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Die Rolle der Streikenden in der gegenwärtigen Revolution im Iran

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Großer Basar von Teheran, 3. Dezember 2022: Alle Läden sind geschlossen, weil die Händler*innen streiken.
«Während des dreitägigen Generalstreiks im November 2022 konnten die Protestierenden in Iran das Räderwerk der Revolution in einer historisch nahezu einmaligen Geschwindigkeit antreiben. Seit dem 16. November scheint die Flamme dieses Aufstands unauslöschbar.» Großer Basar in Teheran, 3. Dezember 2022: Händler*innen lassen ihre Geschäfte aus Protest geschlossen., picture alliance / NurPhoto | Morteza Nikoubazl

Auch wenn das Mullah-Regime die Schrauben der Repression gegen die eigene Bevölkerung immer weiter anzieht und bereits Todesurteile gegen Demonstrant*innen gefällt und vollstreckt hat, lassen sich die Menschen offenbar nicht länger von der rohen Gewalt der Islamisten einschüchtern. Dabei ist der Widerstand der Iraner*innen ausgesprochen vielschichtig. In den Nachrichten über die anschwellende Revolution kommt eine Dimension des Widerstands jedoch regelmäßig zu kurz: die Streiks. Seit September hat es immer wieder groß angelegte Arbeitsniederlegungen gegeben, zuletzt im Dezember 2022 einen dreitägigen landesweiten Generalstreik, der, so scheint es, von der großen Mehrheit befolgt wurde.

Welche Bedeutung haben diese Streiks für die Proteste, welche Rolle spielen die Arbeiter*innen im Rahmen des Widerstands? Das Woman*-Life-Freedom-Kollektiv geht für uns dieser Frage vor dem Hintergrund der historischen Streikerfahrungen der iranischen Bevölkerung auf den Grund.
 

Wofür streiken Arbeiter*innen in kapitalistisch organisierten Gesellschaften? Karl Marx schreibt in seinen Schriften zur Kritik der politischen Ökonomie, dass Arbeiter*innenstreiks das Ziel verfolgen, dass die Löhne nicht unter die Reproduktionskosten der Arbeitskraft und der von ihnen abhängigen Menschen fallen. Anders ausgedrückt geht es darum, dass die Arbeiter*innen, ihre Kinder und andere von ihrem Lohn abhängigen Menschen, morgen so weiter leben können wie heute. Der Weg, auf dem in einem Wettbewerbsmarkt die tatsächlichen Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft zu jedem Moment festgestellt werden können, ist ein ununterbrochener Kampf dafür. Findet dieser Kampf zu einer gewissen Zeit aus irgendeinem Grund nicht statt, fallen die Arbeitslöhne sofort unter die Reproduktionskosten. Arbeiter*innenstreiks, ließe sich dann weiter formulieren, finden also innerhalb der kapitalistischen Logik statt, wodurch sie letztlich nicht zur Überwindung kapitalistischer Herrschaft beitragen können. Marx selbst weist  jedoch darauf hin:

«Da nun die Tendenz der Dinge in diesem System solcher Natur ist, besagt das etwa, daß die Arbeiterklasse auf ihren Widerstand gegen die Gewalttaten des Kapitals verzichten und ihre Versuche aufgeben soll, die gelegentlichen Chancen zur vorübergehenden Besserung ihrer Lage auf die bestmögliche Weise auszunutzen?»

Marx, Karl: Lohn, Preis und Profit [1865], in: Marx, Karl/Engels, Friedrich: Werke (MEW), Bd. 16, Berlin 1956 ff., S. 151

Marx schreibt weiter, dass der Kampf der Arbeiter*innen nicht nur dieses eine Ziel verfolgen kann und muss. Und die Geschichte zeigt uns: Es ist durchaus möglich, dass der Kampf über dieses Ziel hinausgeht und das System selbst ins Wanken bringt. Ausgehend von diesen Gedanken, beabsichtigen wir mit diesem Artikel, einen Blick auf die aktuellen Streiks im Iran zu legen: 
Wofür streiken die Arbeiter*innen im Iran derzeit?

 

Hadaf kolle nezame – Ziel ist das gesamte System

Neben dem mittlerweile international bekannten kurdischen Slogan, «Jin Jîyan Azadî», ist auf den Straßen Irans ein weiterer Ruf zu hören: «In akharin payame, hadaf kolle nezame». Übersetzt bedeutet es so viel wie: «Dies ist die letzte Warnung, dieses Mal geht es um das gesamte System». Seit September 2022 protestieren im gesamten Land Menschen unterschiedlichster gesellschaftlicher Gruppen, Alter, sozialer Schichten. Proteste im Iran sind weder selten noch ungewöhnlich und dennoch unterscheiden sich die aktuellen Proteste von den früheren: Die Menschen heute kämpfen weder für bürgerliche Reformen, wie es die «Grüne Bewegung» im Jahr 2009 noch tat, noch kämpfen sie für Systemverbesserungen in nur bestimmten gesellschaftliche Bereichen. Sie kämpfen für einen grundlegenden Umsturz des gesamten gesellschaftlich-politischen Systems. Ein Teil dieser Kämpfe wird maßgeblich von den Arbeiter*innen getragen. Welche Rolle spielen ihre Kämpfe in diesen Protesten, die die Menschen im Iran mittlerweile Revolution nennen?

Die Islamische Republik Iran hat einen Klassencharakter. Nach offiziellen Statistiken leben zwischen 35 und 50 Prozent der iranischen Bevölkerung unter der Armutsgrenze – Tendenz steigend. Prekäre Arbeitsbedingungen, monatelang nicht ausgezahlte Löhne, Löhne, die weit unter den Reproduktionskosten der arbeitenden Klasse liegen und Renten, die weit unter der offiziellen Armutsgrenze liegen, massive Privatisierungen in allen Wirtschaftssektoren, um sie der gesellschaftlichen Kontrolle zu entziehen und so fort: All das fällt zusammen mit einem absoluten Streikverbot und der Kriminalisierung sowie teilweisen Illegalisierung von unabhängigen Gewerkschaften. Und all das sind Mittel zur Ausbeutung und Unterdrückung der Arbeiter*innen durch die herrschende Klasse im Iran – Mittel, die mit der ganzen Gewalt und ideologischen Härte des repressiven Staatsapparats gegen die Mehrheit der Bevölkerung eingesetzt werden.

