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«Es gibt kein zurück» – Aufstand von Kurdistan über Teheran bis Belutschistan. Ein Gespräch mit drei iranischstämmigen Aktivistinnen aus Frankfurt/Main

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Weltweit zum Symbol der Freiheit geworden: Wandgemälde von Jîna Mahsa Amini des Künstlers Scott Marsh in Alexandria, Sydney
Weltweit zum Symbol der Freiheit geworden: Wandgemälde von Jîna Mahsa Amini des Künstlers Scott Marsh in Alexandria, Sydney Foto: IMAGO/AAP

Wir sprechen über die seit Mitte September 2022 in ganz Iran anhaltenden regimekritischen Proteste. Sie begannen nach dem Tod der Kurdin Jîna Mahsa Amini im Teheraner Polizeigewahrsam, wohin sie gebracht wurde, weil sie angeblich gegen die islamische Kleiderordnung verstoßen hätte. Die von der iranischen Kurdistanregion (im Interview auch Rojhilat genannt) ausgegangenen Proteste finden jeden Tag in allen iranischen Provinzen trotz erheblicher staatlicher Repression und gezielten Tötungen statt. Sie haben den Charakter eines Volksaufstandes angenommen, den es so in der 43-jährigen Geschichte der Islamischen Republik Iran bisher nicht gegeben hat.

Nach offiziellen Angaben sind seit Beginn des Aufstandes in Iran bereits über 500 Menschen gestorben. Die realen Zahlen dürften um einges höher liegen. Bisher gibt es über 20.000 Festnahmen.

Das Interview führte Ercan Ayboga von der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Hessen am 18. November 2022 mit drei iranischstämmigen politischen Aktivistinnen aus Frankfurt/Main: Nina Baghery, Şahla Qaderi und Maryam Hekmat. Zur Sprache kommen die Entwicklung, der Charakter und die Hintergründe der Proteste. Thematisiert werden auch die Verstrickungen der deutschen Bundesregierungen mit dem Mullah-Regime und die Instrumentalisierung von Solidaritätskundgebungen im westlichen Ausland.

Jin, Jiyan, Azadî

Details

Ercan Ayboga von der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Hessen im Gespräch mit drei iranischstämmigen politischen Aktivistinnen aus Frankfurt/Main: Nina Baghery, Şahla Qaderi und Maryam Hekmat am 18. November 2022.

 

Transkript des Interviews

Interview mit den drei iranischstämmigen Aktivistinnen aus Frankfurt am Main Nina Baghery (N), Şahla Qaderi (Ş), Maryam Hekmat (M), durchgeführt am 18.11.2022 durch Ercan Ayboga, RLS Hessen (E)
 

E: Wer war die Mitte September ermordete Jîna Amini aus Saqqez/Kurdistan. Aus was für einem gesellschaftlichen/politischen Umfeld stammt sie? Spielt die Haltung ihrer Familie eine Rolle bei den anschließenden und bis heute andauernden Protesten?

Ş: Jîna war 22 Jahre alt und kam mit ihrem Bruder für zwei nach Teheran, wo sie studieren wollte. Als sie in der Metro festgenommen wurde, war sie auf der Suche nach ihren Bruder, den sie aus den Augen verloren hatte. Drei weitere verhaftete junge Frauen, die mit ihr festgenommen wurden und im gleichen Auto saßen, haben später berichtet, dass sie immer wieder sagte, sie sei hier fremd und suche ihren Bruder. In diesem Moment wäre sie geschlagen worden. Als sie in eine Art Polizeistation gebracht wird, bricht sie zusammen. Zwischen dem Moment ihres Zusammenbruchs und ihrer Einweisung ins Krankenhaus liegen mindestens zwei Stunden. Durch die Berichte der zwei Journalistinnen Nilüfer Hamedi und Elaham Mohamadi und den entstandenen Druck wurde ein Video veröffentlicht, in dem sie zusammenbricht. Davor wurde ein Video vom Regisseur Bahman Ghobadi verbreitet, der über ihren kritischen Zustand berichtete und aussagte, dass im Krankenhaus viele Regimeanhänger seien und ein unbekanntes Ärzteteam aufgetaucht sei, damit keine Informationen nach außen getragen werden konnten. Es wurde behauptet, dass sie vorher schon krank gewesen sei, was nicht stimmte. Als dennoch Menschen von Jînas Zustand erfuhren, kamen Menschen vor dem Krankenhaus zusammen und riefen «wir sind alle Mahsa». Danach tauchte das im Krankenhaus aufgenommene bekannte Video auf, wie sich Ärzte und Krankenschwestern von ihr verabschiedeten. Dieses Video hat eine große Runde gemacht, woraufhin man die zwei genannten Journalistinnen wegen dem Spionagevorwurf verhaftet. Nach dem Tod von Jîna hat das Regime sogleich die Eltern kontaktiert und gesagt, dass nach der Überführung der Leiche nach Kurdistan das Begräbnis sofort stattfinden soll, damit nichts darüber veröffentlicht werden kann und die Bevölkerung davon erfährt. Die Familie lehnte das ab und wartete einen Tag, bis alle von diesem Vorfall erfuhren. Ich denke, dass an diesem Punkt die Familie sehr viel dafür getan hat, dass es sich zu dem entwickelt hat, was es wurde.

Dein Name wird zum Symbol werden!

