Weltweit spitzen sich die Krisen zu: Die Folgen des Klimawandels treten immer offener zutage, die sozialen Ungleichheiten wachsen, und in vielen Ländern gewinnen rechtsautoritäre Kräfte an Zuspruch. Der Krieg ist weiterhin ein Mittel der Politik, wie der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine jüngst eindringlich bestätigte. Hinzu kommt, dass die Covid19-Pandemie und der Krieg massive wirtschaftliche Folgen haben, insbesondere unterbrochene Produktions-Lieferketten und eine drastische Erhöhung der Energiepreise.
Cornelia Hildebrandt ist Philosophin und Referentin für Parteien und soziale Bewegungen und für den christlich-marxistischen Dialog am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung und seit September 2020 Co-Präsidentin von transform! Europe.
Infolge der Krisenverschärfung droht auch in Deutschland eine Welle der Verarmung über die Gesellschaft hereinzubrechen, die neben den unteren Schichten auch die Mittelklasse erreichen könnte. Dennoch bleiben die von der Bundesregierung aus Sozialdemokratie, Grünen und Wirtschaftsliberalen (nach den Parteifarben auch «Ampelkoalition» genannt) verabschiedeten Entlastungspakete halbherzig. Angesichts dauerhafter Preissteigerungen drohen die geleisteten Einmalzahlungen an die Bürger*innen und andere temporär begrenzte Instrumente (wie die Benzinpreisbremse) zu verpuffen. Die – gemessen an der Inflation äußerst geringe – Erhöhung der Sozialhilfe für dauerhaft Erwerbslose verbessert die Lage für die Betroffenen nicht. Dasselbe gilt für die beschlossenen Maßnahmen gegen den rasanten Anstieg der Mieten und gegen die Krise des Pflegebereichs – auch sie reichen nicht. Kritik an ihrem zaudernden Kurs begegnet die Bundesregierung mit dem Verweis auf die so genannte Schuldenbremse, die eine gesetzliche Grenze für die Neuverschuldung festschreibt – und an der die Regierung festhält.
Hinzu kommen noch jene Maßnahmen, die die Bundesregierung mit dem russischen Krieg gegen die Ukraine begründet, vor allem die Aufrüstung der Bundeswehr mittels eines «Sonderfonds» von 100 Milliarden Euro und die Sanktionen gegenüber Russland, die eine Explosion der Energiekosten zur Folge haben. Gerade mit Blick auf letztere werden nachhaltige Entlastungen der Bürger*innen weiterhin ausgeschlossen; das neue Energiesicherungsgesetz ermöglicht gar die Weitergabe der Preissteigerungen an die Verbraucher*innen.
Angesichts dieser Entwicklungen wird eine Partei, die sich für soziale Gerechtigkeit einsetzt, dringend gebraucht – eine Rolle, die der Linkspartei wie auf den Leib geschneidert scheint. Schließlich ging die Partei in den Jahren nach 2004 aus den Protesten gegen die neoliberalen Gesetze hervor, die die sozialstaatlichen Leistungen, insbesondere für Langzeitarbeitslose, drastisch absenkten. DIE LINKE positioniert sich als Kraft gegen die Umverteilung von unten nach oben und will diesen Prozess umkehren. Mit ihrem Kampf gegen die soziale Spaltung plädiert sie zugleich für eine Erneuerung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, dessen Niedergang das Aufkommen des Rechtspopulismus begünstigt hat. In diesem Sinne verteidigt DIE LINKE auch die demokratische Verfasstheit der Gesellschaft, die – weit über Deutschland hinaus – durch rechtspopulistische und neofaschistische Kräfte massiv gefährdet ist. Ihre Aktivist*innen stellen sich daher entschlossen gegen die Vereinnahmung sozialer Proteste durch die radikale Rechte oder eine sogenannte Querfront (das heißt das Zusammengehen von Linken und Rechten). Kurz: DIE LINKE wird als soziale und demokratische Schutzmacht gebraucht, die sich gegen einen grünen imperialen Kapitalismus stellt und eine wirkliche sozial-ökologische Umgestaltung mit konkreten Projekten auf die Tagesordnung setzt.
DIE LINKE nach dem Parteitag
Auf ihrem Parteitag im Juni 2022 hat DIE LINKE wichtige Schritt in die richtige Richtung getan, konnte aber naturgemäß nicht alle Probleme, die sich über Jahre aufgestaut hatten, auf einen Schlag lösen.
