Heute vor 20 Jahren überfielen die US-Regierung und eine «Koalition der Willigen» das souveräne Land Irak.
Ingar Solty ist Referent für Friedens- und Sicherheitspolitik am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Nach Angaben von Richard A. Clarke, dem ehemaligen Chefberater für Terrorismusbekämpfung in den USA, trat US-Präsident George W. Bush am Tag nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 an ihn heran und ersuchte ihn, einen Zusammenhang zwischen den Anschlägen und dem irakischen Staat herzustellen. Clarke widersprach und sagte, dass der Irak doch nichts damit zu tun habe. In seinem 2004 erschienenen Buch «Against all Enemies: Inside America's War on Terror» (Gegen alle Feinde: Amerikas Krieg gegen den Terror) schrieb er später, dass Bush und US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld einen Vorwand für eine Bombardierung des Irak finden wollten. Diese Pläne scheiterten einstweilig.
Kurz nach dem Beginn des von den USA und den NATO-Staaten geführten Krieges in Afghanistan erfand die US-Regierung dann eine neue Lüge, um den Einmarsch in den Irak zu rechtfertigen. Gemeinsam mit der britischen Regierung von Tony Blair behaupteten sie, der Irak besitze Massenvernichtungswaffen, die innerhalb von 45 Minuten die NATO-Außenposten im östlichen Mittelmeer erreichen könnten. US-Außenminister Colin Powell verbreitete diese Lüge vor den Vereinten Nationen.
Als die russische Regierung und Wladimir Putin im vergangenen Jahr versuchten, ihren Krieg in der Ukraine unter Berufung auf Artikel 51 der UN-Charta zur Selbstverteidigung zu rechtfertigen und behaupteten, in der Ukraine gebe es ein geheimes Atomwaffenprogramm, das Sankt Petersburg und Moskau mit einer Vorwarnzeit von fünf Minuten erreichen könne, griffen sie letztlich auf dieses ideologische Arsenal und diese billigen Kriegslügen zurück. Und ebenso wenig wie die Bush-Regierung damals versucht hat, zu beweisen, dass es Massenvernichtungswaffen im Irak gebe – Bush wurde später mit den Worten zitiert, er sei einfach nicht so sehr daran interessiert, sie zu finden –, hat auch die russische Regierung sich nicht einmal die Mühe gemacht, «Beweise» für ihre Behauptungen zu liefern.
Nicht alle NATO-Staaten wollten sich am Irakkrieg beteiligten. 2002-2003 weigerten sich mehrere wichtige NATO-Verbündete, darunter vor allem Frankreich und Deutschland, der außenpolitischen Agenda der USA zu folgen, weshalb diese eine «Koalition der Willigen» aus der Taufe hoben, der Staaten wie Großbritannien, Polen, Ungarn, Litauen, Lettland, die Tschechische Republik, die Slowakei, aber auch Spanien, Italien und die Niederlande angehörten. Die US-Rechte war so wütend, dass sie eine Zeit lang erfolgreich eine Kampagne zur Umbenennung von «Pommes frites» (Englisch: «French Fries») in «Freiheitspommes» («Liberty Fries») durchführte, so wie der Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg 1917 zu einer Umbenennung von «Frankfurters» in «Hot Dogs» geführt hatte.
In Deutschland betrachteten CDU/CSU die deutsche Gegnerschaft zum bevorstehenden Irakkrieg als diplomatisches Desaster. Angela Merkel, die damalige konservative Oppositionsführerin, die zwei Jahre später für die nächsten 16 Jahre Bundeskanzlerin werden sollte, flog eigens in die USA, um sich für die Entscheidung von Bundeskanzler Gerhard Schröder zu entschuldigen, und schrieb einen Gastbeitrag in der Washington Post mit dem Titel «Gerhard Schröder spricht nicht für alle Deutschen».