Der Widerspruch, der zwischen den gewaltsam isolierten Arbeiter*innen und dem Kapital, das in den Händen der politischen Elite liegt, herrscht, ist im Iran ein direkter, ohne jegliche zwischen ihnen vermittelnde Institution. Die Verquickung zwischen Kapital und Regime macht den Kapitalismus des Staates so besonders brutal. Trotz der massiven Unterdrückung organisieren sich die Arbeiter*innen im Iran. Sie gehen auf die Straßen, streiken wochenlang und werden dafür mit jahrelangen Gefängnisstrafen sanktioniert. Doch, um noch einmal Marx zu zitieren, verhindern ihre Kämpfe, dass sie zu «einer unterschiedslosen Masse ruinierter armer Teufel» degradiert werden, «denen keine Erlösung mehr hilft».[1] Zugleich konstatiert Marx jedoch, dass es auch darum gehen muss, eine «umfassendere Bewegung ins Werk zu setzen».[2] Inwieweit ist es den aktuellen Arbeiter*innenkämpfen möglich, jene umfassende Bewegung in Gang zu setzen? Um dies zu beantworten, werfen wir zunächst einen Blick zurück in die Vergangenheit: Welche Rolle spielten Arbeiter*innenstreiks in der neueren Geschichte des Iran?[3]

Arbeiter*innenkämpfe und Streiks im Iran: Ein Blick in die Geschichte

Arbeiter*innenkämpfe im Iran haben eine lange Geschichte. Ihre Wurzeln reichen zurück bis in die Qājāriyān[4] Dynastie (1779 – 1925)[5] etwa zu den Sitzstreiks im Jahr 1906 während der Herrschaft von Muzaffar ad-Din Shah. Sitzstreiks als Protestform gab es im Iran allerdings auch schon zuvor. Diese fanden in der Regel an heiligen Orten statt, in Moscheen etwa oder auch bei den Gräbern verstorbener Imame und deren Nachkommen. [6] In jener Zeit war es Soldaten untersagt, heilige Orte zu betreten, wenn sie bewaffnet waren. Die Geistlichen wiederum hatten sich mit den Bāzāri sowie mit der normalen Bevölkerung gegen die Regierung verbündet und ermöglichten ihnen, sich an den heiligen Orten aufzuhalten.[7] Dadurch konnten protestierende Bāzāri und andere Bevölkerungsgruppen der Gefahr entgehen, geschlagen und verhaftet zu werden. Ebenfalls begaben sich angeklagte Personen in Sitzstreiks, um ihrer Bestrafung zu entgehen. Sich in einen Sitzstreik zu begeben, bedeutete daher auch, Zuflucht zu finden. So nutzten die Menschen lange vor den Arbeiter*innenkämpfen des 20. Jahrhunderts den Sitzstreik als politisches Instrument, um Forderungen gegenüber den Herrschenden durchzusetzen.

Das transnationale Kollektiv Women*_Life_Freedom ist eine diasporisch feministische Gruppe von Feminist*innen, unabhängigen Bürger*innen, Künstler*innen und Aktivist*innen mit intersektionalen Ansätzen. Als Graswurzelbewegung setzen sie sich dafür ein, rassistische, ethnische, religiöse, sexuelle und geschlechtsspezifische Unterdrückungen sowie Klassendiskriminierung im Iran zu demaskieren und durch Aufklärungsarbeit einzudämmen.

Das Kollektiv hat das Anliegen, die über Jahrzehnte anhaltenden und zunehmenden Verbrechen, die Korruption, Vetternwirtschaft und Umweltzerstörung aufzudecken und zu bekämpfen. Es sind Verbrechen, die das iranische Diktaturregime auf Kosten von Leben und Leid der im Iran lebenden Menschen mit Gewalt etabliert hat. Wir sehen unsere Mission darin, den Widerstand im Iran zu unterstützen und die transnationale Einheit und Solidarität herzustellen und zu festigen – und zwar über die Grenzen gruppenbasierter politischer oder nationaler Identitäten hinaus.

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Während der Sitzstreiks Anfang des 20. Jahrhundert existierte im heutigen Iran (noch) keine Arbeiter*innenklasse, wie sie in der klassischen, europäisch geprägten marxistischen Theorie definiert wird. Zu der Zeit befand sich das Land in einer vorindustriellen Phase. Das Wirtschaftssystem war maßgeblich geprägt durch nomadische und kleinbäuerliche Verhältnisse, durch Kleinhändler*innen und Kleinmanufakturen, die aus zwei bis drei Personen bestanden sowie durch eine kleinen Gruppe an Großhändlern. Letztere verfügten wiederum nicht über eine starke politische Mitbestimmungsmacht, sondern besaßen zusammen mit britischen Unternehmen das alleinige Monopol über Produktion, Kauf und Verkauf von Tabak sowie über Tee und Zucker. Waren, die zu den größten Einnahmequellen zählten. Im Dezember 1905 stieg der Zuckerpreis infolge des Kriegs zwischen Russland und Japan in erheblichem Maß. Großbritannien, Verbündete von Japan, zielte darauf ab, durch die Preissteigerungen die Kriegskassen füllen zu können. Die Kleinhändler*innen und Bäuer*innen, die bereits zuvor gegen die Monopolisierung protestierten, verloren spätestens durch die Preissteigerungen ihre Konkurrenzfähigkeit, worauf sie gegen die Brit*innen und die iranischen Großhändler*innen Streiks veranstalten.[8] 

Der damalige Gouverneur von Teheran, ließ daraufhin zwei Zuckerhändler öffentlich erhängen, um die Bevölkerung zu beruhigen. Aus Protest gegen die Hinrichtungen und um selbst diesem Schicksal zu entgehen, begannen die Großhändler  sich mit den Kleinhändler*innen sowie den Geistlichen zu solidarisieren. Gemeinsam veranstalteten sie Sitzstreiks vor der britischen Botschaft und forderten die Einführung einer Edalat Khane, eines sogenannten «Hauses der Gerechtigkeit», um entgegen der einseitigen Rechtsbefugnis die Möglichkeit zu haben, ihre eigenen Rechte vorzutragen.