Auf der Beerdigung beteten zu Beginn eine Reihe von unbekannten Männer, woraufhin der Onkel kam und sagte: «Das ist nicht das, was Jîna wollte, denn Jîna hat nicht an sowas geglaubt. Weg mit euch!» Man hat auch versucht ihren Onkel zurückzuhalten. Dann hat Jînas Tante an ihrem Grabstein geschrieben: «Dein Name wird zum Symbol werden». Außerdem wurden die Familie und das Ärzte-Team, das den Vorgang untersucht hatte, von der Regierung ins Parlament eingeladen; jedoch mit der Bedingung, dass nichts an die Öffentlichkeit getragen werden durfte. Von Anfang an haben das Regime versucht, die Geschehnisse zu vertuschen, jedoch war es zu spät. Natürlich kann man ganz genau sagen, dass der Tod Jîna der letzte Tropfen war, der das Fass zum Überlaufen im Iran gebracht hat; aber es hätte nicht passieren können, wäre nicht da die Familie.

E: Jetzt sind schon zwei Monate vergangen. Könnt ihr uns eine Chronologie wiedergeben. Wie hat sich der Protest entwickelt im ganzen Staat Iran? Wo hat es begonnen und wie hat es sich ausgebreitet?

M: Sie war drei Tage im Koma in Teheran und da hat sich schon eine kleinere Gruppe an Protestierenden vor dem Krankenhaus versammelt. Richtig los ging es jedoch in Saqqez. Was die Familie gemacht hat, war sehr klug, weil die Menschen sind auch aus anderen Rojhilat Städten nach Saqqez gelaufen, weil alle Straßen gesperrt wurden. Trotzdem waren jede Menge Menschen da und haben «Jin, Jiyan, Azadî» gerufen. In mehreren Städten in Rojhilat haben sich diese Proteste entwickelt. Anschließend an der Universität in Teheran und auch in anderen Teilen Irans. Das was vor allem in Belutschistan gelaufen ist, war sehr besonders, weil in vielen Proteste die bisher im Iran gelaufen sind waren Belutschis nicht wirklich beteiligt aus diversen Gründen, aber dieses Mal waren alle dabei.

E: Ihr sagt überall im Iran finden Proteste statt. In Kurdistan und Belutschistan sind sie besonders stark. Kann man sagen, dass es eine große Massenbewegung in diesen zwei Regionen gibt? Und Studierende habt ihr eben erwähnt. Warum gerade die Studierenden?

M: Also diese Revolution hat durch die Jugendlichen angefangen, vielleicht auch weil Jîna auch so jung war. Vielleicht auch weil Jugendliche vernetzt sind durch Instagram und verschiedene Internetplattformen. Es hat verschiedene Gründe. Am Anfang war es so, dass mehr 16 bis 18-Jährige beteiligt waren. Auch die Altersgruppe der Getöteten fällt in diesen Bereich. Jetzt nach paar Wochen sieht man auch mehr. Gestern ist in Kurdistan ein 66-Jähriger in Saqqez, in Jînas Stadt, umgebracht worden. In Kurdistan und Belutschistan ist das Alter gemischt und in Teheran sind es meistens die jungen Menschen.

E: Finden täglich Proteste statt?

Ş: Ja, allerdings laufen die Proteste stadtteilbezogen ab. Die Proteste finden nicht im Zentrum der Stadt statt. Die Jugendlichen sind wirklich sehr gut organisiert. Ich bin da in mehreren Foren unterwegs und bekomme mit, wie sie sich organisieren. Die sind wirklich toll. Das hätte man nie gedacht, dass sie so fortschrittlich und intellektuell sind. Sie sind so gut informiert und sehr mutig. Und sie sind entschlossen. Diese Entschlossenheit sieht man durch die Studierendenbewegungen und Schüler*innenbewegungen. Es verbreitet sich weiterhin auch auf die unterste Schicht, die nicht mehr viel zu verlieren haben.

N: Zu der Frage, warum es gerade Studierende gewesen sind, die sich direkt am Anfang den Protesten angeschlossen haben, möchte ich gerne noch hinzufügen, dass es gar nicht verwunderlich ist, weil Universitäten überall und immer die Quelle von progressiven Gedanken und Aufständen gewesen sind. 1979 waren es auch Studierendenaufstände, die das Feuer ins Rollen gebracht haben. Und vor allem sind es – wie schon gesagt wurde – die jungen Menschen, die vernetzt sind im Internet, die diesen Protest im Land aktiviert und mobilisiert haben, aber auch diese Proteste über Bilder nach außen tragen über die sozialen Medien. Sie haben den Zugang zur Technik, es sind aber auch gerade diese Menschen, die massiv unter der Sittenpolizei und der Regierung leiden. Auch über das Kopftuchtragen hinaus über diese Geschlechterapartheid, die auch in Universitäten stattfindet. Natürlich hat auch die Sittenpolizei und die islamistische Regierung einen Einfluss auf die Bildung im Iran. Wissenschaft kann nicht frei stattfinden und kritische Wissenschaft kann ja nicht in einem Land oder in einer Umgebung stattfinden, in der massiv Gedanken unterdrückt werden und eine Ideologie aufgedrückt wird. Also ich denke, dass das auch einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet hat, warum auch jugendliche und Menschen, die studieren oder Schüler*innen auf die Straße gehen, weil auch das Wissen, die Bildung und die Wissenschaft darunter leidet.

E: Sind bei diesen jetzigen laufenden Protesten/Aufständen mehr Frauen beteiligt als in den vorangegangenen Jahren? 2017/19 gab es ja auch viele Aufstände.

Ş: Ich habe jetzt keine Bilder der vorherigen Proteste vor Augen, aber dieses Mal ist es für alle sichtbar, dass Frauen an der vordersten Stelle stehen. Mittlerweile hat sich das gemischt. Es kommt auch darauf an. Ich kann jetzt nur für den kurdischen Teil reden, weil ich jeden Tag telefoniere mit meiner Familie. Wenn es um bestimmte gefährliche Aktionen geht, sind mehr männliche Jugendliche unterwegs. Für andere kreativere Aktionen sind eher Frauen aktiv. Auf der Straße sind aber beide vertreten.

Es ist eine gesellschafts- und schichtenübergreifende Bewegung.

