Nachricht | Krieg / Frieden - Osteuropa Wirken die Sanktionen?

Aktuelle Einblicke aus Russland

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Lutz Brangsch,

Zu sehen ist das Logo eines neu eröffneten Stars Coffee Coffeeshops am ehemaligen Standort des Starbucks Coffeeshops in Moskau, Russland, Donnerstag, 18. August 2022.
Das Logo eines neu eröffneten «Stars Coffee» Coffeeshops am ehemaligen Standort des «Starbucks» Coffeeshops in Moskau im August 2022. picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Dmitry Serebryakov

Zu den umstrittenen Instrumenten politischer und militärischer Auseinandersetzungen zählten immer schon Sanktionen und Boykotte. Die Durchsetzung politischer Ziele mittels ökonomischer Gewalt hat eine lange und zwiespältige Geschichte. Dabei geht es immer um zwei Seiten – einerseits um die Einschränkung der Fähigkeit des Gegners, politisch zu Handeln bzw. Krieg zu führen, andererseits seine politische Destabilisierung durch soziale Unzufriedenheit zu erreichen. Die Einschätzungen über die Wirksamkeit der Sanktionen gegen Russland im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine gehen weit auseinander. Zuverlässige Informationen über ihre Wirksamkeit sind im Detail nur schwer zu erhalten und die Detailinformationen, die man findet, lassen sich nur schwer verallgemeinern. Zwar sind aus den Informationen zur Beschäftigungssituation und zur Entwicklung einzelner Kennziffern Rückschlüsse auf die ökonomischen Folgen zu ziehen, ob und inwieweit die Ziele der Sanktionen erreicht werden, steht allerdings auf einem anderen Blatt. Unter dem Druck der Sanktionen weisen wesentliche Kennziffern einen deutlichen Abwärtstrend auf. Der Umsatz im russischen Großhandel verringerte sich gegenüber 2021 um 15,3 Prozent, im Einzelhandel um 9,8 Prozent, bei der Personenförderung um 5,3 Prozent, im Güterverkehr um 2,9 Prozent und in der verarbeitenden Industrie um 3,3 Prozent – und das bei steigenden Preisen.

Die russländische Führung ihrerseits stellt das seit 2014 etablierte und immer weiter ausgebaute Sanktionsregime als ein Moment des Krieges des Westens gegen Russland dar. Wie schon in der Vergangenheit wird versucht, die entstandene Situation durch eine forcierte Politik der Importablösung und der Entwicklung innovativer Bereiche der Wirtschaft zu begegnen. Auch wird versucht, mit zielgerichteten Programmen die Entwicklung kleiner und mittlerer Unternehmen zu fördern. Dabei sind die hohen Weltmarktpreise von Rohstoffen, die das Land auf alternativen Märkten realisieren kann und die bessere Versorgung des Inlandsmarktes mit Kohle, Getreide und anderen Waren eine wichtige Stütze. Ziel ist die Erlangung der «technologischen Unabhängigkeit» vom Westen.

Lutz Brangsch ist wissenschaftlicher Referent mit den Arbeitsschwerpunkten «Staat» und «Demokratie» im Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Gleichzeitig werden alle Möglichkeiten genutzt, um durch «parallelen Import» auf dem Weltmarkt über Dritte Waren zu erlangen, die unter die Sanktionen fallen. Um zu verhindern, dass Nachrichten über derartige Geschäfte, die inzwischen einen Umfang von 4 Mrd. Dollar erreicht haben sollen, zu neuen Sanktionen führen, wurde ein Gesetz erlassen, demzufolge Berichte darüber verboten sind. Diese Operationen auf dem grauen oder Schwarzmarkt sind natürlich teuer, was aber bis jetzt durch Preiserhöhungen aufgefangen werden kann. Wie auch der Umgang mit den Firmen, die Russland verlassen haben oder mit Leasingverträgen in der Flugbranche, spezifische Zahlungsbedingungen bei Außenhandelsgeschäften und die Auseinandersetzungen um die Begleichung von Forderungen ausländischer Gläubiger, signalisiert dieser Umgang mit den Sanktionen, wie sehr das internationale Rechtssystem unter diesen Bedingungen erodiert.