Der Sitzstreik der 20.000 Kleinhändler*innen legte die gesamte Stadt lahm. Nach gut drei Wochen erließ Muzaffar ad-Din Shah im Jahr 1906 schließlich ein konstitutionelles Dekret, mit der die absolute Monarchie in eine konstitutionelle Monarchie überführt wurde und beendete damit den Streik. Diese Zeit stellen die Anfänge der Konstitutionellen Revolution im Iran dar.

Im selben Jahr kam es zum ersten Mal zu Streiks, die die Basis für die Gründung von Gewerkschaftsorganisationen bildeten: Im November 1906 wurden die Fischer*innen des Anzali-Hafens von der Nordrussischen Fischerei angestellt. Die Besitzer zahlten den Fischer*innen eine geringe Bezahlung für ihre Fänge, woraufhin sie vor dem Telegrafenamt von Anzali protestierten und erklärten, dass sie nicht länger bereit seien, ihre Fänge in der Fischerei abzuliefern und sie selbst verkaufen wollten. Die von Russland kontrollierten Kräfte griffen daraufhin die Fischer*innen an, wobei eine Person bei einem Kampf getötet wurde. In der Folge boykottierten die Einwohner*innen von Anzali alle russischen Waren.[9]

Mit dem Aufbau sozialistischer und gewerkschaftlicher Parteien und Gruppen im Iran gewannen die Arbeiter*innenstreiks  immer mehr an Gewicht. Ein weiterer Streik iranischer Arbeiter*innen hatte bereits im August 1906 im Kaukasus stattgefunden und 16 Tage gedauert. Der Streik war allerdings aufgrund unzureichender strategischer Planungen gescheitert.

Die erste Pahlavi-Periode (1925–1941) und der Beginn der Herrschaft von Reza Shah gilt als Blütezeit der Industrialisierung im Iran und der Erweiterung der Produktion. In diese Zeit fällt der zweite wichtige Streik im Iran, der 1929 von den Arbeiter*innen der Gerbereien in Tabriz durchgeführt wurde und zur Bildung von Arbeitsfonds und einer Verhandlungskommission mit den Arbeitgebern führte. Der Streik endete nach drei Tagen mit einem Erfolg und mit der Zustimmung der Arbeitgeber zur Erhöhung der Löhne der Arbeiter*innen.

Im Jahr 1929 streikten 9.000 Angestellte und Arbeiter*innen der Ölraffinerie von Abadan. 5.000 der Streikenden wurden gekündigt, eine große Zahl von ihnen durch die Repressionskräfte verletzt und inhaftiert. Daraufhin begann in der Abadan-Raffinerie ein Streik, der die Freilassung der Inhaftierten und die Wiedereinstellung der entlassenen Arbeiter*innen forderte. Doch auch diesen Streik schlug Reza Shah gemeinsam mit den Brit*innen nieder, deren Gewinnbeteiligung bei über 90 Prozent lag.

Streiks vor, während und nach der Revolution von 1979

Die exzessive Durchdringung von Staat und Wirtschaft im Iran führt dazu, dass die Regierung praktisch selbst zu einem mächtigen Arbeitgeber geworden ist. Aus diesem Grund vollzieht sich der Prozess der Monopolisierung im kapitalistisch-theokratischen System im Iran anders als in kapitalistisch-demokratisch organisierten Gesellschaften. So gilt nach internationalen Gesetzen das Streikrecht als unveräußerliches Recht von Arbeitnehmer*innen. Artikel 8 Absatz 1 des «Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte» nennt das Streikrecht als ein absolutes Recht, zu dessen Umsetzung und Gewährleistung sich alle Staaten verpflichten, die den Vertrag ratifiziert haben. Auch das 87. Übereinkommen der ILO, die Internationale Arbeitsorganisation, welches zu ihren Kernarbeitsnormen gehört, anerkennt das Recht über die Vereinigungsfreiheit und den Schutz des Vereinigungsrechtes ebenfalls festgehalten. Der Iran erkennt das Streikrecht jedoch nicht an. Weder im Arbeitsrecht noch im Zivilrecht noch im Grundgesetz werden Streiks erwähnt.

Im Jahr 1978, als die revolutionären Bewegungen das ganze Land erfasst hatten, begann ein landesweiter Streik mit der Einrichtung von geheimen Streikkomitees in den Betrieben. Mit dem Streik der Ölarbeiter*innen im Juli 1978 erreichte die Arbeiter*innenbewegung ihren Höhepunkt. Aus den Streikkomitees heraus wurden in den meisten Fabriken und Unternehmen Arbeiter*innenräte gebildet, die in kürzester Zeit die Leitung der Unternehmen und die Kontrolle über Produktion und Vertrieb übernehmen konnten. Die Etehade Kargaran, die Gewerkschaft der Arbeiter*innenorganisation schuf Räte unter dem Namen «Arbeiterhaus», die zu Anlaufpunkten für Aktivist*innen in Teheran und anderen Städten wurden.