N: Ich würde auch sagen, dass das gesellschafts- und schichtenübergreifend ist. Es ist im Ursprung eine feministische antipatriarchale Forderung, die aber da nicht aufhört. Also es wird sich aufgelehnt gegen jegliche gesellschaftliche Unterdrückung, die stattfindet. Gegen patriarchale Unterdrückung genauso wie die kapitalistisch wirtschaftliche Ausbeutung. Gegen jegliche Unterdrückungsstrukturen, unter denen nicht nur Frauen, sondern auch Männer bzw. schichtenübergreifend alle im Iran leiden.

M: Was auch dieses Mal sehr sichtbar ist, ist nicht nur, dass die Frauen in großen Massen beteiligt sind, sondern auch Aktivitäten machen, die man früher weniger gesehen hat, z.B. Molotowcocktail werfen. Das haben früher – wenn überhaupt – eher Männer gemacht. Oder auch die Autos der Basidschi (Milizen der Revolutionsgarde), die umgekippt werden. Ich habe mehrere Videos gesehen, wie Männer und Frauen das zusammen machen. Das sind keine typischen Frauen-Aktivitäten im Iran gewesen bis jetzt. Dieses Mal sieht man, dass sie überall dabei sein wollen, zumindest in Teheran.

E: Kurz: Wer sind die Basidschi?

M: Das sind Regierungsmillizen, die bezahlt werden.

E: Wie viele sind das? Um was für eine Zahl handelt es sich?

M: Mehrere Tausend. Eine genaue Zahl habe ich nicht. Manche von denen kommen in Zivilkleidung. Die mischen sich unter die Menschen und bringen Menschen um und manche tragen auch eine Uniform.

E: Welche sozialen Schichten beteiligen sich daran? Es wird gesagt, dass der Protest von 2009 ein Protest des Mittelstandes war, aber jetzt eher untere Schichten, Studierende, Arbeiter*innen?

N: Es ist eine gesellschafts- und schichtenübergreifende Bewegung. Das sieht man jetzt auch an den massiven Streiks der Fabrikarbeiter*innen, aus der Stahl- und Ölindustrie. Es ist auch die unterdrückte Bevölkerung, das Prekariat, das sich auflehnt. Wie man vielleicht mit Perspektive auf die vergangenen Proteste sagen kann, in dieser Masse schon eine Besonderheit an den Protesten heute. Es ist aber nicht so, dass sich die unterdrückten Arbeiter*innen das erste Mal auflehnen. Die wirtschaftliche Lage im Iran ist so prekär, dass Menschen nichts mehr zum Leben haben.

E: Die Arbeiter*innen der Ölindustrie streiken auch?

Ş: Da hoffe ich, dass die Beteiligung mehr wird. Da ist jetzt noch nicht die gewünschte Anzahl an Protesten bzw. Streiks von Arbeiter*innen erreicht. Also das wäre glaube ich die letzte Instanz. Ich denke die warten ab, um sicher zu gehen. Wenn die Ölindustrie stillgelegt wird, dann haben wir gewonnen.

E: Sind die Ölarbeiter*innen etwas privilegierter im Iran?

M: Ja, auf jeden Fall. Die verdienen schon gut. Aber da gibt es auch mehrere Schichten. Also es gibt auch Schichten, die ganz unten sind. Z.B. Arbeiter mit begrenzten Arbeitsverträgen müssen immer Angst haben, gekündigt zu werden. Aber es gibt auch diejenigen, die feste Verträge haben und sehr gut verdienen.

E: Wie wird im Iran heute protestiert? Also wie sind die Aktionsformen?

Ş: Oh, das ist echt weit verbreitet. Also ich bin wirklich beeindruckt, was da künstlerisch gemacht wird. Ob das Gesang ist oder Videos, Animationen, die Bemalung von Wänden. Diese Kreativität ist der Wahnsinn. Der Protest findet zu Hause, auf dem Weg und auch beim Einkaufen statt. Wenn man beispielsweise Schokolade nutzt, um Flugblätter zu verteilen.

N: Ja, es wird auf jeden Fall aktiv aggressiv protestiert, was natürlich erforderlich ist. Mit Molotowcocktails, wie Maryam schon sagte, das umschmeißen der Autos der Regierungskräfte – auch das Anzünden. Gestern wurde das Geburtshaus von Khomeini in Brand gesetzt. Also es gibt diese Protestform, die sehr aggressiv und radikal ist, es gibt aber auch Protestformen, die kreativ und künstlerisch sind. Und eine der Protestformen, die mich sehr beeindruckt und bespaßt, ist, dass junge Menschen vorbeilaufenden Mullahs den Turban vom Kopf schlagen. Das hat sich jetzt innerhalb des ganzen Landes verbreitet. Uns erreichen immer wieder Videos, wie junge Menschen eben den Mullahs den Turban vom Kopf schlagen, ohne sie körperlich zu verletzten. Aber das ist ein starker Ausdruck eines Widerstandes.

E: Gab es oder gibt es große Massendemonstrationen?

M: In Kurdistan eher. In anderen Städten läuft das eher stadtteilbezogen ab. Das ist aber eine Taktik, die von Anfang an Teil der Aufrufe waren. Es wäre viel besser, wenn man sich nicht an einem zentralen Ort versammelt, weil dann kann man eher unterdrückt werden. Man solle sich in mehreren Stadtteilen versammeln, so müssen sich auch die Sicherheitskräfte verteilen und so viele Sicherheitskräfte haben sie nicht, besonders wenn die Proteste gleichzeitig in mehreren Städten läuft.

E: Kommen wir zur Parole «Jin, Jiyan, Azadî», was «Frau, Leben, Freiheit» bedeutet. Şahla du hast gesagt, dass von Anfang an diese Parole gerufen wurde. Wurde diese Parole gleich von allen angenommen?