Das stimmte jedoch nicht, denn Schroeders Kurs hatte ihm tatsächlich gerade dazu verholfen, das bis dahin Unrealistische zu schaffen: seine Wiederwahl. Zusammen mit großen Überschwemmungen in Ostdeutschland trug sie dazu bei, dass die ostdeutschen Wählerinnen und Wähler jetzt bei der SPD ihr Kreuzchen machten und die postkommunistische Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS), die zuvor erklärt hatte, sie werde notfalls helfen, Schröder als Kanzler wiederzuwählen, für die nächsten drei Jahre aus dem Parlament zu werfen.
In jedem Fall trug der Riss in den transatlantischen Beziehungen dazu bei, dass die Kriegslügen der USA jetzt bis weit in den Mainstream hinterfragt wurden und zur besten Sendezeit über die Fernsehbildschirme flimmerten. Die Wirkung war noch lange zu spüren – und zwar weltweit. In globalen Umfragen der Pew Research Group wurde danach ein anhaltend und tief sitzendes Misstrauen gegenüber den USA und ihrer Außenpolitik festgestellt. Dies gilt auch für Deutschland. Als sich 2013 - 2014 ein tiefer Riss zwischen Eliten- und Massenmeinung zur Ukrainekrise 2013-2014 und eine Kritik an der starken Orientierung der Bundesregierung an der US-amerikanischen Ukrainepolitik offenbarte, veranlasste dies den außenpolitischen Analysten Michael Thumann von der zuverlässig transatlantischen ZEIT in einer Kolumne zu fragen, ob sie, d. h. die liberale und konservative Mainstream-Presse, in den Jahren zuvor womöglich zu kritisch über den Krieg und die US-Kriegsverbrechen – extralegale Tötungen, geheime Foltergefängnisse usw. – oder die Überwachung des deutschen politischen Establishments durch die USA (NSA-Skandal) berichtet hätten.
Die Kritik an den Kriegsvorbereitungen der USA und Großbritanniens fand ein breites Publikum außerhalb der oppositionellen linken Presse in Westeuropa und trug dazu bei, die größte Antikriegsbewegung seit dem US-Krieg in Vietnam hervorzubringen. Am 15. Februar 2003 gingen Millionen von Menschen auf die Straße, um den drohenden Krieg gegen den Irak zu verhindern. In Rom protestierten rund drei Millionen, in Madrid rund 1,5 Millionen. Es wird geschätzt, dass an den weltweit 3.000 Anti-Kriegs-Protesten an diesem Tag rund 36 Millionen Menschen teilnahmen.
Doch der Krieg im Irak konnte nicht gestoppt werden. Bush erklärte, man würde «als Befreier begrüßt» werden. Das Ergebnis war jedoch ein blutiger Besatzungskrieg. Die konfessionelle Neugestaltung der irakischen Politik, die auch das alte politische Establishment von den Verwaltungspositionen ausschloss, das sich größtenteils aus der sunnitischen Minderheit rekrutiert hatte, trug dazu bei, einen blutigen Bürgerkrieg zu entfachen. Der Krieg führte zu 28.800 bis 37.400 toten Soldaten und einer unbekannten Zahl von Verwundeten und Verstümmelten auf irakischer Seite sowie zu fast 5.000 toten und mehr als 33.000 verwundeten amerikanischen Soldaten. Der Iraq Body Count verzeichnete von 2003 bis zum 14. Dezember 2011 103.160 bis 113.728 zivile Todesopfer. Statistischen Schätzungen gehen von viel höheren Opferzahlen aus: Lancet schätzt 654.965 zivile Tote allein von März 2003 bis Juli 2006, Opinion Research Business geht von 1,033 Millionen Toten von März 2003 bis August 2007 aus, die PLOS Medicine Studie kommt auf 405.000 Tote von März 2003 bis Juni 2011.