Presseschau – Ein Blick in russische Medien

Der Umgang mit den Sanktionen in den Medien ist zwiespältig. Auf der einen Seite wird versucht, mit Berichten über erfolgreiche Projekte der Importablösung Optimismus zu demonstrieren. Die Wirtschaftszeitung Kommersant unterhält eine Seite über die Sanktionen gegen Russland wie auch eine, die die Projekte zur «Anpassung» an die neuen Bedingungen darstellt. Insgesamt bleibt der Ton aber eher kritisch. Regelmäßig wird über Analysen geschrieben, die die mangelnde Geschwindigkeit und Effektivität der Arbeit an den entsprechenden Projekten kritisieren. Die Regierung versucht, durch die Stimulierung der Nachfrage nach einheimischen Produkten die Importsubstitution zu beschleunigen. So sollen die staatlichen Verwaltungen in den nächsten Jahren komplett mit einem in Russland selbst entwickelten Paket an Bürosoftware, analog Microsoft-Office, ausgestattet werden. Allerdings fehlen auf der anderen Seite die Ersatzteile für Computertechnik.

Aber in der Gesamtschau überwiegen die negativen Folgen der durch die Sanktionen zerstörten Lieferketten. Davon sind praktisch alle Bereiche der Wirtschaft betroffen. Die Luftflotte, der Fahrzeugbau, selbst Bergbau und Erdöl- bzw. Erdgasförderung usw. leiden unter dem Mangel an Ersatzteilen oder werden nach Erschöpfen von noch bestehenden Lagerbeständen davon betroffen sein. Aus russischer Sicht ist diese Situation auch dem Ruin der in Zeiten der Sowjetunion entstandenen Industriekapazitäten in den 1990er Jahren geschuldet. Die Politik der Importsubstituierung und der Abschottung gegenüber dem westlich dominierten Weltmarkt wird unter diesem Gesichtspunkt auch als Revanche verstanden.

Ein eigenes, recht undurchsichtiges Feld bildet das Spannungsfeld von Sanktionen und Gegensanktionen im Finanzsektor. Nachdem beide Seiten die Möglichkeiten des Transfers von Valuta extrem eingeschränkt hatten, ist in den letzten Wochen eine gegenläufige Bewegung zu beobachten. Im Zusammenhang u.a. mit den Dividendenausschüttungen mehrerer Großunternehmen sollen 2022 bereits 243 Mrd. Dollar aus Russland abgeflossen sein. Analytiker*innen erwarten, dass demnächst pro Monat 10 Mrd. Dollar ebenfalls diesen Weg nehmen werden.

Für die Masse der Bevölkerung werden die Sanktionsfolgen vor allem am Fehlen einzelner Erzeugnisse und Leistungen, in steigenden Preisen, sinkenden Einkommen und Arbeitslosigkeit spürbar. Die in Russland relativ häufige Praxis, den Beschäftigten mit oder ohne Begründung Arbeitslohn vorzuenthalten, ist trotz der Teuerung ungebrochen.

Expert*innen gehen davon aus, dass die Sanktionsfolgen auf dem Arbeitsmarkt noch nicht deutlich sichtbar wurden, weil er sich gerade in einer Phase der Neuformierung befinde und die Unternehmen sich alle Optionen künftiger Personalpolitik offenhalten wollen. Im Herbst, so die übereinstimmende Meinung, wird es zu einem rascheren Ansteigen der Arbeitslosigkeit kommen.

Bemerkbare Teuerung im Alltag

Zum Anfang des Schuljahres wird darüber berichtet, dass der Aufwand für die Einschulung von Kindern in diesem Jahr um 20 Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen ist, in Moskau sogar um 30 Prozent. Die Teuerung bei Kleidung, Schuhen und anderen Industriewaren liegt dabei über der bei Nahrungsmitteln. Auch bei den Restaurantbesuchen wird gespart.