M: Also «Jin, Jiyan, Azadî» ist nicht erst durch diese Proteste aufgekommen. Diese Parole gibt es seit den 90er Jahren durch die Frauen der kurdischen Bewegung. Auch die Samstagsmütter in der Türkei haben diese Parole gerufen und in Rojava. Das war auch fester Bestandteil unserer Demonstrationen in Deutschland seit mehr als 12 Jahren. In Kurdistan, in Rojhilat wurde diese Parole zu jeder Gelegenheit, wie am 8. März, gerufen. Daher ist das keine neue Parole. Es ist eine Parole, die aus der kurdischen Freiheitsbewegung kommt. Es gibt auch eine Philosophie dahinter. Was mich ärgert ist, dass diese deutschen Politiker*innen, sich mit dieser Parole schmücken auf T-Shirts und Plakaten. Da steht «Solidarität mit den iranischen Frauen», aber parallel zur selben Zeit gehört diese Parole der kurdischen Freiheitsbewegung und Kurdistan wird hier kriminalisiert. Es werden mehrere Menschen verhaftet und Erdogan wird unterstützt. Zeitgleich finden Giftgasangriffe in Kurdistan statt. Ja, diese Parole gehört zu der Bewegung, die kriminalisiert, bombardiert und getötet wird und auf der anderen Seite haben Politiker*innen Solidarität mit den Menschen aus Iran. Für mich ist das paradox.

Ş: Das hat alles zeitlich zusammengepasst.

N: Ich glaube, dass diese Parole aber auch bisschen mehr Anklang findet, weil verwässert wird, dass es sich bei der Parole um eine kurdische Befreiungsbewegung handelt. Das sieht man auch in Deutschland, wie Maryam gesagt hat. Auch dass sich iranische Nationalist*innen den Protesten anschließen, «Jin, Jiyan, Azadî» rufen und nicht den Bezug zur kurdischen Freiheitsbewegung herstellen.

E: Spielen Oppositionelle und bestehende Organisationen – linke oder die Organisationen der Kurd*innen – eine ernsthafte Rolle bei den Protesten?

Ş: Also ich kann so allgemein sagen, nein. Die haben keinen großen Einfluss. Allerdings im kurdischen Bereich punktuell schon. Wenn es beispielsweise um Streiks geht. Die Bevölkerung, also die Menschen waren dazu bereit mitzumachen. Es lag also nicht daran, dass es Organisationen es wollten, sondern weil die Menschen dazu bereit waren und einen Grund dafür haben.

Die jungen Menschen brauchen keine Führer. Die machen das und die führen sich selbst. Sie haben bisher keine Führer gebraucht.

Klar gibt es Ideologien, das liest man in den Gruppen, die miteinander diskutieren.

N: Vielleicht nochmal ein bisschen zur Kontextualisierung: Im Iran konnten sich während des islamischen Regimes keine oppositionellen Organisationen gründen. Jegliche Art von Organisierung, die oppositionell ist, wird im Kern zerschlagen,. Tatsächlich gibt es außerhalb Kurdistans keine wirkmächtige linke Organisation, die die Proteste anführt.

E: Wichtig wäre auch zu wissen, wer sich im Iran nicht an den Protesten beteiligt. Gehen alle Menschen, die mit dem Regime unzufrieden sind, auf die Straße oder beteiligen sich in irgendeiner Form?

M: Da immer kleinere Gruppen auf den Straßen zu sehen sind, würde ich sagen, dass in Teheran – in einer Stadt mit 17 Millionen Einwohnern – die meisten nicht dabei sind. Warum die nicht dabei sind, hat unterschiedliche Gründe: Die Oberschicht hat kein Interesse. Diejenigen, die ihren Nutzen aus dieser Regierung ziehen, haben kein Interesse. Viele haben Angst. Manche haben auch keine Hoffnung. Man kann nicht genau sagen, was in den Köpfen abläuft. Ich würde sagen, die Unterdrückung spielt eine große Rolle.

Ş: Ja, Existenzängste. Sie fragen sich, «was mache ich, wenn ich jetzt auf die Straße gehe und getötet werde», «was machen meine Kinder». Also man muss nicht mal richtig demonstrieren gehen. Man kann auch zum Einkaufen rausgehen und getötet werden. So haben viele Ängste und Hoffnungslosigkeit. Ich lese auch immer, dass die Studierendenbewegung im kurdischen Bereich schreibt: «Wir können schon viel machen, aber solange Teheran nicht mit Millionen Menschen auf die Straße geht, ist es schwierig». Es gibt kein Zurück, das ist schon mal klar. Es geht nur vorwärts und der entscheidende Punkt ist noch nicht da. In den letzten drei Tagen hat sich aber so viel verändert. Die Demonstrationen sind aggressiver geworden und viel enger, also in geringeren abstände. Uns erreichen innerhalb von Stunden mehrere 100 Nachrichten, Bilder und Videos. Man kann das alles nicht mal verarbeiten. Und man muss auch davon ausgehen, dass das Internet nicht immer funktioniert, d.h., die Bilder und Nachrichten kommen auch später an.

M: Und es gibt auch Menschen, die Angst haben. Ich gehe immer in das Clubhaus. Da kommen viele Jugendliche aus dem Iran und reden dort. Von denen habe ich gehört, dass viele nicht auf der Straße sind, weil sie Angst haben, aber sie helfen uns von zu Hause. Zum Beispiel bereiten sie die Molotowcocktails vor oder sie schreiben etwas für uns. Es gibt viele Sachen, die man von zu Hause aus machen kann. Es sind also nicht nur die Menschen, die man auf den Videos sieht, sondern auch die, die von zu Hause aus helfen.

E: Es wird von hunderten Toten gesprochen. Könnt ihr Zahlen nennen? Aber vor allem erstmal: Wie versucht der Staat Proteste zu bekämpfen?