Immerhin ergab die Wahl der Parteivorsitzenden, Marin Schirdewan und Janine Wissler, mit rund 60 Prozent der Stimmen ein recht eindeutiges Ergebnis. Bei der Wahl des Parteivorstands fielen exponierte Vertreter*innen des Flügels um die Bundestagsabgeordnete Sahra Wagenknecht durch; dem neuen Vorstand gehören keine Repräsentant*innen dieses Lagers mehr an.
Positiv zu vermerken ist die Einleitung erster Strukturveränderungen, darunter die Verkleinerung des Vorstands von 44 auf 26 Personen, die die Arbeitsfähigkeit des Gremiums verbessern soll. Nachdem es zuletzt immer wieder Konflikte gegeben hatte, zielen die vom neuen Parteivorstand gefassten Beschlüsse zur Stärkung der Kooperation zwischen Partei- und Fraktionsvorstand auf ein besser abgestimmtes Handeln der Akteure. Ob diese Neuerungen greifen oder die parteiinternen Spaltungsprozesse sich weiter vertiefen werden, ist allerdings offen.
Mit Blick auf die Friedens- und Sicherheitspolitik fasste der Parteitag einen Beschluss, der sich gegen Krieg und Aufrüstung und für eine neue internationale Friedensordnung ausspricht. DIE LINKE verurteilt den russischen Angriffskrieg und zeigt sich solidarisch mit den Menschen in der Ukraine und den Kriegsflüchtlingen. Sie stellt sich gegen Rüstungsexporte und Waffenlieferungen, spricht sich aber zugleich für Sanktionen aus, die das «System Putin» treffen. Die Partei wendet sich vehement gegen die massive Aufrüstung der Bundeswehr durch den Sonderfonds und lehnt eine Verlängerung des Kohleabbaus und der AKW-Laufzeiten als Alternative zu russischem Gas ab. Eine kritische Analyse der Kriegsursachen, einschließlich der Mitverantwortung des Westens, blieb jedoch aus.
Statt die Bundeswehr mit 100 Mrd. Euro aufzurüsten, fordert DIE LINKE, das Geld für eine sozial-ökologische Transformation aufzuwenden, das heißt für den Ausbau der öffentlichen Infrastruktur, die Stärkung von Stadtwerken, Energiegenossenschaften und einen kostenfreien öffentlichen Nahverkehr, für die Re-Kommunalisierung von Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen sowie für kostenfreie Kitas. Als sozialistische Partei fordert DIE LINKE zudem die Verstaatlichung der Energiekonzerne und die Rückführung der Daseinsvorsorge in öffentliches Eigentum.
Mit Blick auf die konkrete Krisenbewältigung verlangt die Partei statt Einmalzahlungen zur Entlastung der Bürger*innen dauerhafte Bonuszahlen an die unteren Schichten. Außerdem will man die Sozialleistungen (wie Wohngeld und Transferleistungen) erhöhen und die staatliche Kontrolle der Energie- und Lebensmittelpreise ebenso einführen wie einen Mietendeckel, die Deckelung der Gaspreise und eine Übergewinnsteuer; mit Blick auf die beiden letztgenannten Forderungen wird auf jene Nachbarländer verwiesen, die diese Punkte bereits umgesetzt haben.
Der Beschluss über einen erneuerten Grundkonsens als feministische Partei richtet sich angesichts aktueller Vorfälle insbesondere gegen sexistische Übergriffe in den eigenen Reihen; Fälle von sexueller Belästigung, Machtmissbrauch und sexueller Gewalt sollen konsequent aufarbeitet und künftig verhindert werden.
Diese Beschlüsse wurden auf dem Parteitag mit großer Mehrheiten gefasst. Allerdings verweisen die Abstimmungsergebnisse, einschließlich der Vorstandswahlen, auch darauf, dass relevante Minderheiten in der Partei nicht oder nur teilweise hinter den Beschlüssen und dem neuen Vorstand stehen.
Der Umgang mit den anhaltenden Konflikten bleibt daher innerparteilich umstritten. Dabei gibt es zwei Ansätze, die einander entgegenstehen. So verlangen einige, dass die Parteiführung, wenn sie den Parteitag als Neustart begreift, auf die Minderheit zugehen und diese so einbinden muss, dass weiteren innerparteilichen Machtkämpfen der Boden entzogen wird. Als Beleg dafür, dass dies möglich sei, verweisen sie auf den Erfolg der Demonstration gegen die sozialen Folgen der Krise Anfang September 2022 in Leipzig.
