Hintergrund | Geschlechterverhältnisse - Libanon / Syrien / Irak Revolution. Diaspora. Transformation?

Über Kontinuitäten feministischer Revolution im Exil

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Demonstration von Frauen zu Beginn der syrischen Revolution
Momente der Offenheit und Möglichkeiten der Transformation: Auch in der Diaspora kann am Projekt einer feministischen Revolution festgehalten werden.
  Demonstration von Frauen zu Beginn der syrischen Revolution, Foto: SyrianHurriyat

«Homs, Frühling 2011: Mir war, als würde ein längst poröses Kartenhäuschen endlich zusammenstürzen. Wir hinterfragten plötzlich unsere komplette Realität. Wir brachen aus der politischen Isolation aus und sprachen zum ersten Mal offen über alles, was uns nicht passte. Und dann war es wie ein Domino-Effekt: Hinterfragst du die eine Sache, hinterfragst du plötzlich alles. Tabula rasa! Eine Tür geht auf zu einem neuen, undefinierten Horizont. Das war die totale Befreiung.»

So beschreibt eine feministische Aktivistin den revolutionären Frühling in Syrien zu Beginn des vergangenen Jahrzehnts. Von Occupy über Tahrir bis Gezi: die erste Hälfte der 2010er Jahre bleibt uns im Gedächtnis als eine Zeit der großen Aufstände gegen die alte autoritäre Ordnung – besonders in den Ländern Westasiens und Nordafrikas. Für feministische Kämpfe in der Region war es ein Moment des Aufbruchs – quasi gelebte Emanzipation: Auch wenn die Aktivist*innen ihr Handeln zuweilen nicht als explizit feministisch bezeichneten, so ging es doch darum, den Mund aufzumachen und sich nichts mehr gefallen zu lassen – wenn nicht vom Staat, dann auch nicht vom Patriarchat. Damit verstärkte die Revolution in Syrien subversiv eine feministische Grundhaltung.

Und heute? Auf den ersten Blick scheint es, als seien die Bewegungen gescheitert an der Gewalt, die von den Herrschenden ausging. Doch was ist von den Utopien der Proteste heute noch lebendig? Und wo? Im Angesicht der systematischen Exilierung einer Vielzahl der Aktivist*innen von damals lohnt sich ein Blick aufs Hier und Jetzt, in eine diasporische Realität mitten in Deutschland. Auf der Suche nach Kontinuitäten einer revolutionären Zeit, die hierzulande oft als gescheitert abgetan wird, werden wir ausgerechnet in den Hochhaussiedlungen eines Stadtbezirks in Sachsen-Anhalt fündig. Halle-Neustadt: ein typischer Post-Wende-«Brennpunkt» – ein hoher Anteil von AfD-Wähler*innen, ein hoher Anteil Zugezogener nach 2015. Dort entsteht durch einige Aktivist*innen der Revolution von 2011 ein Raum, der von außen wirkt wie ein Kulturzentrum – und bei näherer Betrachtung zum diasporischen Revolutionskontinuum wird.

Bahar Oghalai ist Sozialwissenschaftlerin mit Fokus auf Intersektionen von Rassismuskritik und Feminismus. Sie promoviert zu Politisierungsbiographien diasporischer Feminist*innen aus dem Iran und der Türkei in Deutschland.

Maria Hartmann forscht, arbeitet und engagiert sich politisch zu Fragen von transnationaler Solidarität und Diaspora-Aktivismus im Kontext der neuen emanzipatorischen Bewegungen in Westasien/ Nordafrika.

Im Stadtteil leben viele Frauen, die aus strukturell marginalisierten Gegenden Syriens kommen. Waren sie dort also schon benachteiligt, sind sie es hier, im Exil, nun in gesteigertem Maße. Inmitten dieser migrantischen Prekarität schlägt die feministische Gruppe aus Halle-Neustadt Brücken und schafft Räume für jene Debatten, die damals angestoßen und wegen der Repression nicht fortgeführt wurden. So war es bereits 2011 eine feministische Praxis, Patriarchatskritik mit der Überwindung von Segregation zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen zu verbinden. Segregations- und Angstpolitik gelten schon lange als effiziente «Teile- und-herrsche»- Strategie des Assad-Regimes. Sie spaltete nicht nur die Gesellschaft an sich, sondern auch gezielt feministische Allianzen, etwa zwischen säkular eingestellten Frauen und solchen aus eher religiösen Hintergründen. Deshalb organisierten feministische Gruppen bei Demonstrationen Frauen mit und ohne Kopftuch so, dass sie gemeinsam marschierten. Als das aufgrund der Gewalt durch das Regime unmöglich wurde, sattelten die Frauengruppen auf subversiveren Aktivismus um. Eine der Aktivist*innen aus Halle beschreibt, wie damals der Straßen-Widerstand eher in zivilgesellschaftliche Arbeit überging. Von Haustür zu Haustür gehend versuchten sie eine Diskussionskultur zwischen Frauen unterschiedlicher sozialer Herkünfte anzuregen: Wovon träumen wir? Was ist unsere Vision für ein freies Syrien? Wie verstehen wir unsere Befreiung im Unterschied zu der Befreiung der Männer? Miteinander zu diskutieren wurde also zum feministischen Mechanismus, Gesellschaft und Politik zu verändern.

