Die Wirtschaft Russlands arbeitet bereits seit 2014 unter dem Einfluss ständig ausgeweiteter Sanktionen. Trotz aller Probleme war die russländische Volkswirtschaft bis zum Beginn des Krieges gegen die Ukraine in die Weltwirtschaft durch ihre Rolle als Lieferant wichtiger Roh- und Brennstoffe vollständig integriert. Die Deindustrialisierung der 1990er Jahre machte Russland zudem zu einem dankbaren, wenn auch aus politischen Gründen komplizierten Absatzmarkt. Die mit dieser Konstellation verbundene strukturelle wirtschaftliche Schwäche ließ es unwahrscheinlich scheinen, dass von Russland eine Gefahr für die Weltwirtschaftsordnung ausgehen könnte. Der Bruch Russlands mit den gewohnten Regeln, die den wirtschaftlich stärksten Mächten auch weitgehenden politischen Handlungsspielraum zubilligten, hat nun den schon seit längerem schwelenden Konflikt zwischen den westlichen Wirtschaftsmächten und China über den Charakter der zukünftigen Weltwirtschaftsordnung zu einer politischen Eskalation aus einer weitgehend unerwarteten Richtung gebracht. Auch aus der Sicht der russländischen neoliberalen Opposition geht es um einen «Konflikt Russlands mit den USA und ihren Verbündeten um die Revision der Regeln der Weltordnung» (Stanovaya 2023). Will man aus allen Verlautbarungen und Maßnahmen des letzten Jahres eine Resultante ziehen, so sind die wirtschaftspolitischen Ziele mit den Begriffen technologische Autonomie, Importablösung, Stabilität der Währung, Stabilität der sozialen Verhältnisse, Schaffung neuer Richtungen der Außenwirtschaft und Schaffung eines alternativen Weltfinanzsystems zu beschreiben.
Wirtschaftsentwicklung 2022
Die westlichen Sanktionen setzen an den bekannten Schwächen der russländischen Wirtschaft an: Rohstoffabhängigkeit und industrielle Unterentwicklung. Dabei geht man offensichtlich davon aus, dass das Ziel der Politik des Kreises um Putin die Aufrechterhaltung des bisherigen rohstoffbasierten Akkumulationsmodells sei. Auch angesichts der wirtschaftspolitischen Interventionen nicht nur der letzten Monate, sondern selbst der letzten Jahre ist diese Grundannahme zu bezweifeln.
Lutz Brangsch ist Referent Transformation des Staates bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Daran ändert auch der Umstand, dass das Konzept der russländischen Seite ebenfalls nicht aufgegangen ist, nichts. Um die Jahreswende 2021/2022 konzipierte man den heutigen Krieg eher als Polizeiaktion. Inzwischen muss die russländische Führung von einem langanhaltenden Krieg mit verschiedenen Eskalationsstufen ausgehen. Sie wird die Kriegsziele je nach Situation an ihre eigenen Ressourcen und die ihrer Gegner anpassen.
Allerdings ist das Land bisher weit von einem ökonomischen Zusammenbruch entfernt. Richtig ist, dass der Ukraine-Krieg und die Sanktionen wesentliche Parameter der Statistik der russländischen Wirtschaft negativ beeinflusst haben. Das Haushaltsjahr 2022 schloss mit einem Defizit von 2,3 Prozent des BIP, d.h. 3,3 Billionen Rubel oder fast 45 Mrd. Euro. (Kommersant 2023b) Das BIP ist im Jahr 2022 um etwa 2 Prozent zurückgegangen (Putin 2023) und wird nach Schätzung von Expert*innen wahrscheinlich auch 2023 in diesem Umfang sinken. (Gruppa «Prjamaja reč’» 2023)[1] Aber selbst der Rückgang in der verarbeitenden Industrie um etwa ein Prozent (Balasjan 2023) bleibt angesichts der coronabedingten Turbulenzen der vorhergehenden Jahre im Rahmen des Beherrschbaren. Dass der Rückgang der Wirtschaftsleistung nicht noch stärker ausfiel, hängt auch mit der durch den Krieg angetriebenen Rüstungsproduktion und, für viele überraschend, dem Wachstum der Leistungen des Bauwesens zusammen. Man geht davon aus, dass dahinter Investitionen in die Infrastruktur stehen, aber auch ein Boom im Wohnungsbau.
