Bericht | Soziale Bewegungen / Organisierung - Geschlechterverhältnisse - Libanon / Syrien / Irak - Befreiung von Gewalt Zum internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen

Wie der autoritäre Staat mit patriarchalen Mitteln Widerstand zu brechen versucht

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Aktivistinnen der syrischen Initiative «Families for Freedom» bei einer Mahnwache mit Bildern von inhaftierten und verschwundenen Angehörigen vor dem Palais des Nations in Genf – in der Mitte Fadwa Mahmood.
  Foto: Families for Freedom

Gewalt gegen Frauen als gesellschaftliches Problem zu betrachten und die Gewaltpotentiale der häuslich-privaten Sphäre ohne Tabus anzusprechen, ist seit jeher eine Konstante feministischer Kämpfe. Geschlechterspezifische Gewalt ist dabei so komplex und vielschichtig wie das Patriachat selbst. Sie begegnet Betroffenen im eigenen Schlafzimmer oder am Arbeitsplatz, sie ist präsent auf der Clubtoilette oder auf dem täglichen Nachhauseweg. Sie bahnt sich ihren Weg von der größten gesellschaftlichen Dimension in die vermeintlich privatesten und vertrautesten Situationen. Sie ist impulsiv, unerwartet plötzlich und dennoch strukturell verankert. Gewalt gegen Frauen stellt einen der Grundpfeiler patriarchaler Strukturen dar.

Doch was passiert, wenn sich ein autoritärer Staat dieses patriarchalen Gewaltinstruments bedient, um Widerstand zu brechen? Was bedeutet also Gewalt gegen Frauen im Kontext einer Revolution gegen repressive Regime?

Bahar Oghalai ist Sozialwissenschaftlerin mit Fokus auf Intersektionen von Rassismuskritik und Feminismus. Sie promoviert zu Politisierungsbiographien diasporischer Feminist*innen aus dem Iran und der Türkei in Deutschland. 

Maria Hartmann forscht, arbeitet und engagiert sich politisch zu Fragen von transnationaler Solidarität und Diaspora-Aktivismus im Kontext der neuen emanzipatorischen Bewegungen in Westasien/ Nordafrika.

Im Kontext der Revolutionen der letzten zehn Jahre in Westasien und Nordafrika wurde Gewalt gegen Frauen seitens der autoritären Regime als eine systematische Strategie eingesetzt, um Protest- und Widerstandsbewegungen zu brechen. Dass der autoritäre Staat diese Gewalt strategisch einsetzt, hält uns hierbei erneut die wirkungsmächtige, komplexe Verflechtung von Patriachat und Diktatur vor Augen: So sind es jene gesellschaftlich omnipräsenten sexistischen und patriarchalen Strukturen, die die Plattform darstellen, auf der Gewalt gegen Frauen als Repressionsmittel für Diktaturen überhaupt wirkmächtig sein kann. Dabei beschränkt sich die Gewalt unter Umständen nicht auf eine unmittelbare, physische: Wollen wir ihr Machtpotential wirklich begreifen, müssen wir auch die psychische Gewalt verstehen, die strategisch gegen Frauen angewendet wird, um ihren Widerstand zu brechen. Das Spielen mit ihren gesellschaftlichen Rollen, zugeschriebenen Verantwortungen und Identitäten sind hierbei zentral.

Knast und Mutterschaft als Erpressungsmechanismus

Ein Beispiel hierfür ist Syrien. Dort inhaftiert das Regime al-Assads seit jeher systematisch Frauen*, die sich kritisch gegenüber dem Regime äußern und die sich an der syrischen Revolution beteiligten. Auch wenn es angesichts des Aufstandes ab 2011 zu einer der größten Verhaftungswellen von Tausenden von widerständigen Frauen* kam, ist diese Repressionsform eine altbewährte Strategie des Regimes, die bereits weit in die Jahre vor der Revolution zurückreicht.

