben in einem symbolträchtigen Akt zu verbannen, nicht einfach nur aus den Bibliotheken auszusondern. Welcher der Gründe letztlich den Ausschlag gab, sei dahingestellt.
Freilich sollte dieser Kniefall der akademischen Nationalökonomie sie nicht vor weitgehender Bedeutungslosigkeit in der Zeit des Faschismus retten. Der faschistische Staat und seine Exponenten hielten nicht viel von einer nationalökonomischen Begründung ihrer Herrschaft. Ihnen reichten ideologische Versatzstücke, die pragmatisch zur eigenen Legitimierung nutzbar waren.