M: Also wir haben in den Nachrichten gesehen, wie wahllos man mit Gewehren in die Menge schießt, egal ob sie beteiligt sind an den Protesten oder nicht. Gestern haben sie z.B 18 Menschen umgebracht, unter anderem ein Zehnjähriger wurde erschossen. Es gibt auch brutale Verhaftungen. Da werden viele junge Menschen getötet. Die schlagen direkt und gezielt auf den Kopf. Viele sind durch ein Schädeltrauma gestorben.

Ş: Man muss sagen, es gibt auch einen kleinen Unterschied zwischen gezielten Tötungen und willkürlichen. Ich weiß nicht, ob das mit Angst zu tun hat, aber es ist eindeutig in Belutschistan, wo Menschen einfach brutal erschossen werden. Das hab es nicht in Teheran. Dort gibt es Schläge und Tränengas, aber kein gezieltes Töten.

M: Aus der Luft und vom Boden aus wurden innerhalb von zwei oder drei Stunden neunzig Menschen umgebracht. Dieser Tag ist als «Schwarzer Freitag» bekannt, weil so viele gestorben sind und über 200 Menschen verletzt wurden. Auch wurden viele verhaftet. Offizielle Zahlen vom iranischen Staat besagen bis jetzt 360 Tote- davon 56 Kinder – und ein Drittel stammt aus Belutschistan.

E: Es gab jetzt in den westlichen Medien Berichte darüber, dass 15.000 Menschen festgenommen wurden und Verfahren – mit dem Ziel der Todesstrafe – eröffnet werden. Was kann erwartet werden? Was kann mit diesen Menschen passieren?

Ş: Es kann viel passieren. Also ich denke, dass es echt nicht planbar ist für die. Die können schnell eine Entscheidung treffen und irgendeinen Grund finden, damit massenweise Leute gefangen genommen und erschossen werden können. Also es gibt kaum Plätze mehr. Wo soll man diese Menschen denn hinbringen? Diese Menschen brauchen auch Essen und Trinken. Das ist schon unberechenbar. Wir hoffen, dass irgendetwas passiert, bevor andere Schritte unternommen werden.

M: In der Geschichte Irans gab es das schon, dass sie in den 80er Jahren innerhalb zwei Monate mehrere tausend politische Gefangene hingerichtet haben. Das heißt, dass das wieder passieren könnte, weil die Regierung schwach ist und Angst hat Macht zu verlieren. Bis jetzt wurde bei 16 Gefangenen die Todesstrafe verhängt. Einer davon ist auch ein kurdischer Sänger. Ich habe gestern gesehen, dass von Regime-Anhängern ein Hashtag auf Twitter, was übersetzt «#richtetihn» bedeutet, verbreitet wurde. Viele haben dieses Hashtag genutzt. Sie wollen die Todesstrafe für alle Gefangenen.

N: Genau, bei den Gerichtsprozessen, die vor ein paar Tagen stattgefunden haben, wurden legale Strukturen ermöglicht, um im Schnellverfahren diese – mittlerweile 16.000 – Festgenommenen hinrichten zu können und die gängigen Hinrichtungsmethoden sind entweder erschossen oder erhängt werden.

E: Können wir sagen, dass wir uns einer Situation wie Ende der 70er annähern. Einer revolutionären Situation im Iran oder müssen wir noch warten? Wenn das so ist, was ist noch nötig, damit das Regime gestürzt werden kann?

B: Also damals 1979 war ich selbst Teenager und ich kann dir sagen, dass das gar nicht vergleichbar ist. Also, wie reif die 15/16-Jährigen heute sind, ist gar nicht vergleichbar mit damals und das ist ein großer Unterschied, denn sie haben mehr Informationen und mehr Ahnung. Sie sind reifer durch das Leid, das sie 43 Jahre ertragen mussten. Ich glaube, wenn diese Proteste länger und massiver andauern, könnte es schon passieren.

Dieses Mal ist es anders. Dieses Mal sind alle beteiligt.

Ş: Ich denke auch. Also ich denke, das ist eine Revolution. Das kann man nicht anders benennen. Es kann sein, dass es lange dauert. Die jungen Menschen haben Zeit, um sich zu organisieren. Also die letzten Funken sind die Arbeiter*innen, die mitmachen. Dieses Mal ist es anders. Dieses Mal sind alle beteiligt. Sie haben die Angstschwelle übersprungen. Die neue Generation will nach Vorne und das machen die.

N: Ob das jetzt ein revolutionärer Prozess ist ... Ich denke auch, dass sich eine Revolution nicht von heute auf morgen vollzieht. Das ist immer ein Prozess. Ob das jetzt was heute oder morgen passiert, zu einem Systemumsturz führt, hängt mit viel mehr Faktoren zusammen als nur der inländische Aufstand. Das sind geopolitische Bedingungen, die dieses Regime über 43 Jahre am Leben erhalten haben. Die Legitimationsgrundlage aus dem Land heraus – aus der eigenen Bevölkerung heraus – ist längst weggebrochen.

E: Das Regime ist also nicht mehr reformierbar?

N: Nein, es ist zum einen nicht reformierbar und zum anderen wollen das die Menschen nicht. Im Iran schreit der Ruf nach einem Systemwechsel auf den Straßen. Es wird nicht nach Reformen geschrien. Es sind keine Proteste, die durch eine Aufhebung der Hijab-Pflicht aufgegeben werden könnten. Die Menschen wollen dieses System und das Mullah-Regime nicht mehr. Sie wollen eine säkulare Demokratie, die innerhalb des Systems nicht hergestellt werden kann.