Allerdings steht hinter diesen scheinbar günstigen Zahlen auch das Problem Russlands, dessen sich die Führung durchaus bewusst ist: Das moderate Ergebnis beruht immer noch in erster Linie auf den Einnahmen aus dem Bereich der Roh- und Brennstoffförderung und der unmittelbar damit verbundenen Sektoren; auch in den nächsten Haushaltsjahren soll sich daran nichts ändern. Bis in den Herbst hinein konnten die günstigen Preise für Öl und Gas, aber auch z.B. für Dünger, den Staatshaushalt stabilisieren. Trotz sinkendem Umfang der Exporte konnten dem Haushalt wegen der gestiegenen Preise 16,7 Mrd. US-Dollar zugeführt werden. (Sapožnikov 2023) Die um 20 Prozent gesunkene Auslandsverschuldung hängt zu einem großen Teil auch damit zusammen, dass russländische Kunden unter direkter oder indirekter Wirkung der Sanktionen auf den internationalen Märkten keine Kredite mehr erhalten. Selbst der angesprochene wachstumsstützende Bauboom wird von den Expert*innen eher skeptisch betrachtet. Es fehle der Bedarf an neuen Wohnungen und die staatliche Förderung könnte darauf gerichtet sein, eine Marktbereinigung durch den Bankrott einiger Unternehmen zu provozieren. (Nezygar’ 2023a)
Fonds für nationale Wohlfahrt
Um die in den nächsten Monaten und Jahren stärker wirkenden Sanktionen abzufedern soll der «Fonds für nationale Wohlfahrt» verstärkt herangezogen werden. (RBK 2023) Er hat einen Umfang von etwa 148 Mrd. US-Dollar (Interfaks 2023) und wurde ursprünglich für die Absicherung der gesetzlichen Renten geschaffen. Er sollte die hohen Gewinne aus dem Ölgeschäft zum Teil für die soziale Entwicklung nutzbar machen, wird jedoch tatsächlich in erster Linie als Reserve zur Stabilisierung des Staatshaushaltes betrachtet. Eingedenk der Erfahrungen mit den im Ausland blockierten Aktiva Russlands (546 Mrd. US-Dollar) wurden in den letzten Monaten Bestände an westlichen Valuta in Yuan bzw. Gold umgetauscht. (Grinkevič 2022) Im Jahr 2023 werden die Sanktionen schrittweise an Wirkung gewinnen, ohne dass dem eine entsprechende Erweiterung der Wirtschafts- und Handelsbeziehungen mit «freundlichen» Staaten entsprechen kann. Aber es gibt trotzdem Verschiebungen der Außenhandelsgewichte, die in Russland als aussichtsreich betrachtet werden. Besonders dynamisch entwickelte sich der Handel im Jahr 2022 mit Indien (er stieg um das 2,5fache) und mit China (+30 Prozent). (Uvarčev 2022) Insbesondere die Intensivierung der wirtschaftlichen Beziehungen mit China stößt bereits an logistische Grenzen. Die Lieferung von Gas und Öl nach China erfordert den Bau neuer Pipelines, was Jahre in Anspruch nimmt. Russland wird daher, und das wird kaum bestritten, noch zehn Jahre brauchen, um die Menge an Gas, die früher in die EU geliefert wurde, nun in Asien zur Verfügung zu stellen. (Smirnov 2022) Zudem liefert Russland an China und Indien Öl und Gas mit bedeutenden Abschlägen. Auch in der Metallurgie werden die in China zu erzielenden Preise mittelfristig zu Verlusten führen. (Budanov/Ustinov 2023, 136f.)