Andere in der Partei betrachten diesen auf Versöhnung zielenden Ansatz als gescheitert. Sie betonen, dass der Flügel um Sahra Wagenknecht die Parteitagsbeschlüsse immer wieder in aller Öffentlichkeit infrage stellt – was öffentliche Äußerungen aus diesem Lager zur Bewertung Putins und zu den Sanktionen gegen Russland jüngst erneut bestätigten.
Ungeachtet der Bewertung der Positionen werden auf diese Weise Minderheitspositionen des Parteitags in der Öffentlichkeit als gleichwertige Positionen präsentiert, wodurch sich das Bild einer politisch gespaltenen Partei verfestigt. Weder die Partei- noch die Fraktionsführung besitzen die notwendige Autorität, die Akteure für ihr parteischädigendes Verhalten in die Schranken zu verweisen. «Befriedung» zur Abwehr einer endgültigen Spaltung der Bundestagsfraktion erscheint als das maximal Mögliche.
Angesichts des Umstands, dass der Partei junge charismatische Persönlichkeiten fehlen, wächst die Notwendigkeit kollektiver Führung; nur so kann die kollektive Handlungsfähigkeit der Partei, ihre Fähigkeit zur Kooperation und ihr konkretes Wirken – im Parlament wie an der Basis – gestärkt werden. Damit wird die Frage, ob ein starkes strategisches Führungszentrum entsteht, zur Variable, die über Erfolg oder Misserfolg der Partei maßgeblich entscheidet.
Die soziale Frage
Infolge steigender Energie- und Lebensmittelpreise, wachsender Inflation und ungebremster Mietsteigerungen kann aus der drohenden Welle der Verarmung eine Dynamik entstehen, in der die Interessen der unteren und mittleren Schichten der Gesellschaft miteinander verbunden werden können («Mitte-unten-Bündnis»). Anders als in den Protesten gegen die neoliberalen Reformen der Sozialleistungen, in deren Folge sich DIE LINKE seinerzeit formierte, fehlt allerdings der Fokus auf eine zentrale Forderung, die seinerzeit die Mobilisierung beflügelte. Darüber hinaus ist die soziale Frage direkt mit den globalen Krisen eines Kapitalismus verbunden, der sich im Übergang vom fossilen zum postfossilen Stadium befindet. Die Verlinkung von Krieg, Krisen, Klimawandel und Inflation haben – anders als 2004/5 – unmittelbare Auswirkungen auf die soziale Frage. Es steht daher zu erwarten, dass die kommenden Proteste sehr viel diverser und widersprüchlicher ausfallen werden. Das aber erschwert die Einigkeit der Protestierenden.
Zugleich kann man davon ausgehen, dass SPD und Grüne sich bemühen werden, weitere Maßnahmen zur Entlastung der Bürger*innen zu beschließen. Es ist also offen, wie weit DIE LINKE sich sozialpolitisch profilieren kann, zumal auch die konservativen Christdemokraten – wie plakativ und halbherzig auch immer – mit sozialpolitischen Vorschlägen zu punkten versuchen. Hinzu kommt ferner, dass die AfD die soziale Frage mit rechtsradikalen Inhalten («Die Ausländer sind schuld» usw.) füllen will und sogar zum Protest auf der Straße mobilisiert, womit sie in bestimmten Milieus durchaus Erfolg haben könnte. Selbst wenn DIE LINKE sich also im Bundestag als Partei für soziale Gerechtigkeit zu profilieren sucht, wird die soziale Frage heute, anders als 2004/5, öffentlichkeitswirksam nicht nur von links, sondern auch von rechts gestellt.
Daraus folgt, dass DIE LINKE eine doppelte Aufgabe hat. Zum einen gilt es, die Vereinnahmungsversuche der Rechtsradikalen entschlossen zurückzuweisen und sich auf diese Weise gegen die medial verbreitete Gleichsetzung der «extremen Ränder links und rechts» zur Wehr zu setzen. Zum anderen muss die Partei sich so präsentieren, dass sie von breiten gesellschaftlichen Gruppen – also auch solchen jenseits ihrer klassischen Klientel – als kooperationsfähige und die Demokratie verteidigende soziale Schutzmacht anerkannt wird, die dies mit sozial-ökologischen Transformationsstrategien zur Überwindung des Kapitalismus verbindet. Das kann nur gelingen, wenn DIE LINKE auf allen Ebenen ihres politischen Handelns die Beziehungen zu sozialen Bewegungen, Gewerkschaften, Sozialverbänden und Initiativen der Zivilgesellschaft bis hin zu sozialökologischen Initiativen von Kirchen und Glaubensgemeinschaften intensiviert und mit ihnen gemeinsam alternative Strategien entwickelt.