Die heute im Berliner Exil lebende Fadwa Mahmood ist eine jener Frauen, die schon in den 1980er und 1990er Jahren als Dissidentin gegen das Regime von Hafez al-Assad, Bashars Vater, politisch aktiv waren. Lange Jahre hat sie im Untergrund mobilisiert, politisiert, Aufklärung geleistet. 1992, damals schon Mutter von zwei kleinen Kindern, kostete sie dieser Aktivismus zwei Jahre Haft. In einem Interview erinnert sie ihre Hafterfahrung:

Ich war im Keller unter der Erde eingesperrt für ein Jahr und zwei Monate. Wir wussten dort nicht, ob es Tag oder Nacht ist. Man sieht nichts und man weiß überhaupt nicht, was draußen in der Welt passiert. Man hört nur die Stimmen der Menschen, die neben den Zellen gefoltert werden.[1]

Fadwa ließ sich davon nicht einschüchtern. Nach ihrer Freilassung machte sie weiter. Doch die Dimension der Abschreckung, die die Androhung von Gewalt in Gefängnissen entfalten kann, hat eine geschlechtsspezifische Komponente. Es ist, als würde man den empfindlichsten Kern eines ganzen Ökosystems treffen: Einer Frau Verhaftung anzudrohen, bricht widerständige Zusammenhänge auf komplexe Art und Weise. Fadwa beschreibt es so:

Ich erinnere mich an einen Moment, als ich damals aus der Haft freikam. Mein Sohn Maher, der jetzt selbst in Syrien inhaftiert ist, war damals neun Jahre alt. Er fragte mich damals: Mama, wie kannst du einfach weggehen und uns allein lassen? Wir haben doch niemanden anders, du bist unsere Mutter. Wie kannst du uns verlassen?

Das Regime weiß die Wirkmacht der Erwartungshaltung an Mütter, die Säule der stetigen Verfügbarkeit und Liebe in der Familie zu sein, für sich zu nutzen. Mutterschaft wird somit zum zentralen Faktor der psychischen Erpressung von Inhaftierten, um Geständnisse zu erzwingen, Personen zu verraten und Gefangenentausch – etwa die inhaftierte Mutter im Tausch gegen den nicht inhaftierten, politisch aktiven Sohn im Untergrund – zu forcieren. Das Wissen um die immense Verantwortung, die sie zum Kern eines gesellschaftlichen Systems macht, das zusammenfällt, wenn sie nicht da sind, macht Frauen psychisch angreifbar. Auch hier werden sexistische Zuschreibungen benutzt, um gegen Widerstand mit voller Gewalt vorzugehen.

Zerstörung von Familiensystemen als Repressionsform

Darüber hinaus ist die systematische Zerstörung von Familienstrukturen ebenfalls Teil eines Repressionsmechanismus. 2012 verhaftete das syrische Regime Fadwas Mann und ihren Sohn, die seitdem als «verschwunden gemacht» gelten. Zwei von mehreren hunderttausend Fällen politischer Verhaftung und Verschwindenlassen in Syrien seit dem Ausbruch des Aufstandes. Fadwa erzählt:

Eine Verhaftung tut weh, und zwar auf allen Ebenen. Nehmen wir an, ich bin ein Familienoberhaupt oder verantwortlich für eine Familie. Das heißt, ich muss arbeiten und ich habe ein Gehalt. Wenn mich also das Regime verhaftet, dann gibt es keine finanziellen Ressourcen mehr, von denen meine Kinder oder meine Familie leben können. Die erste Ebene ist also die ökonomische Ebene. [...] Weiterhin ist es nicht so, dass nur man selbst verhaftet wird, wenn man politisch aktiv ist oder man irgendetwas gegen dieses Regime getan hat. [...] Wenn sie zum Beispiel einen Genossen nicht verhaften konnten, dann verhafteten sie stattdessen dessen Frau oder dessen Schwester, um ihn zu zwingen, sich freiwillig auszuhändigen.