Nach dem Sieg der Revolution im Februar 1979 wurden Arbeiter*innengewerkschaften gegründet, unter anderem in Abadan mit über 18.000 Mitgliedern, in Shiraz mit 5.000, in Teheran mit etwa 8.000 und in weiteren Städten Irans. Die Rolle der Gewerkschaft und ihre Glaubwürdigkeit unter den Arbeiter*innen nahmen unter anderem zu, als die Gewerkschaft in Shiraz das Recht auf Arbeitslosengeld durchsetzen konnte[10]; ein Recht, das allerdings nur in der kurzen Zeit der Übergangsregierung  von Mehdi Bāzargān bis November 1979 währte. Die Gewerkschaft litt währenddessen unter massiver Repression und Überfällen; viele Gewerkschaftsräume wurden geplündert und Dokumente entwendet.

Im Jahr 1980 erließ der Revolutionsrat ein Dekret, das jeden Streik sowie seine Unterstützung oder Planung ausdrücklich verbietet. Die fehlende Anerkennung auf das Recht zu Streiken hat seitdem zur Folge, dass jeder Streikversuch von Arbeiter*innen und Gewerkschaften als Gesetzesverstoß sowie als «Bedrohung der staatlichen Sicherheit» dargestellt und von Polizei und Justiz unterdrückt wird.

Mit Kriegsbeginn im Jahr 1981 wurden alle Gewerkschaften sowie illegalen Arbeitsschutzparteien und -organisationen aufgelöst. Die Publikationen der Gewerkschaften wurden beschlagnahmt, aktivistische Arbeiter*innen entlassen und strafrechtlich verfolgt. Tausende Arbeiter*innen wurden festgenommen und über 500 von ihnen den Todesschwadronen übergeben. Auch nicht politisch aktive Arbeiter*innen verloren ihre Arbeitsplätze, viele gingen ins Exil. Nach und nach wurden die Betriebsräte aufgelöst und, nach der Verabschiedung eines Gesetzentwurfs, durch islamische Betriebsräte ersetzt. Durch den Angriff der herrschenden «Mafia» auf das «Arbeiterhaus» wurde diese unabhängige Organisation den Arbeiter*innen entrissen und den Söldnern des Regimes übergeben, die den Arbeiter*innen feindlich gegenüberstanden. Danach leiteten Leute wie Alireza Mahjoub, Hossein Kamali, Rabiei und Abolghasem Sarhadizadeh diese Organisation, die selbst im Ministerium und als Parlamentarier arbeiteten.

Zeitgleich wurde allerdings in den großen Städten des Landes die «Arbeiter-Solidaritätsgesellschaft» gegründet, deren Mitglieder hauptsächlich Handwerker*innen und Arbeiter*innen aus kleineren Produktionsbetrieben waren. Eine der praktischsten und wirksamsten Aktionen der beiden Arbeiter*innenorganisationen war ihr Kampf gegen die reaktionären und repressiven Pläne für ein neues Arbeitsgesetz. Das Wort Streik schaffte es dennoch nicht ins Arbeitsgesetz; auch nicht nach der Verabschiedung des aktuellen iranischen Arbeitsgesetzes im Jahr 1990; das zweite in Kraft getretene kodifizierte Gesetz im Bereich der Arbeitsrechte in der Geschichte des Iran.

Die Ettehade Azade karegarane Iran (Unabhängige Union iranischer Arbeiter*innen) ist eine iranische Arbeitnehmer*innenorganisation, deren Mitglieder befristete und unbefristete Vertragsarbeiter*innen aus allen Produktions-, Dienstleistungs- und Industriesektoren sowie entlassene und arbeitslose Arbeiter*innen sind. Im Dezember 2006 gab der Gründungsvorstand des Nationalen Syndikats der entlassenen und arbeitslosen Arbeitnehmer*innen in einer Erklärung die Gründung dieser Gewerkschaft bekannt.

Die Gewerkschaft sieht sich als Sprachrohr für alle iranischen Arbeiter*innen, um ihre Forderungen durchzusetzen und ihr Ziel ist es, ein Leben nach modernen Standards und eine Verbesserung für die Arbeiterklasse zu erreichen. In der Erklärung der Gewerkschaft heißt es, dass die Organisation versucht, die laufenden Kämpfe der Arbeiter*innen zur Durchsetzung ihrer Forderungen auf eine landesweite Ebene auszuweiten, indem sie die Arbeiter*innen in verschiedenen Produktionsbereichen vernetzt. Die Unabhängige Union iranischer Arbeiter*innen initiierte 2012 eine Petition und sammelte Unterschriften von 20.000 Arbeiter*innen aus verschiedenen Fabriken des Landes, um beim Arbeitsminister gegen ihre niedrigen Löhne und deren Unvereinbarkeit mit den gewaltigen Inflationsproblemen im Land zu protestieren. In der Petition, die durch die große Anzahl an Unterschriften von besonderer Bedeutung ist, erwähnten die Arbeitnehmer*innen neben den unterdurchschnittlichen Löhnen auch andere gängige Missstände auf dem Arbeitsmarkt. Dazu gehörten befristete Verträge, Nichtzahlung von Löhnen, Entlassungen und das Vorherrschen von unsicheren Arbeitsplätzen.

