Am 17. Dezember lässt Präsident Kais Saied ein neues Parlament wählen. Die Wahl soll jedoch keine wirklich freie Entscheidung der Wähler*innen ermöglichen, sondern dient lediglich der Absicherung seiner Macht. Im Juli 2021 hatte Saied das Parlament zunächst suspendiert, bevor er es Ende März dieses Jahres auflöste. Nach der Annahme einer neuen Verfassung durch das Referendum am 25. Juli 2022 markiert die anstehende Parlamentswahl einen weiteren Schritt in der gegenwärtig stark strapazierten, aber zutreffenden Phrase des «tunesischen Weges in die Autorität».
Wahl von Einzelpersonen anstelle von Parteilisten
Das am 15. September 2022 erlassene Wahlgesetz Nr. 55 ist ein von Saied formuliertes, extralegales und extrakonstitutionelles Dekret. Es sieht vor, dass die Wähler*innen individuelle Kandidat*innen statt Parteilisten wählen. Diese Änderung bedeutet einen Bruch mit dem System, das die Parlamentswahlen seit 2014 regelte.
Der neue Modus begünstigt Kandidat*innen, die in ihren Wahlkreisen bereits bekannt sind, über große (informelle) Netzwerke oder über die entsprechenden finanziellen Ressourcen für den Wahlkampf verfügen. Denn im Gegensatz zu den vorherigen Wahlen ist die externe Beschaffung von Finanzmitteln durch Parteien oder Organisationen – aufgrund der verbreiteten externen Einflussnahme in der Vergangenheit – verboten, und die staatlichen Zuschüsse für die Wahlkampagnen entfallen. Zudem sind die Kandidat*innen nach dem neuen Wahlgesetz verpflichtet, nachvollziehbare Begründungen für ihre Wahlkampffinanzierung vorzulegen.
Nadia El Ouerghemmi ist Projektmanagerin im Nordafrika-Büro der RLS in Tunis, Andreas Bohne ist Leiter Referat Afrika und Referent für Nordafrika.
Nicht nur Finanzierung stellt ein Hindernis dar; auch der Umstand, dass jede*r Kandidat*in 400 Unterschriften von registrierten Wähler*innen vorweisen muss, die sich für keine*n andere*n Kandidat*in verbürgen. Zudem müssen die Hälfte dieser 400 Wähler*innen Frauen und 25 Prozent unter 35 Jahre alt sein, was gerade für kleine Wahlkreise ein Problem darstellt. Nur knapp über 1.000 Kandidat*innen stellen sich daher zur Wahl – 2019 waren es noch 15.000 Kandidat*innen gewesen. In sieben Wahlkreisen – darunter die Wahlkreise für Auslandstunesier*innen – gibt es keine*n Kandidat*in und in zehn Wahlkreisen nur eine*n Kandidat*in, darunter Städte im Großraum Tunis wie Raoued oder La Soukra.
Das Dekret schränkt auch erheblich ein, wer für ein Amt kandidieren darf, und hindert eingebürgerte tunesische Bürger*innen ohne tunesische Eltern daran, zur Wahl anzutreten. Außerdem dürfen Imame, Regierungsmitglieder, Vorsitzende von Sportverbänden und Leiter von Regierungsämtern innerhalb eines Jahres nach ihrer Amtszeit nicht mehr kandidieren. Außerdem dürfen Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft zwar in den tunesischen Übersee-Wahlkreisen, aber nicht in inländischen Wahlkreise antreten.
Mit dem Dekret wurden außerdem die Quoten für Kandidat*innen unter 35 Jahren aufgehoben und alle Klauseln zur Geschlechterparität im Parlament abgeschafft. Durch die Streichung der Bestimmung über die geschlechtsspezifischen Listen, die zur Wahl von 60 weiblichen Abgeordneten im Jahr 2014 geführt hatte, erhöht das neue Gesetz die Wahrscheinlichkeit, dass das neue Parlament fast ausschließlich aus Männern bestehen könnte. Hinzu kommt: Nur 122 der 1.055 Kandidierenden sind Frauen. Entsprechend harsch sind die Kommentare feministischer Organisationen.