Dass hier in der Diaspora öffentliche Räume nicht mehr unter Kontrolle des Staates stehen, schafft mehr Debattenfreiheit als vorher. Andererseits sind hier viele migrantisierte Frauen im Stadtteil einer doppelten Marginalisierung ausgesetzt: Zu Hause oft isoliert, draußen mit rassistischer Gewalt konfrontiert. Manchmal kommen sie ins Zentrum und erzählen so nebenbei, dass sie gerade wieder einmal auf der Straße bespuckt wurden. Die Intersektionalität der Diskriminierung, in der sich die Frauen befinden, macht feministische Arbeit komplex, wenn diese den Anspruch hat, ganzheitliche Transformation zu erreichen. Darum lädt das Kulturzentrum in Halle-Neustadt Frauen und Männer ein, auch gemeinsam zu diskutieren. Das Sprechen über demokratische Visionen für Syrien wird zum Ausgangspunkt gemacht, um dann mit kontroversen feministischen Themen eher «durch die Hintertür» zu kommen.

Warum begreifen wir nun die Arbeit der Gruppe in Halle-Neustadt als diasporisches Revolutionskontinuum?

In der feministischen Diasporatheorie ist das In-Diaspora-Sein mehr als eine Erfahrung der Migration und Heimatlosigkeit.[*] Diaspora begreift sich vielmehr als ein Zustand. Abstrahieren wir den Begriff etwas, dann steht der diasporische Raum für jene Momente des Aufbruchs und der Offenheit, die einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel provozieren. Diaspora ist die Erfahrung der Fortbewegung von einem gesellschaftlichen Zustand in den nächsten. In ihr manifestiert sich der transformatorische Zwischenzustand. In diesem Sinne beginnt die diasporische Erfahrung der Aktivist*innen bereits 2011, in Syrien selbst. Wenn wir Revolutionen als etwas begreifen, bei dem es nicht lediglich darum geht, ein nicht gewolltes Herrschaftsregime durch ein anderes zu ersetzen, sondern in ihnen vielmehr Momente der intrinsischen Transformation sehen, dann sind Revolutionen stets diasporische Momente. Die diasporische Revolution ist nicht vorbei, nur weil ihre Akteur*innen zu großen Teilen ermordet oder eben auch exiliert wurden. Denn an ihrer transformativen Forderung kann nach wie vor auch aus dem Exil heraus festgehalten werden. Wie das Zitat am Anfang des Textes zeigt, hat dieser Revolutionszustand ein enormes feministisches Potential: Dadurch, dass er ohnehin alles Altbekannte in Frage stellt, fordert er einen Raum, in dem patriarchale Gesellschaftsstrukturen von Grund auf herausgefordert werden können. Die Befreiung aus diesen Strukturen geht über nationalstaatliche Grenzen hinaus. Diasporische Revolution und feministische Revolution sind in diesem Sinne also ein ähnlicher Veränderungszustand.

Eine feministische Revolution kann immer nur in der Verbindung von zweierlei, nämlich Befreiung des Subjekts selbst und Transformation der Gesellschaft als Ganzes, nachhaltig funktionieren – das gilt für Syrien genauso wie für Deutschland. Blicken wir zurück auf die Lagerhallen in Halle-Neustadt, werden sie aus dieser Perspektive zu mehr als einem improvisierten Kulturzentrum. Dort wird der revolutionäre Kampf von 2011 gegen autoritären Staat, Patriarchat und segregierende Mechanismen fortgesetzt.


[*] Z.B. Avtar Brah, Cartographies of Diaspora: Contesting identities, London/New York: Routledge, 1996.