Bericht | Krieg / Frieden Wer verdient am Krieg?

«Sagen Sie mir nicht, daß Friede ausgebrochen ist»

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Autor

Ingar Solty,

Ein Demonstrant mit einem Schild auf dem Rücken, auf dem steht "Menschen falle, Aktien steigen"
Foto: IMAGO / Michael Gstettenbauer

«Sagen Sie mir nicht, daß Friede ausgebrochen ist»! Diesen Satz ruft an einer Stelle entsetzt die «Mutter Courage» in Bertolt Brechts 1941 in Zürich uraufgeführter Kriegsparabel «Mutter Courage und ihre Kinder». Die Courage lebt als fahrende Händlerin ökonomisch vom Dreißigjährigen Krieg (1618-1648), in dem das Stück spielt, verliert aber zugleich nach und nach ihre Kinder an die Barbarei des Krieges. Brecht wollte mit seinem Stück die unteren Klassen vor dem Glauben warnen, im Zweiten Weltkrieg etwas gewinnen oder sich schon irgendwie durchwurschteln zu können. «Sagen Sie mir nicht, daß Friede ausgebrochen ist», ist ein Freud‘scher Versprecher, der unterstreicht, dass es im Krieg eben auch immer Gewinner*innen gibt, vor denen man sich in Acht nehmen muss.

Die einzelnen Kriegsgewinner*innen in Kriegen sind schnell ausgemacht: Rüstungskonzerne, die im Ersten Weltkrieg an alle Kriegsnationen Waffen lieferten, und deren Aktienkurse angesichts der 100 Milliarden Sonderschulden für die Bundeswehr in Rekordhöhen schnellen, Söldner, die vom Krieg leben usw.

Manche führt dies zur Annahme, Entscheidungen für Aufrüstung oder gar Kriege, wie das neue globale Wettrüsten seit 2014 oder die in diesem Jahr verkündete und verabschiedete Grundgesetzänderung für 100 Milliarden Sonderschulden für die Bundeswehr, seien das unmittelbare Ergebnis von Rüstungslobbyismus.

Ingar Solty ist Referent für Friedens- und Sicherheitspolitik am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Fellow des Instituts für kritische Theorie e. V. und Redakteur bei der Zeitschrift LuXemburg.

Als um das Jahr 2000 Politiker*innen, Unternehmer*innen und Intellektuelle im «Project for a New American Century» begründeten, warum die USA ihre militärisch-imperiale Rolle in der Welt verstärken sollten, dann las sich dies in der Tat wie eine Einkaufsliste der großen US-Rüstungskonzerne wie Raytheon, Northrop Grumman, Lockheed Martin und Boeing. Konzerne wie sie betreiben unzählige ideologische Vorfeldorganisationen, die die Politik davon zu überzeugen versuchen, dass es neue äußere Bedrohungen, Sicherheitslücken usw. gibt, auf die Politik mit dem Einkauf immer neuer Waffensysteme zu reagieren hat. Die quantitative Aufrüstung der Bundeswehr seit 2014 ging mit einem massiven ideologischen Begleitfeuerwerk einher, dem zufolge der IS, die Ukraine und Ebola «neue Bedrohungsszenarien» darstellen würden, auf die man mit Aufrüstung zu reagieren habe.

Zugleich müssen angeschaffte Waffensysteme sich auch abnutzen. Der Waffen-Ringtausch und der Verschleiß von Waffensystemen der westlichen Streitkräfte in der Ukraine ist zweifellos ein willkommenes Geschenk, altes Waffenmaterial loszuwerden und Bestände wieder aufzufüllen. Die Interessen und die Einflussnahme von Rüstungskonzernen geringzuschätzen, wäre ein Fehler. 

Und dennoch: Wenn aber die deutsche Rüstungsindustrie – großzügig berechnet – kaum 300.000 Menschen beschäftigt, dann kann ihr Einfluss so groß nicht sein bzw. er ist es nicht. Dem Interesse an Krieg und Zerstörung von Rüstungsmaterial steht eben, je nachdem, wo das Kriegsgeschehen stattfindet, auch die Zerstörung von ausländischen Direktinvestitionen transnationalisierter Konzerne entgegen. Der Aushandlungsprozess für Aufrüstung entspringt einer komplexen Gemengelage mit verschiedenen Logiken des Politischen und Ökonomischen, verschiedenen Interessen und verschiedenen Akteur*innen. Die Frage, die gestellt werden muss, ist also die nach dem systematischen Zusammenhang von Krieg und Ökonomie, nach der Logik des Krieges.