Die Sanktionen des letzten Jahres haben deutlich gemacht, wie stark Russland von Importen bzw. von Lizenzen oder Leasingleistungen aus dem Westen abhängig ist. Das Spektrum der damit verbundenen Probleme erfasst den gesamten technologischen Zyklus und reicht von Konsumgütern bis hin zu Ausrüstungen und Ersatzteilen für die Förderung diverser Bodenschätze (vgl. Kommersant 2022). Besondere Bedeutung hat dabei der Mangel an eigener Hard- und Software, der kurzfristig selbst durch Kooperation mit China nicht zu beheben ist. Die Bemühungen um die Ablösung von Konsumgüterimporten zwischen 2010 und 2021 hatten nur bescheidene Ergebnisse. Bei landwirtschaftlichen Erzeugnissen waren die Resultate relativ günstig, bei Industriewaren erhöhte sich der Importanteil sogar, vor allem zu Gunsten Chinas. (Romanova 2022) Nachdem lange Zeit die Importablösung eher Losung als materiell fundierte Strategie war, hat die Regierung im Oktober einen «Pool» von Mitteln in Höhe von 5,2 Billionen Rubel für die Realisierung derartiger Projekte gebildet. In der chemischen Industrie sollen 54 Projekte realisiert werden, in der Schwarzmetallurgie 27, in der Holzverarbeitung 18, im Schienenfahrzeugbau 16, in der Pharmazie 12, in der Kraftfahrzeugbranche 8. (Keffer 2022b)
Die ersten Reaktionen auf das von Russland sicher nicht erwartete Sanktionsregime auf derartig breiter Front waren trotzdem entschieden. Das betraf etwa Zwangslizensierungen bzw. (vor allem in der Luftfahrt) die zwangsweise Fortführung der Nutzung geleaster Ausrüstungen. Dieser Schritt löste allerdings das Problem der Beschaffung von Ersatzteilen nicht. Komplementär wurde der «sekundäre Import» von benötigten Gütern unter Umgehung der Sanktionen befördert. Der Umgang mit Unternehmen, die Russland verlassen wollten, gestaltete sich nach einer Phase verbaler Radikalität (etwa mit Enteignungsforderungen) dann relativ geordnet. In Russland geht man davon aus, dass ausgehend vom Februar 2022 76 Prozent der ausländischen Unternehmen weiter in Russland tätig sind. Äußerlich zeigt sich der Rückzug ausländischer Unternehmen darin, dass sich die Zahl der auf den russländischen Märkten präsenten Marken halbiert haben soll. (Kommersant 2023a) Im Bereich der Produktion und im Handel wurden oft neue Betreiber gefunden und die Werke zu zum Teil symbolischen Preisen übernommen. Spektakulär etwa war die Übernahme des Renault-Werkes in Moskau, in dem nun die Produktion eines eigenen PKW unter Regie der Moskauer Stadtregierung aufgenommen werden soll. (n-tv 2022) Ob dafür allerdings kurzfristig die notwendigen technologischen Ketten aus russländischen Quellen aufgebaut werden können, dürfte völlig offen sein.
Auch in Russland weitgehend unausgesprochen bleibt die ökologische Dimension des Krieges. Der Befund vom Juli 2022, dass der Ukraine-Krieg die «Klimadebatte vom Tisch gefegt» habe (Claußen 2022), ist für Russland und für die wirtschaftspolitischen Szenariendiskussionen völlig zutreffend.[2]
Suche nach neuen Lösungen für neue alte Probleme
Anfang 2023 ist trotz einer Vielzahl von neuen Gesetzen, Gremien und Präsidentenanweisungen keinesfalls klar, welchen Weg die russländische Wirtschaft gehen kann, will oder muss. Im November 2022 versuchten drei Wissenschaftler, die Szenarien, die sich in den Diskussionen zeigen, zusammenfassend zu beschreiben. (Bondarenko et al. 2022) Ausgangspunkt dieser Diskussion ist bezeichnenderweise nicht die Ökonomie, sondern die Ideologie. Die Autoren sahen sich durch einen Beitrag von Aleksandr Charičev, in der Präsidialadministration zuständig für die Arbeit des Staatsrates, über die ideologischen Grundlagen des zukünftigen Russland zu dieser Arbeit angeregt. (Harichev et al. 2022) Sie heben aus den Zukunftsvorstellungen drei hervor, die möglicherweise (freilich in Kombination miteinander) Relevanz haben könnten: Das Konzept «UdSSR 2.0», die Vorstellung einer «NÖP 2.0» und das Modell der «Nation Z».