Delegitimiertes Parlament
Damit markiert das Wahlgesetz einen weiteren Meilenstein auf dem Weg des Landes in den Autoritarismus, der sich bereits an den jüngsten Verhaftungen von Journalist*innen oder Politiker*innen und den neuen, Regelungen über vermeintliche «Fake News» zeigte. Denn mit den Bestimmungen wird eine Versammlung geschaffen, die nur über wenige Befugnisse verfügt und lediglich als Hilfsorgan des Präsidenten fungiert. Auch sieht der Text des neuen Wahlgesetzes erstmals die Möglichkeit der Amtsenthebung durch die Stimmberechtigten im eigenen Wahlkreis vor, wodurch die Kontinuität parlamentarischer Arbeit erschwert werden könnte. Denn auch wenn der Gedanke an Rechenschaftspflicht von (unerfahrenen) Parlamentarier*innen positiv zu werten ist, sind schwammige Kriterien für deren Einschätzung unzureichend und entkräften ein ohnehin schon schwaches Parlament nur weiter. Diese Abhängigkeit der Parlamentar*innen von ihren jeweiligen Wahlkreisen könnte zudem hinderlich für die Mehrheitsbildung und damit auch für die Entscheidungsfähigkeit des Parlaments sein.
Zudem wird mit dem «Rat der Regionen und Bezirke» eine zweite Parlamentskammer mit Legislativfunktionen geschaffen. Die genauen Befugnisse dieser Kammer und ihr Verhältnis zum Parlament sind bis heute unklar.
Boykott: Einigkeit in der Zerstrittenheit
Die Kandidierenden sind politisch größtenteils unbekannt – was dem Interesse und der Intention Saieds entspricht. Sie kommen aus der politischen Initiative der arabisch nationalistischen Bewegungen «Für den Sieg des Volkes» und «al-Chaâb» («Volksbewegung»), die rund 120 Kandidat*innen aufstellt, sowie der Saied unterstützenden «Bewegung des 25. Juli», der «Tunesischen Vorwärtsbewegung»; daneben gibt es unabhängige Personen.
Es nimmt deshalb nicht wunder, dass die Opposition, über ideologische Differenzen hinweg, zum Boykott der Wahlen aufruft. Die meisten Oppositionellen hatten bereits einen Boykott der Volksabstimmung über die Verfassung im Sommer organisiert. Die erneuten Boykottaufrufe liegen, neben der Ablehnung Saieds, in den Bestimmungen des neuen Wahlgesetzes begründet. Denn alle Gesetzesvorhaben, die aus der Opposition heraus angestrebt werden, können durch den Präsidenten – beispielsweise während der Parlamentsferien – mit einem einfachen Dekret wieder kassiert werden. Unter den Parteien, die zum Boykott aufrufen, finden sich neben den islamistischen Ennahda (die im aufgelösten Parlament die Mehrheit der Abgeordneten stellte) und Al Karama auch die sozialdemokratischen und linken Parteien, die rechte Freie Destourianische Partei sowie liberale Parteien wie Afek Tounes. Letztere hat bei dem Verfassungsreferendum noch für ein «nein» statt für einen Boykott gestimmt. Al Masar als Nachfolgepartei der Kommunistischen Partei wird sich ebenfalls nicht beteiligen, aber nimmt das Wort «Boykott» nicht in den Mund.
Einige der Boykottparteien, vor allem die Ennahdha und ihr Umfeld, haben sich in der «Front de salut national» («Nationale Heilsfront») zusammengeschlossen. Fünf linke und sozialdemokratische Formationen, unter ihnen die Arbeiterpartei, haben das sogenannte «Quintett» gegründet, das bereits zum Boykott des Referendums vom 25. Juli aufgerufen hatte. In dem Boykottaufruf sind sich die sonst untereinander verfeindeten und zersplitterten linken Organisationen einig.