Vergegenwärtigen muss man sich, dass die Rüstungsindustrie ein wichtiger Innovationsmotor ist. Die neoliberale Ideologie hat vier Jahrzehnte das Märchen vom ineffizienten Staat und vom dynamisch-innovativen Markt und Privatsektor erzählt. Hiergegen hat die Ökonomin Marianna Mazzucato in ihrem Bestseller «Das Kapital des Staates» nachgewiesen, dass die Digitalisierungsinnovationen der letzten Jahrzehnte keineswegs in Garagen an der US-Pazifikküste entstanden sind, sondern aus staatlicher Forschung resultieren. Erst danach wurden sie von den Techkonzernen des Silicon Valleys angeeignet, patentiert, ausgeschlachtet und als Milliardenvermögen aufgehäuft. Die technischen Neuerungen in einem iPhone etwa – Interfaces usw. – wurden alle durch öffentliche Forschungsprogramme entwickelt, nämlich in und durch die Rüstungsindustrie. Diese Zerstörungsindustrie ist paradoxerweise historisch immer wieder Motor des technologischen Fortschritts gewesen, weil hier gigantische staatliche Ressourcen eingesetzt werden, die immens kostspielige Grundlagenforschung betreiben, die von privatkapitalistischen Konzernen niemals betrieben würde, weil unklar bleibt, ob sich die Investitionen amortisieren.  In der Technikwissenschaft spricht man darum auch vom «dual use», d.h. der doppelten Nutzbarkeit von Technologien, die in der Rüstungsforschung entwickelt wurden: dem militärischen Nutzen und der zivilen Nutzung. Freilich ließe sich staatliche Innovationspolitik auch ohne Rüstung denken.

Dieser Artikel ist Teil der maldekstra, dem Auslandsjournal für globale Perspektiven von links.

Die Aufrüstung jedenfalls ist vor diesem Hintergrund also auch im staatlichen Interesse. Dies gilt insbesondere für den heutigen geschichtlichen Moment. Der Neoliberalismus steckt in der Krise. China hat sich in den letzten 20 Jahren von der verlängerten Werkbank der Welt zum ernstzunehmenden Hochtechnologierivalen entwickelt. Dieses historische Kunststück gelang (nur) durch einen starken Staatsinterventionismus. Die globale Finanzkrise nach 2007 hat gezeigt, dass Chinas Weg den Exit-Strategien der kernkapitalistischen Staaten des «Westens» stark überlegen war. Während der «Westen» auf eine marktorientierte Politik der «inneren Abwertung» von Kosten und Löhnen (Austeritätspolitik) setzte, plante China in großem Stil seine Entwicklung bzw. die Entwicklung seiner transnationalisierten Staatsbetriebe. Auch die Aufrüstung hat in China, ausgehend von niedrigem Niveau allerdings, in den letzten dreißig Jahren deutlich zugenommen und sich mehr als versechsfacht. Mittlerweile ist das frühere kolonisierte Entwicklungsland China in Zukunftstechnologien wie Künstliche Intelligenz, 5. Mobilfunkgeneration (mit allen Ableitungstechnologien wie «smart city», «autonomes Fahren» usw.) und auch grünen Technologien den kernkapitalistischen Staaten im «Westen» mindestens ebenbürtig, wenn nicht längst Weltmarktführer.

Im Westen setzt sich deshalb allmählich die Einsicht durch, dass es gegen den Konkurrenten China nun ebenfalls eine stärker aktive Industriepolitik braucht. In der EU zeigt sich eine Tendenz einer stärkeren «Symbiose von Industrie- und Rüstungspolitik» (vgl. die Studie «Sicherheitspolitik contra Sicherheit» der Rosa-Luxemburg-Stiftung vom Februar 2020). Mit den Lieferkettenproblemen in Folge des US-Wirtschaftskriegs gegen China einerseits und der Corona-Pandemie andererseits ergibt sich diese Tendenz zu einer neuen Renationalisierung von Politik. Die staatliche Förderung von privatem Kapital auch durch militärische Innovationspolitik, die Schaffung und der Erhalt von «global players», Cybersicherheit und die Abwehr von Industriespionage werden bedeutsamer. Die neue europäische Industriestrategie fiel im März 2020 mit der Corona-Pandemie zusammen.

Hinzu kommt, dass Rüstung in Zeiten global sinkender Lohnquoten, Überakkumulation von Kapital und damit schwächelnder binnenwirtschaftlicher Nachfrage auch ein Wachstumsmotor ist. Der Vorteil von Rüstung ist, dass sich der Bedarf an Waffen zentral steuern lässt, weil hier der Staat der Nachfrager ist. Und weil es zudem politisch-ideologisch leichter ist, den Bedarf an neuen Waffensystemen durch Bedrohungsszenarien zu rechtfertigen, als die Nachfrage nach dezentralen Konsumgütern der Privathaushalte erhöhen zu wollen.

Es besteht also auch eine makroökonomische Funktion von Rüstung. Sie steht allerdings in einem Widerspruch zur neoliberalen Politik des ausgeglichenen Staatshaushalts. Denn ohne die Verschuldung von entweder Staat oder Privatwirtschaft lässt sich kapitalistische Ökonomie nicht denken. Ob der Ukrainekrieg und seine Folgen die neoliberale Orthodoxie der Austeritätspolitik im Namen des Notstands dauerhaft brechen und die marktradikalen Kräfte um Bundesfinanzminister Christian Lindner ihren Kampf für die Rückkehr zur «Schuldenbremse» verlieren werden, ist noch unklar.

Klar ist jedenfalls: Der Krieg ist, dies auch die Botschaft von Bertolt Brecht, ist die Geißel der Menschheit, aber er ist auch, so die Mutter Courage, «ein guter Brotgeber».