Charičev und seine Mitautor*innen stehen für einen Weg, bei dem eine gesellschaftspolitisch konservative Offensive und eine kapitalorientierte eigenständige Modernisierung der russländischen Wirtschaft verbunden werden sollen. Genauer, der Konservatismus soll Hebel einer Modernisierung werden. Teil des damit verbundenen Wertehaushaltes sei der Wille «zu gestalten»: Wertschätzung des Erfolges, Selbstermächtigung, Verständnis dafür, dass Erfolg und Wohlergehen von persönlichen Anstrengungen abhängen, Orientierung auf Wachsen und Entwicklung der eigenen Persönlichkeit, bürgerliches Selbstverständnis, Selbstverständnis als Teil der Gesellschaft, des Landes, des Staates (vgl. ebd., 17). In allen drei Szenarien werden Varianten der Entwicklung eines staatsmonopolistischen Kapitalismus eigener Art beschrieben. Für die «UdSSR 2.0» orientieren sich die Autoren an den USA und China als relativ autarke Ökonomien, verbunden mit einer starken Rolle des Staates bei der Überwindung der Disproportionen, der Erhöhung der Arbeitsproduktivität und der Einführung von Preiskontrollen. «NÖP 2.0» soll eine Strategie der Marktorientierung und einer aktiven Rolle als Ost-West-Drehscheibe sein. Es gehe um einen «gerechten Kapitalismus». Die «Nation Z» schließlich wird als Projekt einer «Nationenbildung auf russische Weise» charakterisiert, geprägt durch einen «Kult der Arbeit und des ehrlichen Erfolges». (Prach 2022) Wesentliche Momente des neoliberalen Wirtschafts- und Menschenverständnisses sind hier deutlich zu erkennen.
Mitte Januar 2023 hat Putin mit seinem Auftritt auf einer Beratung zu ökonomischen Fragen mit Spitzenbeamt*innen eine neue Welle von Diskussionen zu den Richtungen der Entwicklung der russländischen Wirtschaft und Wirtschaftspolitik ausgelöst, ohne dass sich der Rahmen wesentlich verändert hat. (Putin 2023) Diese Szenariendiskussion bedeutet in wirtschaftspolitischer Hinsicht vor allem ein Ringen um die Bestimmung des Verhältnisses von Unternehmer*innentum und politischem Machtapparat. Die Entscheidung zum Krieg war, soweit dies zu überblicken ist, ohne Beteiligung der ökonomischen Eliten gefallen. Allerdings versammelte Putin unmittelbar nach Kriegsbeginn die russländische Elite und verpflichtete sie auf ihre nationale Verantwortung. (Burmistrova/Parfent’eva 2022) Das sollte für den weiteren Verlauf in gesellschaftspolitischer Hinsicht Symbolcharakter haben, da damit auch eine Prioritätensetzung in machtpolitischer Hinsicht demonstriert wurde. Die russländische Wirtschaftspolitik ist unter diesem Gesichtspunkt offensichtlich auf Integration und Umbau des Unternehmer*innentums gerichtet. Mit der Ausschaltung des Ex-Oligarchen Michail Chodorkovski war die politische Macht der kriminellen Oligarch*innen der Jelzin-Ära endgültig gebrochen. Das in deren Kielwasser entstandene, heterogene Bürger*innentum, repräsentiert durch Alexej Navalny, war bereits vor dem Krieg durch Ausbau repressiver Gesetzlichkeit (vor allem des Gesetzes über ausländische Agenten), gezielte öffentliche Diskreditierung und durch Verfälschung der Wahlen politisch an den Rand gedrängt. Mit dem Chef des