Sexualisierte Gewalt und Rape-Torture im Gefängnis

Sexualisierte Gewalt als spezifische Form der repressiven Gewalt gegen Aktivist*innen bietet weitere empfindliche Angriffsfläche. Schon im Jugoslawienkrieg wurde sexualisierte Gewalt als Kriegswaffe zur Zersetzung des politischen Gegners verwendet. Auch in Syrien setzt das Assad-Regime auf Rape-Torture (Vergewaltigung von Inhaftierten) als systematische Form der Folter im Gefängnis. Die psychischen Folgen für die betroffenen Aktivist*innen sind in der Regel tiefgreifend, ungeachtet ihres sozialen Familienhintergrundes. Die syrische Frauenrechtsorganisation Women Now for Development arbeitete kürzlich in der Dokumentation «I Was There» die komplexen psychischen Folgen von sexualisierter Gewalt als Hafterfahrung anhand von Zeug*innenaussagen Betroffener auf. Eine Überlebende berichtet:

Gegenüber allen Formen und Methoden der Folter ist sexualisierte Gewalt eine der grausamsten. Denn am Ende ist es ein Akt, der uns anders, der uns persönlicher schmerzt. Ich selbst fühle mich manchmal schuldig bei dem Gedanken, dass er mir das hat antun können und ich es zugelassen habe. Selbst noch lange nachdem ich das Thema für mich aufgearbeitet hatte und es als Form der Folter habe einordnen können, war das so. Immer Noch gibt es Momente, in denen ich mir die Schuld zuschiebe, auch wenn ich nicht schuldig bin. Der überdauernde Effekt auf die Überlebenden ist so tiefgreifend.[2]

Über die Ebene des persönlichen Schmerzes hinaus spielen auch gesellschaftliche Wertevorstellungen eine Rolle bei der Frage, welche Folgen diese Form der Folter für Frauen mit sich bringen kann – und dementsprechend auch, wie wirkmächtig sie als Repressionsmittel ist. Frauen beschreiben sehr unterschiedliche Erfahrungen, wie ihre Familien und Partner mit der Vergewaltigung umgehen. Dabei gibt es genauso Fälle bedingungsloser Unterstützung, wie Ausschluss und Victim-Blaming. Nochmals spielen sich hier also Patriarchat, Sexismus und der Machterhalt autoritärer Regime in die Hände: Vergewaltigt man eine Frau im Gefängnis, kann hierdurch potenziell auch Macht und Erniedrigung auf ihre gesamte Familie ausgeübt werden. Möglicherweise bricht hierdurch der Widerstand einer ganzen Gruppe von Dissident*innen, allein schon durch die Androhung dieser Repressionsform und den bestehenden Diskurs. Den Aussagen syrischer Aktivist*innen nach ist dies einer der Gründe, warum Frauen während der Revolution tendenziell verhaltener darin waren, sich Protestformen wie Demonstrationen im öffentlichen Raum, die zu hoher Wahrscheinlichkeit mit Verhaftung einhergingen, anzuschließen. Gerade in konservativen Zusammenhängen wird das «Ehre-» und «Beschmutzungselement» zu einem der wirkungsvollsten Mechanismen gegen die Opposition. Patriarchal ausgelegte religiöse Werte schaffen hier überhaupt erst eine Angriffsfläche für die Fragmentierung von Widerstand.