Von der Grünen Bewegung bis zur feministischen Revolution: Die 2000er-Jahre

Die 2000er-Jahre waren eine gute Zeit für soziale Bewegungen. Es waren Jahre, in denen das Land mit massiven gesamtgesellschaftlichen Problemen zu kämpfen hatte. Die Unzufriedenheit der Menschen wuchs von Tag zu Tag, ein Zusammenbruch des gesamten Systems schien nicht ganz undenkbar. Infolgedessen setzte die damalige Regierung unter Mohammad Khatami diverse, als Reformbewegung codierte, «systemaufhübschende» Maßnahmen um, die der unzufriedenen Bevölkerung ein Entgegenkommen suggerieren sollten. Der eigentliche Zweck der Maßnahmen bestand jedoch darin, die strukturellen Probleme des Landes zu kaschieren und den Zusammenbruch des Systems zu verhindern. Nichtsdestotrotz konnten in dieser Zeit unabhängige Gewerkschaften wieder ein wenig aufleben. 2004 nahm die «Vereinigung der Busfahrer*innen von Teheran und seiner Vororte» als erste unabhängige Arbeiter*innenorganisation nach langer Unterbrechung ihre Arbeit wieder auf. Auch studentische Bewegungen hatten nach Jahrzehnten der Unterdrückung wieder mehr Luft zum Atmen, wodurch sie ihre Aktivitäten ausweiten konnten und einen massiven Aufstieg erlebten. All das führte 2009 zu landesweiten Massendemonstrationen seit der Gründung der Islamischen Republik, die auch bekannt ist als «Grüne Bewegung». Eine Bewegung, die allerdings vornehmlich von einer akademisierten urbanen Mittelschicht getragen wurde.

Zu den wichtigsten Aktivitäten, die in diese Zeit fallen, gehört die Veröffentlichung der Stellungnahme «Charta der Mindestanforderungen iranischer Arbeiter*innen» am 2. Oktober 2010, die die Unabhängige Union iranischer Arbeiter*innen gemeinsam mit der «Vereinigung der Busfahrer*innen von Teheran und seiner Vororte», der Gewerkschaft der Arbeiter*innen in der Landwirtschaft und der Zuckerindustrie von Haft Tappeh, der unabhängigen Union iranischer Arbeiter*innen und der Vereinigung der Arbeiter*innen der Elektro- und Metallindustrie in Kermanschah veröffentlichte.

Einen weiteren Höhepunkt erfuhren die Arbeiter*innenkämpfe im Winter 2018. Nach vielen Streikrunden – unter anderem aufgrund von monatelang nicht gezahlten Löhnen – brachten im Südwesten des Iran Arbeiter*innen der Zuckerrohrindustrie Haft Tappeh in Schusch und Stahlarbeiter*innen in Ahvaz zeitgleich ihre Proteste auf die Straßen. Zusammen mit ihren Familien marschierten sie täglich und über mehrere Tage hinweg durch die Städte: Sie hielten Kundgebungen vor den zentralen Einrichtungen der politischen Institutionen und brachen das staatliche Freitagsgebet mit ihren Parolen ab. Zu ihren wichtigsten Forderungen gehörte die Selbstverwaltung der Fabriken durch die Arbeiter*innen. Verschiedene Gruppen, von den Busfahrer*innen aus Teheran und den Metallarbeiter*innen aus dem ganzen Land über Lehrer*innen aus Schusch bis hin zu Student*innen aus Ahvaz und Teheran, erklärten sich öffentlich solidarisch mit den Protestierenden. Der Staat antwortete mit Festnahmen und Gewalt. Den Verhafteten presste er mittels brutalster Folter Zwangsgeständnisse ab, dass die Proteste vom Ausland gelenkt seien – das typische Narrativ und Vorgehen der Islamischen Republik, um sämtliche Proteste zu diskreditieren.

Streiks nach Jinas Tod

Jina Mahsa Amini war 22 Jahre, als sie am 16. September 2022 durch die Hände der iranischen Sittenpolizei getötet wurde.

Jinas Tod muss die Zeit zum Stillstand zwingen. Das Räderwerk der Gesellschaft darf sich nicht weiterdrehen, bis endlich ein anderes, neues Leben im Iran möglich ist.

Dies ging durch die Köpfe und Herzen jener Menschen, die sich in Teheran um das Krankenhaus versammelten, in dem Jina gestorben war. Jinas Körper wurde in die iranische Stadt Saqqez gebracht, zurück an ihren Heimatort in Kurdistan. Zahlreiche Stadtbewohner*innen waren bei ihrer Beerdigung anwesend und begleiteten Jinas Beisetzung mit ihren Rufen nach «Jin Jîan Azadî», Frau, Leben, Freiheit. Nur einen Tag später griffen im gesamten Kurdistan Menschen zu jener Waffe, mit der sie imstande sind, die Zeit zum Stillstand zu zwingen, so lange, bis ein anderes Leben möglich wird: Sie griffen zum Generalstreik.

Generalstreik als revolutionäres Werkzeug

Ein Generalstreik bietet eine Möglichkeit, die Kosten des Kampfes unter einer möglichst großen Gruppe aufzuteilen. So protestieren die Menschen seit Jinas Tod an verschiedenen Orten im Iran im Zeichen eines Generalstreiks – unter den widrigsten Umständen, ohne legale Organisation, der Möglichkeit harter Repressionen ausgesetzt und unter permanenter Lebensgefahr. Den ersten Aufruf zum Streik veröffentlichte das Kooperationszentrum der kurdischen Parteien im Iran unmittelbar nach Jinas Tod am 25. Shahrivar 1401, also am 16. September 2022.

Aufruf des Kooperationszentrums der kurdischen Parteien im Iran

«Jina (Mahsa) Amini, eine junge Kurdin, die vor einigen Tagen in Teheran ins Koma fiel, nachdem sie von den Repressionstruppen des Regimes, der Sittenpolizei, brutal zusammengeschlagen worden war, erlag am Freitag, den 16. September (25. Schahrivar) ihren Verletzungen. Letzte Woche starb Shalir Rasouli bei einem Angriff der regimetreuen Milizen in Marivan.

Aus Protest gegen die Frauenmorde der Regierung in Kurdistan, die ständig zunehmen, rufen wir die kämpfende Bevölkerung Kurdistans auf, am Montag, den 19. September (28. Schahrivar), gegen die menschenfeindliche Politik des islamischen Regimes, insbesondere gegen die Femizide und die aktuellen Morde, zu protestieren. Zeigen Sie Solidarität, indem Sie Geschäfte und Märkte schließen, nicht zur Arbeit gehen und Büros und Schulen nicht betreten.