Rechnungshofes Alexej Kudrin, dem Kopf des Technologiekonzerns Rosnano, dann dem Beauftragten für die internationalen Beziehungen bei der Realisierung von Nachhaltigkeitszielen Anatolij Chubais, dem Chef der Sberbank (der privatisierten Sparkasse) German Gref oder der Zentralbankchefin Elvira Naibullina war und ist die mit diesem Milieu verbundene wirtschaftsliberale Strömung allerdings durchaus noch Teil des Systems. Chubais hatte gehofft, durch sein Engagement im Umfeld Putins die von dieser Strömung vertretenen roh-neoliberalen Ansätze wenigstens im Grundsatz zu bewahren. Das war nicht ganz erfolglos. Bereits im Dezember wurde im Ergebnis einer offensichtlich langen internen Diskussion die Entscheidung getroffen, den Weg einer Mobilisierungs- oder Kriegswirtschaft nicht einzuschlagen. Nur bezüglich des Bedarfes der Streitkräfte soll jetzt eine strengere Planung vor allem über das Instrument der Staatsaufträge durchgesetzt werden. (Fedotova 2022) Russland versucht so einen wirtschaftspolitischen Balanceakt – kulturell und sozial konservativ, unternehmerisch frei und technisch innovativ bei Nutzung internationaler Arbeitsteilung, ohne emanzipatorischen Tendenzen von innen und außen Raum zu geben.
Die Ausschaltung der Oligarchen hatte nicht nur diese, sondern das Unternehmer*innentum generell politisch und wirtschaftlich blockiert. Nun unternimmt die Regierung einen neuen Versuch, im Bereich der kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) Stabilität zu gewährleisten und unternehmerische Initiative zu stimulieren. Die Zentralbank hat zur Stärkung der KMU eine «Roadmap» erarbeitet (CBR 2023), die vorsieht, den Zugang zu Krediten zu erleichtern, günstige Finanzierungsprogramme für KMU aufzulegen, die Informationen zur finanziellen Situation der Wirtschaft zu verbessern, die Digitalisierung der Beziehungen zu Unternehmen voranzutreiben sowie den Zugang von KMU zum Kapitalmarkt und weiteren finanziellen Dienstleistungen zu erweitern.
Diese dosierte Ermächtigung des nichtoligarchischen Kapitals kann aber nur hinsichtlich der Beschleunigung der Importsubstitution und des Erreichens technologischer Souveränität wirken, wenn es gelingt, ein seit Jahrzehnten bestehendes Problem zu lösen – das des Zyklus Forschung-Entwicklung-Produktion. In dieser zentralen Frage scheiterten bisher auch Putin und sein Kreis, die über die Nationalen Projekte auf verschiedenen Gebieten diese Einheit durchsetzen und Schwerpunkte setzen wollten. Nun sollen in Kooperation vom Ministerium für Bildung und Wissenschaft, dem Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung und dem Patentamt Zentren für den Transfer von Technologie in den Universitäten geschaffen werden. (Zubov 2022) Das ist auch der Hintergrund für die Personalentscheidungen bei den Wahlen zur Akademie der Wissenschaften im vergangenen Jahr. Großes Gewicht wurde auf praxisorientierte Wissenschaftler aus der Hochtechnologie (vor allem von Rosatom, ein Unternehmen, das nicht nur im Bereich der Nukleartechnologie aktiv ist und als «Stütze der russländischen Souveränität» betrachtet wird) und (relativ) jüngere Leute gelegt.