M: Also die Menschen haben seit 43 Jahren alles ausprobiert. Deshalb sind sie zu dem Entschluss gekommen: «Nein, dieses Mal wollen wir das ganze System nicht mehr». Die Reformisten haben die Menschen angelogen. Die sind an die Macht gekommen, aber waren genauso, wie die anderen. Außerdem will die Regierung selbst keine Reform. Sie haben kein bisschen Reue wegen den getöteten jungen Menschen gezeigt oder wegen des Hijabs. Sie wollen keinen Schritt zurückgehen und das sehen die Menschen im Iran.

E: Hier in Deutschland, in den Weststaaten – also europäischen Staaten gibt es keine Partner des Irans, aber Staaten wie Deutschland und Frankreich kooperieren wirtschaftlich. Nutzt Europa die bestehenden Möglichkeiten aus? Die EU hat wieder von Sanktionen gesprochen.

N: Also ich würde diese Frage, die sehr komplex ist, aufdröseln. Zum einen müssen wir uns vor Augen führen, dass es in der Tat viele ökonomische, aber auch diplomatische Beziehungen zwischen Deutschland und dem Iran gibt. Deutschland ist der größte europäische Handelspartner des Iran und der drittgrößte Weltweit. Zugespitzt kann man sagen, dass die Deutsch-Iranischen Handelsbeziehungen den Repressionsapparat des Regimes mitfinanzieren und auch über die 43 Jahre hinweg das Mullah-Regime erstarkt und am Leben erhalten haben.

Deutschland war zum Beispiel das erste NATO-Land, das nach der Revolution 1984 wieder diplomatische Beziehungen zum Iran hergestellt hat.

Frank Walter Steinmeier hat 2019 zum 40-jährigen Jubiläum der Staatsgründung Khomeini persönlich gratuliert. Deutschland hat sich bis 2012 explizit gegen Sanktionen gegen das iranische Regime gestellt. 2015 ist Deutschland mit fünf anderen Staaten das Atomabkommen eingegangen. All diese Sachen, all diese politischen Entscheidungen, die Deutschland gefällt hat aber auch die ökonomischen Beziehungen, sind ein Grund dafür, dass der Staat trotz des Wegfalls der inländischen Legitimation durch die eigene Bevölkerung weiterhin am Leben erhalten können.

Abgesehen davon, welche Möglichkeiten es jetzt gibt, um von Deutschland aus Druck auszuüben, um das Regime zu schwächen, muss man anerkennen, dass Deutschland mit dazu beigetragen hat, dass dieses Regime international so stark geworden ist. Man muss sagen, zum einen gibt es einen diskursiven Zuspruch seitens der Außenministerin zur iranischen Diaspora in Deutschland. Sie zeigt Präsenz auf Konferenzen oder Veranstaltungen, verurteilt die iranische Regierung in ihrem aggressiven Vorgehen gegenüber den Unterdrückten. Das verschleiert allerdings, dass die Iraner*innen keine liberalen, freiheitlichen Menschenrechte fordern, sondern grundsätzlich einen Systemwechsel.

Auf die Forderungen der iranischen Diaspora, dass diplomatische Beziehungen zum Iran eingestellt werden sollen, dass die deutschen Botschaften im Iran geschlossen werden sollen, dass Regierungsangestellte, die in Deutschland sind, ausgewiesen werden sollen. All das hat Annalena Baerbock abgelehnt. Sie hält an den diplomatischen Beziehungen zum Iran fest und daher haben die paar wenigen Sanktionen, die erteilt werden, nur einen Symbolcharakter. Also gerüttelt wird an den Fundamenten des Regimes mit den Sanktionen nicht. Das wirkt alles vielleicht nüchtern, wenn man sich die Tatsachen vor Augen führt und deshalb ist es auch aus linker Perspektive wichtig, anzuerkennen, dass Appelle an die Regierung über Forderungen von Sanktionen nur eine kurzfristige Strategie darstellen können, die Aggressivität der Regierung gegenüber den Demonstrant*innen einzudämmen. Aber für einen Systemwechsel kann nicht an den Staat appelliert werden, der mit dem Iran verhandelt, der diplomatische Beziehungen zum Iran hat. Dafür ist es nötig, dass zivilgesellschaftliche Solidaritäten international entstehen und gestärkt werden und auch Kritik gegenüber der deutschen Regierung stark und laut gemacht wird, wie sehr verwickelt die deutschen Bundesregierungen seit den 80ern mit dem Mullah-Regime gewesen sind.

E: In Europa finden ja viele Solidaritätsaktionen und Demonstrationen statt. Die Demonstration mit den meisten Beteiligungen war am 22. Oktober 2022. Wer demonstriert hier? Sind es nur Linke oder auch liberale oder monarchistische? Und wie sieht die Beteiligung nicht iranischer Organisationen aus? Könnt ihr dazu einen Überblick verschaffen?

N: Ich war selbst nicht auf der Demonstration in Berlin. Ich kann auch keine ganzheitliche Analyse der Demonstrationen im Ausland bieten. Ich kann nur aus meinen Erfahrungen auf den Demonstrationen in Frankfurt berichten. Ich persönlich blicke mit gemischten Gefühlen auf die Demonstrationen in Deutschland, weil ich auf der einen Seite natürlich begrüße, dass sich sehr viele Menschen in Massen auf die Straßen begeben und das iranische Regime anklagen und sich mit den Protestierenden im Iran solidarisieren.