Zwei Seiten einer Medaille: das Zusammenspiel von autoritärem Staat und Patriarchat entlarven

Diese wirkungsvolle Verbindung von religiös-konservativem Patriarchat und autoritärem Staat beschrieb auch die ägyptische LGBT-Aktivistin Sarah Hegazy, hergeleitet aus ihrer eigenen schmerzhaften Erfahrung. Sie war 2017 in Ägypten wegen des Hissens einer Regenbogenfahne und ihres Aktivismus für LGBT-Rechte verhaftet worden. Am 14. Juni 2020 nahm sie sich im kanadischen Exil das Leben. In einem bewegenden Text, den sie vor ihrem Tod verfasst hat, beschreibt sie nicht nur die psychische und physische Folter des Gefängnisses, sondern auch die homophoben Demütigungen während des absurden Gerichtsprozesses und der Zeit nach der Entlassung. Sie schreibt:

Dies ist die Gewalt, die der Staat mir antat, mit dem Segen einer ‹intrinsisch religiösen› Gesellschaft. [...] Wer anders ist, wer kein männlicher sunnitisch-muslimischer Heterosexueller ist, der das herrschende Regime unterstützt, wird verfolgt, gilt als unzumutbar oder tot. Die Muslimbrüder, die Salafisten und Extremisten fanden schließlich Übereinstimmung mit den herrschenden Mächten: Sie einigten sich auf uns. Sie einigten sich auf Gewalt, Hass, Vorurteile und Verfolgung. Vielleicht sind sie zwei Seiten derselben Medaille.[3]

So richtig Hegazys Analyse ist, wollen sich viele Betroffene und Überlebende nicht mit einer passiven Opferposition abfinden. Die geteilte Erfahrung wird zu einer wichtigen Quelle von neuformiertem Widerstand und Allianzbildung. So führt etwa die systematische Exilierung von Dissident*innen, die als Teil der politischen Strategie von Regimen wie dem al-Assads in Syrien oder Sisis in Ägypten verstanden werden muss, nicht nur zu Fragmentierung in der Fremde. Da das Regime in der neuen Heimat keine Kontrolle ausüben kann, öffnen sich auch Freiräume der Aufarbeitung. Fadwa Mahmood ist hierfür ein gutes Beispiel. Sie wurde bekannt durch die Mitbegründung der Initiative «Families for Freedom», die Angehörige der Inhaftierten des Regimes im Exil zusammenbringt. In Deutschland zählt sie heute zu einer der wichtigsten zivilgesellschaftlichen Widerstandsgruppen im Kampf für eine internationale Aufklärung der Menschenrechtsverbrechen durch das syrische Regime. Zudem bilden sich in Deutschland vor dem Hintergrund fehlender staatlicher Strukturen, die auf die Bedürfnisse von Opfern sexualisierter Gewalt im Gefängnis reagieren könnten, zunehmend migrantische Selbsthilfegruppen. Mit ihnen versuchen Betroffene selbstorganisiert, therapeutische Alternativen zur Verarbeitung des Geschehenen zu schaffen – und machen hiermit gleichzeitig auf die Lücken im deutschen Gesundheitssystem aufmerksam. Diese Betroffenenzusammenschlüsse schaffen es so, die Thematik neu zu platzieren. Die Sichtbarmachung und Entlarvung der Mechanismen der Gewalt gegen Frauen als Repressionsform klärt nicht nur über den autoritären Staat auf, sondern macht auch deutlich, weshalb patriarchale Strukturen notwendigerweise als mit ihm verbunden verstanden und überwunden werden müssen.


[1] Alle Zitate von Fadwa Mahmood aus: Hartmann, Maria und Bischoff, Sophie (2021): Demokratie ist kein Denkmal! Eine virtuelle Ausstellung. Herausgegeben von Adopt a Revolution. Online hier. Zuletzt angesehen am 12.11.21.

[2] Zitat aus: Beiruty, Mohamad und Sawwan, Ameenah A. (2021): I was there. Herausgegeben von Women Now for Development. Online hier. Ab Minute 9:15 aus dem Arabischen frei übersetzt ins Deutsche von Maria Hartmann. Zuletzt angesehen am 12.11.21.

[3] Zitat aus: Hartmann, Maria und Oghalai, Bahar (2019): Nach der Kontroverse um die Regenbogenflagge. In: analyse und kritik Nr 667. Online hier. Zuletzt angesehen am 12.11.21.