Die Frage der Parteientwicklung
Die Wiederkehr der sozialen Frage, auf die sich die PDS (als Vorläufer der Linkspartei) während ihrer existenziellen Krise nach dem verpassten Wiedereinzug in den Bundestag 2002 stützen konnten, erfolgt zwanzig Jahre später zwar unter veränderten parteipolitischen und gesellschaftlichen Bedingungen. Dennoch zeigen sich eine Reihe von Parallelen.
Die Wahlniederlage 2002 erfasste die Partei – ähnlich wie 2021 – vor dem Hintergrund offener programmatisch-strategischer Fragen, einer schwachen Parteiführung und massiver Defizite der Organisationsentwicklung. Bereits damals standen sich unterschiedliche Ansätze konträr gegenüber, die sich vor allem in der Frage bündelten, ob man primär eine Partei sozialer Bewegungen oder ein politischer Akteur im Kampf um gesellschaftliche Reformmehrheiten sein solle. Besserung brachte erst der Versuch, die unterschiedlichen Ansätze in einem so genannten strategischen Dreieck miteinander zu verbinden, dem zufolge die PDS sowohl über Regierungsbeteiligungen mitgestalten, als auch durch Protest Widerstand leisten und Alternativen zum Kapitalismus entwickeln wollte. Damit konnte die Partei ihren Niedergang zunächst stoppen.
Angesichts der neuen Herausforderungen, die die neoliberalen Reformen bzw. der Abbau sozialstaatlicher Leistungen markierten, reichte dies indes nicht aus. Die Potenziale der damaligen PDS waren außerhalb Ostdeutschlands zu begrenzt, der Westaufbau der Partei war, wie die Wahlergebnisse im Westen der Republik belegten, gescheitert. Nur eine über die PDS hinausweisende Partei – eine «PDS+», wie Michael Brie im Mai 2003 strategisch vorwegnahm – besaß die Chance, die parteipolitische Linke wieder als ernst zu nehmende gesellschaftliche Kraft zu festigen. Schlüssel des Erfolgs war dann der Zusammenschluss mit der neuen Partei WASG, die sich vor allem in Westdeutschland im Zuge der Proteste gegen die neoliberalen Reformen gebildet hatte.
Die schließlich 2007 neu gegründete LINKE nahm damals innerhalb des deutschen Parteiensystems eine doppelte Funktion ein: Sie war im Osten Volkspartei und im Westen Interessenpartei. Heute ist sie keines von beidem mehr: Sie hat im Osten ihre Präsenz in der Fläche verloren und diese im Westen nur in wenigen Regionen erreicht. DIE LINKE zählt nunmehr in Ost und West zu den mittleren bzw. kleinen Parteien, wobei ihre Hochburgen in den Großstädten liegen. Ihr Einfluss in den Gewerkschaften und der Arbeiterschaft, unter Prekarisierten und Arbeitslosen ist seit Jahren rückläufig. Ob es der Partei gelingt, relevante Teile dieser gesellschaftlichen Gruppen wieder für sich zu gewinnen, ist – gerade angesichts der Schwierigkeiten, die auch andere linke Parteien in Europa in dieser Hinsicht haben – offen.
Hinzu kommt, dass die kulturelle Ausstrahlung der Partei heute eher schwach ist und ihre intellektuelle Ausstrahlung sich überwiegend auf das engere Umfeld beschränkt. Das gilt auch für Debatten über alternative sozialistische Gesellschaftsentwürfe, die selten geworden sind und nur wenig wahrgenommen werden – obwohl Konferenzen und Publikationen zum Sozialismus sich mitunter breiter Resonanz erfreuen.
Was kann DIE LINKE tun?
DIE LINKE steht am Scheideweg. Nur wenn sie ihre inneren Streitigkeiten überwindet und konsequent ihren Gebrauchswert als kämpferische Partei für soziale Gerechtigkeit schärft, hat sie eine Überlebenschance. Sie muss sowohl auf Straßen und Plätzen im Bündnis mit Gewerkschaften, sozialen Bewegungen, Sozialverbänden und anderen sozialen Interessengruppen präsent sein, als auch ihr sozialpolitisches Fundament mit ihren Kernforderungen zur Erneuerung des Sozialstaates, Stärkung der öffentlichen Daseinsvorsorge und Ausbau öffentlicher Infrastruktur unter veränderten Bedingungen weiterentwickeln.