Gleichzeitig sehe ich aber auch eine gefährliche Instrumentalisierung der Proteste seitens neoliberaler Politiker*innen und iranisch stämmiger Monarchie-Anhänger*innen. Also ich persönlich gehe nur noch selten auf die iranischen Solidaritätsdemonstrationen in Frankfurt, weil mir die Präsenz der Monarchie-Anhänger*innen zu groß ist und weil ich von den Organisator*innen in Frankfurt kein klares Signal der Ausgrenzung der Monarchie-Anhänger*innen erlebt habe. Ganz im Gegenteil. Vor zwei Wochen war ich auf der Kundgebung auf dem Römerberg und dort hat ab einem gewissen Zeitpunkt ein iranisch stämmiger älterer Mann gesprochen, der historisch aufgearbeitet hat, wie die Proteste heute aufgestellt sind, wie die Proteste heute mit der Arbeiter*innenbewegung aus der Zeit vor 1979 zusammenhängen und dass die iranische Regierung nicht wieder unter die Fugen der Monarchie geraten soll, sondern ein freiheitlich demokratisches Land werden soll. Dieser Mann wurde durch einige zwar wenige aber dennoch laute Monarchist*innen in seiner Rede unterbrochen. Sie haben angefangen, lauthals Parolen zu schreien, während der Mann gesprochen hat. Er hat dann seine Rede unterbrechen müssen und ist von der Bühne gegangen und hat die Organisator*innen der Demonstration, nicht die Leute, die die Rede unterbrochen haben in die Schranken gewiesen. Und das besorgt mich.

Mich besorgt auch die Instrumentalisierung der Proteste und Scheinsolidarisierung mit den Protesten seitens deutscher Politiker*innen.

Zum anderen besorgt mich aber auch die Instrumentalisierung der Proteste und Scheinsolidarisierung mit den Protesten seitens deutscher Politiker*innen. Beispielhaft ist dafür die Unionspartei, die sich auf den Demonstrationen in Berlin am Brandenburger Tor – kurz nach dem Aufblühen der Proteste – mit den Iraner*innen solidarisiert. Gleichzeitig hat die Unionspartei in 16 Jahren Bundesregierung genau dieses Mullah-Regime gestärkt. Das hat dazu beigetragen, dass dieses Mullah-Regime sich finanzieren und ihre eigenen Leute unterdrücken kann. Auf der anderen Seite hat aber auch die Unionspartei zu einer verschärften Asylpolitik in Deutschland beigetragen. Es hat Kriegsgebiete zu sicheren Herkunftsländern erklärt. Es hat zu einer menschenfeindlichen EU-Außengrenzen-Politik beigetragen. Dass sie sich nicht um Frauen und Menschenrechte geschert haben, kann man auf die Situation in Afghanistan hinweisen, wo sie letztes Jahr Frauen und Mädchen der Taliban hinterlassen hat. Dass sie sich jetzt mit der Befreiungsbewegung der Frauen solidarisieren, bewerte ich als Scheinsolidarität.

E: Sind die Monarchist*innen hier in Europa stark? Fordern die die Rückkehr der Monarchie? Muss man diese Menschen ernst nehmen oder sind es nur einige Wenige?

Ş: Also, dass was Nina am Anfang erwähnt hat stimmt. Die Monarchist*innen versuchen hier im Ausland Plattformen zu schaffen, um Demonstrationen und Kundgebungen zu vereinnahmen. Das sind nicht viele, das ist meine Erfahrung. Ich gehöre auch zu den Leuten, die diese Demonstrationen mitorganisieren. Das ist tatsächlich ein Kampf, denn auch wenn es wenige sind, sprengen sie den Raum. Das heißt, sie machen, wo es auch nur geht auf sich aufmerksam. Die Organisator*innen bemühen sich, das zu unterbinden. Am Anfang war das schwierig, weil man festgelegt hat, dass Flaggen irgendwelcher Parteien und Organisationen nicht erlaubt sind, sondern nur Plakate, die die Proteste betreffen. Diese Menschen nutzen die Plattform aus, sodass sie sich nach mehreren Demonstrationen beschlossen haben, selbst Aufrufe für Demonstrationen zu starten und Menschen nehmen an diesen Demonstrationen teil, ohne zu wissen, wer dahintersteckt. Ich würde sagen, das macht es schwierig hier eine Einheit sind und einheitlich gegen die iranische Regierung sind. Es werden im Iran und Kurdistan auch Parolen gegen Monarchen auf den Straßen geschrien.

E: Wie sieht die Beteiligung von nicht iranischen Menschen und Organisationen an den Protesten aus?

Ş: Also meiner Erfahrung nach sind es Vereinzelte. Mein Wunsch und Traum wäre es, dass die Menschenrechte überall gelten. Dass Kinderrechte oder Frauenrechte nicht nur in Europa gelten, sondern auch in Afghanistan oder Afrika gelten. Deshalb verstehe ich nicht, dass die Menschen nicht dafür einstehen. Muss eine Frau in Frankfurt angegriffen werden, damit man die Stimme erhebt? Macht es einen Unterschied? Ich denke, weil es eben den ganzen Iran betrifft und wir bereit sind, nach Berlin zu fahren und an Demonstrationen teilzunehmen, müssen wir aufhören zu hinterfragen, wer diese Demonstrationen organisiert, sondern wir müssen den Menschen im Iran zeigen, dass wir da sind und dass wir für sie auf die Straße gehen.

M: Und das ist das Gefährliche, dass man nicht hinterfragt. Man will nur solidarisch sein und hingehen. Die Leute, die 1979 mitgemacht haben, zittern alle. Weil viele sagen, dass damals Khomeini auch gesagt hat, dass man später über alles reden kann, aber es jetzt wichtig ist, Einheit zu zeigen. Dieses «alle zusammen» macht mir so Angst, dass ich auch auf solche Demonstrationen nicht gehe, weil ich hinterfrage, wer hinter diesen Demonstrationen steckt und was wollen sie erreichen. Da muss man genau hingucken.