Wir fordern auch alle politischen Parteien Irans und Kurdistans, zivilgesellschaftliche Organisationen und Menschenrechtsaktivisten auf, diesen Aufruf zum Generalstreik zu unterstützen, damit die Islamische Republik durch Einigkeit und Solidarität daran gehindert werden kann, ihre abscheulichen Verbrechen und ihre Politik und Feindschaft, insbesondere gegen Frauen, fortzusetzen und sie zu stürzen.

Lang lebe die Solidarität und Einheit der nach Recht und Gerechtigkeit strebenden Menschen in Kurdistan!

Tod dem frauenfeindlichen Regime der Islamischen Republik!»

Kurz nach der Veröffentlichung des Aufrufs erreichten die Proteste, die zuvor schon in Saqqez begonnen hatten, das ganze Land. Innerhalb weniger Tage trendete auf Twitter der Hashtag اعصابات_سراسری (Generalstreik). Rasant verbreiteten sich die Streiks auf Hunderte weiterer Städte. Ladeninhaber*innen, Lkw-Fahrer*innen, Lehrer*innen und weitere Berufsgruppen im ganzen Land schlossen sich den Streiks an, kurz darauf folgten die Arbeitenden der Raffinerie von Abadan und Buschehr. Infolge dieser Streiks wurden mittlerweile über 250 Arbeitende festgenommen.

Streiks im November 2022

Am 13. November 2022, anlässlich des dritten Jahrestags des «Abane chunin», des «Blutigen Novembers»[11], wurde ein Aufruf auf Instagram und Twitter veröffentlicht und umgehend von unzähligen Nutzer*innen geteilt. Die offizielle Instagram-Seite der «Jugend der Teheraner*innen Stadtteile» sowie zahlreiche Aktivist*innen und öffentliche Nachrichtenkanäle schlossen sich dem Aufruf an und verbreiteten ihn an «Alle Lesenden und Mitmenschen». Der Aufruf richtete sich an alle Berufsgruppen und forderte sie auf, sich vom 24. bis 26. Aban – 16. bis 18. November – einem landesweiten Generalstreik anzuschließen. Groß- und Kleinhändler*innen, Student*innen, Lehrer*innen, Arbeiter*innen in der Ölindustrie und bei Raffinerien und Metall- und Stahlarbeiter*innen, Lkw-Fahrer*innen und Viele mehr brachten ihre Solidarität zum Ausdruck, indem sie vom 16. November an nicht bei der Arbeit erschienen, streikten und sich den Protestierenden auf den Straßen anschlossen. Milizen der Revolutionsgarde, die die Proteste niederzuschlagen versuchten, wurden von den Menschen auf den Straßen festgehalten, entwaffnet und wieder freigelassen. Der landesweite Generalstreik entfachte ein neues Gemeinschaftsgefühl unter den Menschen.

Die seit dem 16. September anhaltenden Proteste erreichten dadurch eine neue Phase der revolutionären Bewegung im Iran.

Dieses neu entstandene Gemeinschaftsgefühl führte zu dem Entschluss, den Generalstreik und die Proteste zu verlängern, und zwar «bis zum Sturz der Islamischen Republik». Innerhalb dieser drei historischen Tage im November 2022 konnten die Protestierenden das Räderwerk der Revolution in einer historisch nahezu einmaligen Geschwindigkeit antreiben.

Seit dem 16. November scheint die Flamme dieses Aufstands unauslöschbar. Immer noch befinden sich die Einzelhändler*innen in vielen Großstädten im Streik. Mit bloßen Händen kämpfen die Menschen auf den Straßen gegen das Islamische Regime auf den Straßen und rufen zu Solidarität mit den Streikenden auf. Derweil demonstriert das iranische Regime seine schonungslose Brutalität. In den kurdischen Städten Mahabad, Javanrud, Marivan, Paveh, Piranshahr, Sanandaj, Saqez und anderen wurden Hunderte von Menschen durch die Milizen der Revolutionsgarde und ihren abgeschossenen Kriegsmunitionen ermordet, unter den Ermordeten waren Dutzende Kinder. Und die Zahl der Toten steigt unaufhaltsam, während wir diesen Artikel schreiben.

Streiks in Kurdistan und ihre spezifische Rolle in der iranischen Gesellschaft

Die Geschichte der Streiks in Kurdistan ist ebenso lang wie die des kurdischen Widerstands. Die Betrachtung dieser Geschichte würde einen separaten Artikel erfordern. Zugleich lassen sich die gegenwärtigen Streiks im Iran nicht ohne die Bedeutung der Streiks in Kurdistan zu verstehen. Nicht zufällig begann die feministische Revolution auch im iranischen Kurdistan. Insofern geben wir einen kurzen Abriss über ihre Bedeutung, wobei wir uns auf den östlichen Teil Kurdistans beschränken, also über den Teil, der im heutigen Iran liegt.

Ende des 19. Jahrhunderts ging der Soziologe Émil Durkheim der Frage nach, wie in unterschiedlichen Gesellschaftsformen gesellschaftlicher Zusammenhalt, also Sozialität, hergestellt wird. Seiner Theorie zufolge, funktioniert Sozialität entweder über mechanische oder über organische Solidarität, wobei er erstere als eine Form verstand, die eher in geschlossenen Gemeinschaften vorzufinden sind, während letztere kennzeichnend für Gesellschaften mit fortschreitender Arbeitsteilung und daraus sich entwickelnden eher funktionalen Beziehungen ist. [12] Übertragen wir Durkheims Feststellungen auf Kurdistan, so ließe sich feststellen, dass seit Beginn des 20. Jahrhunderts die politische Organisierung hier nicht mehr auf einer mechanischen Solidarität basiert, sondern von einer organischen Solidarität getragen wird. Anders ausgedrückt: Die Wurzeln der jahrzehntelangen Geschichte der organisierten Streiks in Kurdistan liegen in der politischen Zusammenarbeit zwischen Parteien, einer dynamischen Zivilgesellschaft, Menschenrechtsaktivist*innen, Frauen*bewegungen, Arbeiter*innenbewegungen, Gewerkschaften und Umweltschutzorganisationen, die auf einer organischen Solidarität basiert. Diese gewachsene organische Solidarität ist der Grund dafür, warum Kurdistan heute nicht nur auf zahlreiche kollektive Aktivitäten und Organisationen zurückblicken kann, sondern auch, warum die Bewegung der Arbeiter*innen in Kurdistan so stark ist und zweifellos zu den erfolgreichsten im sogenannten Nahen und Mittleren Osten gehört.