Es zeigen sich Defizite in der Versorgung mit Medikamenten. Wegen der eingebrochenen Nachfrage sollen in den letzten Wochen zahlreiche Apotheken geschlossen haben.

Es steigt der Umfang von Mietschulden im kommunalen Wohnungsbestand. Infolge fehlender Ersatzteile für den Fuhrpark kann die Eisenbahn ihre Aufträge nicht erfüllen. Das hat wiederum Folgen für Zulieferungen und Absatz an sich funktionierender Unternehmen, aber auch für die Versorgung der Bevölkerung. In Abchasien ist es gerade aus diesem Grund zu einer Krise in der Versorgung mit Treib- und Brennstoffen gekommen. Das Katastrophenschutzministerium beklagt einen Mangel an Ausrüstungen, was angesichts der auch in Russland zunehmenden Waldbrände besonders gefährlich ist. Auf der anderen Seite steht der Versuch, Standorte von Unternehmen, die Russland verlassen haben, unter neuem Namen weiterzuführen, wie etwa McDonalds oder Starbucks.

Valerija Kasamara von der einflussreichen Moskauer Wirtschaftshochschule sieht vor diesem Hintergrund mittelfristig ein Absinken des Lebensniveaus der Mittelklasse, während die Geringverdiener*innen von den Verschlechterungen kaum betroffen seien. Letzteres erklärt sich daraus, dass deren Lebenshaltung sich schon auf einem extrem niedrigen Niveau befindet und sie vom Konsum der nun sanktionierten Waren ohnehin ausgeschlossen waren. Zudem wird durch verschiedene Maßnahmen der Regierung, etwa für Familien mit Kindern, versucht, dieses Mindestniveau zu halten. Die Bewertung der Zukunftsaussichten fällt dennoch dementsprechend pessimistisch aus. Das bedeutet aber bei weitem nicht, dass damit das mit den Sanktionen verfolgte Ziel der sozialen Destabilisierung Russlands erreicht worden wäre. Teile der linken Bewegung in Russland hoffen seit Beginn des Krieges darauf, dass durch Sanktionen und andere Kriegsfolgen in Russland eine «revolutionäre Situation» entstehen würde. Dagegen spricht zweierlei. Erstens erwartet die Mehrheit der Einwohner*innen Russlands keine Verbesserungen ihrer Lage in Folge des Krieges. Die ausgewiesenen hohen Zustimmungswerte zur Politik der Regierung mögen überzogen sein, aber die Sanktionen haben an der breiten Akzeptanz der Politik Putins nichts geändert. Für die Bessergestellten, und das ist ein zweiter Faktor, gibt es z.B. in Belarus die Möglichkeit, gewünschte, den Sanktionen unterliegende Konsumgüter zu erwerben. Fatalismus, noch vorhandene Möglichkeiten des Ausweichens vor Sanktionsfolgen und die zeitliche Verzögerung des Durchschlagens der Sanktionen in ganzer Breite mögen erklären, warum eine Umfrage in Moskau im Juni 2022 zum Ergebnis hatte, dass 58 Prozent der Befragten sich wegen der Sanktionen wenig (27 Prozent) oder gar keine (31 Prozent) Sorgen machen. Und selbst die, die sich Sorgen machen, werden deshalb kaum politisch aktiv werden.

Eigentlich setzt sich damit der Trend seit 2014, dem Beginn des westlichen Sanktionsregimes, fort. Die Sanktionen laufen weitgehend ins Leere. Eher bestätigen sie auch angesichts des Verschwindens der Diplomatie in den Beziehungen zu Russland die Vorbehalte gegenüber dem Westen in der Gesellschaft. Es entsteht der Eindruck, dass dem Westen das deklarierte Ziel der Beendigung des Krieges gar nicht so wichtig ist, zumal das Sanktionsregime auch das System der Rüstungskontrolle und Vertrauensbildung zerstört. Beides lässt vermuten, dass die Stoßrichtung der westlichen Sanktionen auf ganz anderen Feldern als den offiziell hervorgehobenen liegt.