Obwohl sich der mächtige Gewerkschaftsverband UGTT oftmals gegen den Präsidenten und seine Politik stellt, konnte er sich zu keinem Boykottaufruf durchringen. Generalsekretär Noureddine Taboubi stellte klar, dass die Gewerkschaftsbasis (wie bereits beim Referendum vom 25. Juli) frei entscheiden solle, ob sie an den Wahlen teilnehmen wolle. Mit dieser Aussage nimmt die UGTT zwar auf viele ihrer Mitglieder Rücksicht, unter den Saied weiterhin populär ist, stellt jedoch ihre politischen Ansprüche gegenüber ihren sozialpolitischen Forderungen zurück, die sie während der jüngsten Verhandlungen zwischen dem Internationalen Währungsfond und der tunesischen Regierung vehement vertrat – und das durchaus mit Erfolg, konnte sie doch Lohnkürzungen vermeiden.
Angesichts der Boykottaufrufe der meisten Parteien wird allgemein erwartet, dass diese Wahlen eine sehr niedrige Wahlbeteiligung aufweisen werden. Bereits am Verfassungsreferendum hatte sich weniger als ein Drittel der Wahlberechtigten beteiligt. Wenn Anfang Januar die Fristen für Widersprüche abgelaufen sind und die Ergebnisse feststehen, wird Saied dennoch an sein Ziel gelangt sein.
Patt zugunsten des Präsidenten
Die Wahl mit seinem Boykottaufruf steht nur für ein vermeintliches gesellschaftliches und politisches Patt zwischen den Anhänger*innen des Präsidenten und der Opposition. Die Oberhand liegt schon seit Monaten auf der Seite des Präsidenten. Denn er wird zu keiner überparteilichen Zusammenarbeit bereit sein. Warum auch sollte er das Parlament erst in eine passive Rolle drängen, um dann eine Kooperation anzustreben? Dabei erweist sich Saied durchaus als geschickt: Er lehnt jegliche Zusammenarbeit mit islamistischen Kräften ab, gibt sich aber selbst national-religiös und greift in seinen Argumentationen konservative Anliegen und Werte auf, ohne säkulare Prinzipien endgültig über Bord zu werfen. Und durch die Marginalisierung der Ennahdha wird eine der linken Hauptforderungen aufgegriffen und zugleich schränkt er den Raum für linke Parteien ein, den politischen Prozess mitzugestalten.
Die Wahlen finden in einer schwierigen wirtschaftlichen Lage des Landes statt. Dieser Umstand spielt Präsident Saied in die Hände, da die frühere Regierungspartei, die islamistische Ennahda, in breiten Teilen der Bevölkerung für die Misere verantwortlich gemacht wird. Hinzu kommt, dass die schlechte Wirtschaftslage eine umfassende Mobilisierung der Bevölkerung massiv erschwert. Ferner spielt die um sich greifende Politikmüdigkeit und die Parteienverdrossenheit der tunesischen Bevölkerung Präsident Saied in die Hände. Da soziale und ökonomische Verbesserungen trotz demokratischer Errungenschaften in den letzten Jahren ausblieben, wird Parteien kaum noch Vertrauen entgegengebracht. Auch die (linke) Zivilgesellschaft mag nummerisch auf dem Papier stark sein, ist aber gesellschaftlich kaum verankert. Wie in den vergangenen Wochen wird es deshalb zwar auch künftig immer wieder Demonstrationen geben – sie werden aber weder einen zweiten «Arabischen Frühling» einläuten, noch Präsident Saied zum Einlenken bewegen. Deshalb steht, unabhängig vom Ergebnis des Urnengangs, der Präsident bereits als Sieger der Wahl fest.