Die erste Protestbewegung der Menschen in Kurdistan in Form eines Streiks fand im Jahr 1978 in Saqqez statt. Dieser Streik war die Reaktion der Kurd*innen auf einen «Verfassungsentwurf» der damaligen Regierung. Wie auch andere Menschen in Kurdistan waren die Einwohner*innen von Saqqez gegen den Verfassungsentwurf und traten in einen dreitägigen Streik.

Zu den historisch bedeutsamsten Streiks gehört der Generalstreik in der Stadt Marivan[13] vom 22. Juli bis zum 5. August 1979, der nicht nur im Nahen Osten, sondern auch weltweit einmalig ist: Um einen Genozid an der Bevölkerung durch die Milizen der neu gegründeten Islamischen Republik zu verhindern, fand im Rahmen des Streik die Evakuierung der Einwohner*innen in ein außerhalb der Stadt errichtetes Camp statt. Diese Aktion wird als «Historische Wanderung der Einwohner*innen von Marivan» bezeichnet und muss als wirklich bemerkenswerte Streikkampagne verstanden werden, insbesondere dann, wenn wir Streik als eine strukturierte Verweigerung der Teilnahme am Alltagsleben oder an der Arbeit definieren.

Durch die Nachricht über die Ermordung von Dr. Abdur Rahman Ghasemlou, dem Generalsekretär der Demokratischen Partei Kurdistans im Iran, im Juli1989 in Wien wurde ein neues Kapitel in der kurdischen Geschichte der Generalstreiks aufgeschlagen. Durch die grenzüberschreitenden und internationalen Anschläge gelang es der Regierung der Islamischen Republik, das Vertrauen der Vorsitzenden der Demokratischen Partei Kurdistans im Iran für sogenannte Abkommen zu gewinnen. Unbemerkt blieb für die Partei, dass dies eine Falle der Regierung war, um Ghasemlou und weitere Parteimitglieder zu ermorden. Seitdem streiken die Menschen in Kurdistan fast jedes Jahr am 22. Juli, der als Jahrestag seiner Ermordung festgelegt wurde, ohne dass es einer organisierten Vorbereitung bedarf. Die Tradition dieses jährlichen Streiks hat zweifelsohne die Widerstandsfähigkeit der Kurd*innen gestärkt.

Am 9. Juli 2005 beging die Islamische Republik ein erneutes Verbrechen in Kurdistan. Kamal Asfar, auch bekannt als «Shawane Seyyed Qader», wurde verhaftet und hingerichtet, nur weil er die Zustimmung zum irakischen Bundesstaat und zur Präsidentschaft von Jalal Talabani unterstützte. Er wurde lebendig an ein Auto gefesselt und durch die Straßen geschleift, bis er ohnmächtig wurde, und später im Geheimdienstgefängnis unter schwersten Folterungen ermordet. Die Veröffentlichung von Bildern des gefolterten Körpers von Shawane führte dazu, dass die Bevölkerung von Mahabad auf die Straße ging. Diese Proteste fanden nicht nur in Mahabad statt, sondern auch in Saqqez, Baneh, Sanandaj und sogar in Ilam. Mindestens vier Kurd*innen wurden ermordet. Nach der Zunahme der Gewalt der Regierung schlugen kurdische Bürgeraktivist*innen und Journalist*innen einen Generalstreik vor, der von den kurdischen Parteien begrüßt und unterstützt wurde. Erneut traten die Menschen in den Streik – von Ilam bis Mahabad, Sardasht und Sheno-Naghde.

Nach der Entführung und Ermordung des Studenten Ibrahim Lotfollahi und den Protesten der Demokratischen Union der kurdischen Student*innen fand 2007 ein weiterer Generalstreik in den Städten Kurdistans statt.

Einer der größten Streiks in der Geschichte Kurdistans geht jedoch auf die «Grüne Bewegung» zurück. Nachdem es der Regierung gelungen war, die Proteste der Bevölkerung zu unterdrücken, richtete das Regime am 9. Mai 2010, Shirin Alamholi, Farzad Kamangar, Farhad Vakili, Ali Heydarian und Mehdi Islamian im Evin-Gefängnis hin. Diese Morde lösten breiten Protest in der kurdischen Zivilgesellschaft aus, der sich zu einem weiteren bedeutsamen Streik in der Geschichte des Landes entwickelte. Auch Lehrer*innen- und Arbeiter*innengewerkschaften schlossen sich dem Streik an.

Zur Bedeutung von Generalstreiks in revolutionären Zeiten

Dem brutalen Vorgehen des Regimes zum Trotz – was macht Generalstreiks so bedeutsam und welche Rolle spielen sie innerhalb revolutionärer Bewegungen? Aus der Geschichte der Arbeiter*innenkämpfe haben wir gelernt, dass Streiks niemals nur ein ökonomisches Ziel verfolgen. Streiks ermöglichen unterdrückten und marginalisierten Gruppen solidarische Zusammenschlüsse. Sie ermöglichen, sich kollektiv zu ermächtigen, um sich gemeinsam gegen die herrschende Klasse zu erheben – die Klasse, die mittels Gewalt die gesamte wirtschaftliche, militärische und politische Macht an sich reißen konnte. Streiks ersetzen den Straßenkampf nicht, Streiks ergänzen den Straßenkampf. So verstand auch Rosa Luxemburg Massenstreiks von Arbeiter*innen als «die erste natürliche, impulsive Form jeder großen revolutionären Aktion».