Alle diese unmittelbar von der Zentralregierung ausgehenden Aktivitäten können aber nur erfolgreich sein, wenn sie in den Regionen, das heißt von den regionalen Machtorganen umgesetzt werden. Auch dies ist ein Dauerthema in den russländischen Diskussionen. Betont wird bis heute die große Differenziertheit der Lage der Regionen auf der einen Seite und das Fehlen eines komplexen Herangehens an die damit verbundenen Probleme. (Dorožieva et al. 2022, 68f.)
Der unbekannte Faktor
Der Krieg hat, oberflächlich gesehen, das Verhältnis von Kapital und Arbeit kaum berührt. Durch eine Reihe von sozialpolitischen Maßnahmen, vor allem für Familien mit Kindern, legitimiert durch den Bezug auf «traditionelle Werte Russlands», wurde versucht, die Stabilität des Landes trotz der Sanktionen nicht durch soziale Unruhen zu gefährden. Immer noch wirkt der Protest gegen die Erhöhung des Renteneintrittsalters nach. Dabei spielt sicher auch eine Rolle, dass durch die Corona-Pandemie der Krieg schon auf einen auf Krise hin regulierten Arbeitsmarkt traf. Dabei bleibt die Beschäftigungssituation quantitativ gesehen stabil, qualitativ unverändert schlecht. Die in den ersten Monaten verbreiteten Erwartungen schnell einsetzender Massenarbeitslosigkeit haben sich nicht bestätigt. Es ist offensichtlich zudem gelungen, die Auswirkungen der Abwanderung von ausländischen Unternehmen weitgehend zu kompensieren. Viele dieser Unternehmen zahlten auch nach Einstellung ihrer Aktivitäten Löhne weiter. Vielmehr ist ein wachsendes Defizit an Arbeitskräften in allen Bereichen und in allen Qualifikationsstufen zu verzeichnen. (Manujlova 2022) Dabei geht es um drei Faktoren - die Folgen der ersten Mobilisierungswelle, die Abwanderung junger und qualifizierter Beschäftigter in die Nachbarstaaten Russlands bei Fortsetzung ihrer Beschäftigung bei russländischen Unternehmen per Internet und die bereits lange zu beobachtende endgültige Auswanderung. Dies allerdings ist wiederum mit regionalen und sektoralen Disproportionen verbunden. Gute Beschäftigungschancen werden in der Industrie erwartet, während im Bankwesen mit Arbeitsplatzverlusten zu rechnen sei. (Kozlov/Grinkevič 2023) Bereits jetzt wird in der Rüstung ein Mangel an qualifizierten Beschäftigten konstatiert. (mobilizationnews 2023) Daraufhin hat Putin nun die Möglichkeit der Zurückstellung von Beschäftigten dieses Sektors vom Wehrdienst angekündigt. (Ėrozbek 2023) Auch ist geplant, Studierende verstärkt zu Praktika in der Produktion einzusetzen – mehr oder weniger freiwillig. (Nezygar’ 2023b)
Dies alles vollzieht sich jedoch vor dem Hintergrund einer unverändert schlechten materiellen Lage der Masse der Lohnabhängigen. Und an dieser Situation wird sich, so Expert*innen der Zentralbank, auch nichts ändern. (Keffer 2022a) Angesichts einer Inflation von 11 Prozent entwickelt sich ein wenigstens latenter Konflikt um die Indizierung der Löhne, Sozialleistungen und Renten. Für Beschäftigte, die in irgendeiner Weise aus dem Staatshaushalt bezahlt werden, soll nach Äußerung des Präsidenten nun ein neuer Anlauf in diese Richtung gemacht werden. Zum 1. Januar 2023 erhöhte sich regulär der Mindestlohn auf etwa 219 Euro; ebenfalls wurden die Renten und das Existenzminimum (etwa 194 Euro) neu festgesetzt. Gleichzeitig erhöhten sich jedoch die Preise im ÖPNV, Gebühren für kommunale Leistungen und andere. (Vedomosti 2023)
Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum es trotz des politischen Drucks immer wieder zu Arbeitskämpfen kommt. Besondere Aufmerksamkeit erregten in den letzten Monaten des Jahres 2022 die Kämpfe der Beschäftigten von Lieferdiensten wie Delivery Club und Jandex. (Kur’er 2022) Die mit 2 Mio. Mitgliedern zweitgrößte Gewerkschaft des Landes Konföderation der Arbeit (KTR) kämpft erfolgreich unter anderem im Bildungsbereich, im Gesundheitswesen, in der Hochseeschiffahrt. (KTR 2023) Die Organisation vereinigt eine Vielzahl von kleinen, meist regionalen Branchengewerkschaften. Es geht um Arbeitsbedingungen, ausstehende Lohnzahlungen, ungerechtfertigte Entlassungen, die Verteidigung von Rechten Mobilisierter usw. Ob und inwieweit die allgemein erwartete Verschärfung der sozialen Situation die Rolle derartiger Organisationen im politischen Raum erhöhen wird, ist jetzt nicht zu sagen. Die bereits erwähnten Proteste gegen die Rentenreform zeigten, dass die Ruhe nur scheinbar ist. Weiter oben wurde bereits angedeutet, dass der Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften nur unvollständig gedeckt werden kann. Auch wenn daraus nicht automatisch eine stärkere Position der Gewerkschaften resultieren muss, könnten sich doch davon ausgehend neue Machtkonstellationen entwickeln.
Fazit
Nach fast einem Jahr Krieg haben sich in der russländischen Wirtschaft und Wirtschaftspolitik ein Suchprozess und ein Prozess der Umstrukturierung der Machtverhältnisse vollzogen. Allerdings zeigt sich nach Meinung des Vorsitzenden der Kommunistischen Partei (KPRF), der größten russländischen Oppositionspartei, G. Zjuganov, dass die Zielstellungen des Präsidenten in der haushaltspolitischen Praxis kaum eine Rolle spielen und dass sich Russland immer noch auf dem Weg der Exponenten der Schocktherapie der 1990er Jahre befinde. (Zjuganov 2022) Die hier nur skizzierten widersprüchlichen Bewegungen in Wirtschaft und Wirtschaftspolitik können das nur zum Teil bestätigen. Die Langsamkeit und teilweise Widersprüchlichkeit der Umbauversuche sollten nicht dazu verleiten, sie als gescheitert zu betrachten. Außenwirtschaftlich kann sich der Kurs der russländischen Regierung durchaus durch die ungebrochene Kritik an der gegebenen Weltwirtschaftsordnung bestätigt sehen.
Der Krieg in der Ukraine ist vor diesem Hintergrund ein Element der Entstehung einer neuen Vielfalt finanzkapitalistischer Entwicklungswege. Die angestrebte Spaltung des Weltmarktes bedeutet auch eine Vertiefung der Spaltung der Lohnabhängigen. Die vielfältigen Konkurrenzverhältnisse, die sich bisher vor allen Dingen in den Ungerechtigkeiten globaler Lieferketten zeigten, werden durch die Intensivierung archaischer (abstrakt wertebasierter) ideologischer Instrumente modifiziert. Die auf allen kriegführenden Seiten zu beobachtende Erhöhung der Rolle des Staates in der Wirtschaft und bei der Gestaltung der außenwirtschaftlichen Beziehungen schafft für die Diskreditierung jeglicher Forderungen im Interesse der Lohnabhängigen neue Möglichkeiten.
Das durch den Neoliberalismus realisierte autoritäre Demokratiemodell wird in Russland, bereinigt um die Reste der durch gewerkschaftliche Handlungsmacht und aus der bürgerlich-humanistischen Tradition erwachsenden Momente menschlicher Emanzipation, durchgesetzt.
Der Text wurde erstveröffentlicht in der Zeitschrift für marxistische Erneuerung, «Z.» Nr. 133 von März 2023.
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