N: Also meiner Einschätzung nach ist es auch gefährlich, eine scheinbare Einheit in den Demonstrationen im Ausland darzustellen. Şahla hat schon gesagt: es sind zwar nicht viele Monarchie-Anhänger*innen, allerdings hat der Sohn des ehemaligen Shahs, der in den USA lebt, eine sehr große mediale Präsenz. Ihm wird auf BBC eine Plattform geboten, wo er zu Aufständen aufruft. Es gibt Menschen, die sein Gesicht auf Demonstrationen auf Plakaten hochhalten. Es ist eine reale Option, dass das Monarchie-System zurückkehrt in den Iran – das müssen wir anerkennen. Wir müssen als linke Personen über den gesamtgesellschaftlichen Mainstreamdiskurs hinausblicken und überlegen, was denn progressive Alternativen für den Regierungswechsel sind. Wir sind uns alle einig, aus welchen Lagern auch immer, dass wir dieses System, das herrscht, weghaben wollen. Die Frage, die jetzt zwangsläufig folgt, die auch sehr wichtig und grundlegend ist: was soll danach folgen? Ich finde, wir als Linke sollten uns mit diesen Fragen beschäftigen und sollten über die Scheinvereinheitlichungen der Demonstrationen sprechen, das fehlt mir.

Mir fehlt seitens der Linkspartei ein klares Bekenntnis zu den Demonstrationen. Mir fehlen linke Analysen der Politiker*innen.

Da hoffe ich, dass das in den nächsten Wochen folgt. Es ist wichtig von außen hin einheitlich Druck zu machen und in Massen auf die Straßen zu gehen. Jetzt ist aber die Zeit gekommen, wo wir alle sehen, es wird früher oder später ein Systemwechsel folgen und da müssen wir uns fragen, welches System wollen wir haben. Dafür müssen Diskurse geschaffen werden, die linke progressive Ideen zum Systemwechsel beitragen.

E: Du kritisierst ja einen Teil der Linken in Deutschland und Europa. Kann es damit zusammenhängen, dass manche im Iran ein antiimperialistisches Projekt sehen wollen?

N: Ja, definitiv. Ich beobachte innerhalb Deutschlands/Europa aber auch in Lateinamerika, wozu ich wissenschaftlich zum Beispiel forsche und mit linken zivilgesellschaftlichen Bewegungen in Verbindung stehe, eine sehr zögerliche Haltung gegenüber den Protesten im Iran und das ist meiner Analyse nach einer verkürzten Imperialismus-Analyse geschuldet. Ich hatte 2019, als das 40-jährige Jubiläum der Staatsgründung war, in Mexico gelebt und da hat eine aufständische indigene Bevölkerung, die sich «die Zapatistas» nennt oder sie eine vertretende Organisation, dem iranischen Regime gratuliert. Als Fidel Castro gestorben ist, wurden alle vermeintlich antiimperialistischen Staatsoberhaupte nach Kuba eingeladen, um dort eine internationale antiimperialistische Trauerfeier für Fidel Castro und für die kubanische sozialistische Revolution abzuhalten.

Es gibt meiner Analyse nach eine verkürzte Imperialismus-Analyse, die total an der Realität vorbeischlägt.

Also es gibt meiner Analyse nach eine verkürzte Imperialismus-Analyse, die total an der Realität vorbeischlägt, weil der Iran Dreh- und Angelpunkt im mittleren Osten für die deutsche Kapitalakkumulation ist und wir auch anhand der zögerlichen Sanktionen und der fehlenden Abkehr der diplomatischen Beziehungen erkennen, dass der imperiale Westen ein wirtschaftliches Interesse am Fortbestehen des Regimes hat.

E: Wie sollte mehr Solidarität durch Menschen und Organisationen in Deutschland, Europa und International aussehen, die an einer Demokratisierung und Freiheit des Irans interessiert sind? Was können Menschen tun?

N: Also das was immer wieder gesagt wird ist: dass jeder sich täglich über den Verlauf der Proteste aktuell informiert hält und Informationen über die sozialen Medien teilt und die Stimme der Protestierenden auch in Deutschland repräsentiert. Darüber hinaus finde ich es ausschlaggebend, dass Menschen im Ausland sich mit der politischen Geschichte und den Aufständen der Arbeiter*innenbewegung und der Unterdrückten im Iran beschäftigen und auch selbst politische Analysen herstellen, die zum Ausdruck bringen, dass die protestierenden im Iran eben nicht wieder unter die Fugen der Monarchie geraten wollen.

Und über die Appelle, die über den Staat hinausgehen, betrachte ich es als sehr wichtig, dieses Moment des Klassenkampfes, der im Iran gerade aufblüht und die Proteste markiert auch in Deutschland aufzufangen. Hier in Deutschland könnten sich Gewerkschaften und kämpfende Arbeiter*innen sich mit den Protesten der Arbeiter*innen im Iran solidarisieren. Das wird ein bisschen dadurch erschwert, dass in Deutschland politische Streiks verboten sind. Hier müsste allerdings seitens der Linkspartei, was letzte Woche auch passiert ist, Druck auf die deutsche Bundesregierung ausgeübt werden. Vor einigen Tagen hat sie für die Aufhebung des Verbots politischer Streiks im Bundestag eingereicht. Eine Aufhebung solchen Verbotes, könnte dazu beitragen, dass politische Streiks in Deutschland in Solidarität mit den Arbeiter*innen im Iran stattfinden können. Einer der Unternehmen, die dafür verantwortlich sind, dass das Internet im Iran gedrosselt wurde, sitzt in Nord-Rhein-Westfalen und nennt sich ArvanCloud. Hier hätten Gewerkschaften zum Streik der Arbeiter*innen in diesem Unternehmen aufrufen können. Wir müssen als Linke über die Appelle, die wir an den Staat richten uns überlegen, welche zivilgesellschaftlichen Möglichkeiten der Solidarisierung gibt es und welche können wir herstellen. Wir müssen nachdenken, wie sich internationale Solidarität materiell verfestigen oder ausdrücken kann.

E: Ich denke das war ein schöner Abschluss für dieses großartige Interview. Vielen Dank, dass ihr gekommen seid.