Wie können wir nun die Bedeutung der gegenwärtigen Arbeiter*innenkämpfe und Streiks für die feministische Revolution im Iran deuten? Sicher streiken Arbeiter*innen im Iran weiterhin mit dem Ziel, dass die Löhne nicht mehr unter die Reproduktionskosten der Arbeitskraft und die der von ihnen abhängigen Menschen fallen. Zugleich hat der Generalstreik einen spezifischen Charakter, der ihn von den sonstigen Streiks unterscheidet: Wir schließen uns hier einer Feststellung Walter Benjamins an, der 1921 von einem Generalstreik schrieb, der nicht «in der Bereitschaft» geschieht, «nach äußerlichen Konzessionen und irgendwelcher Modifikation der Arbeitsbedingungen wieder die Arbeit aufzunehmen, sondern im Entschluss, nur eine gänzlich veränderte Arbeit, eine nicht staatlich erzwungene, wieder aufzunehmen».[14]

Es ist offen, ob es den Arbeiter*innen im Iran in den Wochen und Monaten gelingen wird, eine Situation herzustellen, in der sich alle Teile der Gesellschaft dem Generalstreik anschließen. Eine weitere offene Frage ist, ob ein solcher Generalstreik dann das Ziel der Revolution erreichen kann. Wir stellen uns diese Fragen im Angesicht der unendlichen Verbrechen, mit denen die Islamische Republik auf die protestierenden Menschen reagiert.

Durch den Generalstreik wird im Iran versucht, die Zeit zum Stillstand zu bringen. Diesen Versuch verdanken wir den Menschen, die in Kurdistan, Belutschistan, Teheran und überall im Iran für ihre Hoffnungen auf die Straßen gehen. Für die Hoffnung auf eine Zeit nach der Islamischen Republik. Dafür werden sie getötet, verhaftet, vergewaltigt und gefoltert. Damit der Stillstand erkämpft wird und zum Ziel führt, braucht es internationale Solidarität. Nur durch die Solidarität können die Flammen der Revolution atmen und die Herrschenden lernen, vor ihren eigenen Verbrechen zu erschrecken. Überall auf der Welt und auch in Deutschland kämpfen die iranische Diaspora und ihre Verbündeten dafür, dass die Stimmen der Menschen auf den Straßen Irans gehört werden. In Deutschland haben sich bisher viele Gewerkschaften mit den Streikenden im Iran solidarisiert. Von Iran bis Deutschland – der Kampf gegen Klassenunterdrückung kann nur ein internationaler sein.
 

Weitere Quellen:


[1] Marx, Karl: Lohn, Preis und Profit [1865], in: Marx, Karl/Engels, Friedrich: Werke (MEW), Bd. 16, Berlin 1956 ff., S. 151.

[2] Ebd., S. 152.

[3] Die folgenden Ausführungen basieren teilweise auf schriftlichen Quellen, teilweise auf mündlichen Weitergaben gelebter Erfahrungen, im Sinne einer Oral History. Vgl. Gluck, Sherna Berger; Patai Daphne (Hg.) (1991): Women’s Words. The Feminist Practice of Oral History. London: Routledge.

[4] Weitere Schreibweisen sind Qadscharen oder Kadscharen.

[5] Vgl. Karegar, Sadegh (2011): Die Geschichte der Arbeiter*innenbewegung im Iran; Vom Streikbruch bis zur Organisation. In: www.radiofarda.com/a/f6_iran_1mayday_unions/16798549.html (aufgerufen am 29.11.2022).

[6] Vgl. Matin, Peiman (2019): Zufluchtsstätte und Sitzstreik. In: www.cgie.org.ir/fa/article/239353/ (aufgerufen am 29.11.2022).

[7] Diese Bündnisse zogen sich bis ins 20. Jahrhundert, Bündnisse, die unter anderem die Machtergreifung von Ruholla Musawi Khomeini während der 79-er Revolution begünstigen konnten.

[8] Vgl. Zohreh Salali (1997): Zur Emanzipation der Frauen im Iran. Realität, Utopie, weibliche Kultur. Marburg: Tectum Verlag

[9] Vgl. Donya-e-Eqtesad (2010): Fischer*innen Bandar Ansalis gegen Lianozov. In: donya-e-eqtesad.com/fa/tiny/news-600854 (aufgerufen am 29.11.2022).

[10] Weitere Forderungen waren etwa das Recht auf Kranken- und Arbeitsversicherung.

[11] Im Monat Aban 1398, der ungefähr mit dem Monat November 2019 des gregorianischen Kalenders zusammenfällt, hatte die iranische Regierung kurzerhand die Sprittpreise erhöht und das Benzin rationiert. Dies führte zu landesweiten Demonstrationen der iranischen Bevölkerung. Iranische Sicherheitskräfte schlugen die Proteste jedoch auf brutale Weise nieder und töteten innerhalb kurzer Zeit mehr als 1500 Zivilist*innen. Dieses Massaker trägt seitdem die Bezeichnung «Abane chunin».   

[12] Durkheim, Émile: Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften [1893], Frankfurt a. M. 1992. Dabei geht es Durkheim nicht oder weniger um eine moralische Bewertung der Solidaritätsformen, sondern um empirische Beobachtungen. Vgl. Endreß, Martin (2018): 3. Émile Durkheim: Arbeitsteilung und Solidaritätsformen, in Soziologische Theorien kompakt, Berlin, Boston: De Gruyter, S. 30-50.

[13] Weitere Schreibweise: Mariwan.

[14] Benjamin, Walter: Zur Kritik der Gewalt [1921], in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. II.1, Frankfurt a. M., 1991, S. 194.