Dass diese Option real besteht, zeigen die Ankündigungen für einen «Heißen Herbst» («Menschen entlasten, Preise deckeln, Übergewinne besteuern»). DIE LINKE kann sich dabei auf ihre starken aktivistischen Kerne stützen, die in Organizing und Kampagnenführung geschult sind und die Botschaften der Partei auf die Straße tragen können. Eine wichtige Ressource für die Erneuerung der Partei von unten stellen ihre mehr als 5000 Kommunalpolitiker*innen dar, die in den Kommunen den Protest mit konkreter solidarischer Hilfe vor Ort verbinden können. Eine Voraussetzung für den Erfolg ist jedoch, dass die Parteimitglieder wieder solidarisch und wertschätzend miteinander umgehen – und dass sich in den Räumen und Debatten der Linken auch Nichtakademiker*innen und Menschen unterschiedlicher Generationen zu Hause fühlen.
Zugleich besteht die Notwendigkeit, dass die Partei sich programmatisch und strategisch neu aufstellt. Das Parteiprogramm von 2011 bietet auf manche aktuellen Fragen keine hinreichenden Antworten – etwa auf die Dringlichkeit der Bekämpfung des Klimawandels, die Friedens- und Sicherheitspolitik oder die soziale Abwärtsspirale in der Folge von Inflation und Rezession. Es gilt, diese Fragen miteinander zu verbinden – als Partei, die bereit ist zur Mitwirkung an linken Reformregierungen auf Landes- und Kommunalebene, ohne die Grenzen dieser Mitwirkung zu leugnen; die sich als Träger transformatorischer Gestaltung ebenso begreift wie als antikapitalistische Opposition; die die Europäische Union als Terrain des parlamentarischen und politischen Kampfes begreift und zugleich deren Strukturfehler thematisiert.
DIE LINKE steht also vor der Aufgabe, ihre Rolle als eine derzeit kleine Partei mit dem größten gesellschaftsverändernden Anspruch zu klären. Dafür muss sie ihr Profil als moderne sozialistische Gerechtigkeitspartei mit dem langfristigen Ziel einer Gesellschaft der Freien und Gleichen schärfen, und dies in sozialer und ökonomischer Hinsicht ebenso wie mit Blick auf die Bürger- und Menschenrechte. Sie muss sich als Partei mit konkretem Gebrauchswert beweisen und hierzu Schutz, Gestaltung und Umbruch zusammenbringen und ihre klassenverbindenden Ansätze weiterentwickeln. Um ein Beispiel zu nennen: Statt immer wieder zu diskutieren, auf welche gesellschaftlichen Gruppen sich DIE LINKE primär stützt, sollte die Partei an klassenverbindenden «Mitte-unten-Bündnissen» arbeiten. Dass sie dazu in der Lage ist, zeigten die jüngsten Proteste in Sachsen und Thüringen.
Ausblick
Will DIE LINKE ihre Neuaufstellung erfolgreich gestalten, gilt es, bereits jetzt in die Vorbereitung der Europawahl einsteigen. Denn diese Wahl wird 2024 – nur ein Jahr vor der nächsten Bundestagswahl – zum wichtigen Indikator dafür, ob es der Partei gelingt, sich zu stabilisieren und parlamentsfähig (also oberhalb von fünf Prozent der Wählerstimmen) zu bleiben.
Im Herbst 2022 werden die soziale und die Friedensfrage im Mittelpunkt stehen. Doch anders als vor zwanzig Jahren ist die soziale Frage eng mit globalen, friedens- und europapolitischen Fragen verknüpft. Damit steht DIE LINKE vor der Aufgabe, die Verschränkung von sozialer Frage, Krieg und Krise konzeptionell tiefergehend zu bearbeiten. Sie muss dazu das Zeitfenster nutzen, das sich jetzt für die offensive Thematisierung der sozialen Frage öffnet. Denn während DIE LINKE in der sozialen Frage geeint agiert, präsentiert sie sich in den außenpolitischen Fragen, trotz der Beschlüsse vom Juni, als gespaltene Partei.
Die Fähigkeit, die Spaltungen der Partei solidarisch und strategisch zu bearbeiten, entscheidet über die Perspektive der Partei. Denn nur wenn DIE LINKE es schafft, die innerparteilich auseinandertreibenden politischen Milieus strategisch und solidarisch wieder zu verbinden, kann ihr dies auch in der Gesellschaft gelingen.