Der Krieg gegen den Irak war dabei nur einer von vielen geografischen Räumen des US-«Krieges gegen den Terror». Die US-Regierung führt bis heute in 85 Ländern der Welt «Antiterroroperationen» durch. Das an der US-amerikanischen Brown University angesiedelte Forschungsprojekt «Costs of War» hat diese humanitären und finanziellen Kosten seit 2010 analysiert. Die Forscher schätzen, dass «in den Kriegen nach dem 11. September über 929.000 Menschen durch direkte Kriegsgewalt ums Leben gekommen sind», darunter über 387.000 Zivilisten. Darüber hinaus sollen «mehrere Male so viele» durch die «nachhallenden Auswirkungen des Krieges» gestorben sein. 38 Millionen Menschen wurden vertrieben. Zum Vergleich: Die Zahl der Opfer im ersten Jahr des Krieges in der Ukraine wird auf knapp 300.000 tote Soldaten auf beiden Seiten geschätzt. Die Vereinten Nationen schätzen die Zahl der toten Zivilisten bis zum 12. März 2023 auf 8.231.
Die finanziellen Kosten des «Krieges gegen den Terror» schätzt das Forschungsprojekt «Costs of War» auf acht Billionen US-Dollar seit 2001 (diese Zahlen schließen die derzeitige US-Militärhilfe für die Ukraine nicht ein). Zum Vergleich: Das entspricht mehr als dem Zehnfachen des American Recovery and Reinvestment Act, also dem gigantischen Konjunkturprogramm der Obama-Regierung zur Bekämpfung der weltweiten Finanzkrise von 2008-2009. Es übertrifft auch die ursprünglichen Ausgabenpläne von Präsident Joe Biden zur Belebung der Wirtschaft deutlich.
Mit dem Krieg gegen den Irak wurde Saddam Hussein gestürzt. Gleichzeitig schuf der Krieg ein grauenerregendes Umfeld der Unsicherheit und Gewalt, zerstörte weitgehend die Infrastruktur des Landes, führte zu einer katastrophalen Massenerwerbslosigkeit (die nach der Invasion einen inoffiziellen Höchststand von 60 Prozent erreichte) und zu einer humanitären Krise. Heute haben nach Umfragen des Meinungsforschungsinstituts Gallup vier von zehn Irakern Schwierigkeiten, sich Lebensmittel zu leisten, und die Massenarbeitslosigkeit ist nach wie vor hoch, was zu häufigen Massenprotesten wie denen im Jahr 2019 führt. Laut Gallup «gab die Mehrheit der Iraker im Jahr 2022 an, während eines Großteils des vergangenen Tages Schmerzen (61 %), Sorgen (59 %) und Stress (53 %) erlebt zu haben, und fast die Hälfte empfand Wut (46 %) und Traurigkeit (45 %)». Viele erinnern sich an Muntadhar al-Zaidi, den irakischen Journalisten, der aus Protest gegen die Invasion seine Schuhe nach George W. Bush warf – eine Tat, an die heute im Irak eine zwei Meter hohe Statue eines riesigen Schuhs erinnert. Aber die Invasion hinterließ auch Zehntausende traumatisierter amerikanischer und britischer Soldaten. Einer von ihnen ist Michael Prysner, der am 19. September 2021 eine Rede von George W. Bush in Beverly Hills, Kalifornien, unterbrach und verlangte, dass sich der ehemalige Präsident für die Lügen seiner Regierung über Massenvernichtungswaffen und den Tod von einer Million Irakern entschuldigt. «Sie haben mich in den Irak geschickt», sagte er. «Meine Freunde sind tot, weil Sie gelogen haben.»
Der Irak-Krieg muss als Ereignis in Erinnerung bleiben, dass die Weltgeschichte nachhaltig veränderte. In den Gefängnissen des Irak, die von den Besatzungsmächten betrieben wurden, schlossen sich Personen aus den ehemaligen Sicherheitsapparaten (eines bis dahin säkularen Staates) mit anderen Gefangenen von «al-Qaida im Irak» zusammen. Gemeinsam bildeten sie ISIL (später ISIS oder «Islamischer Staat») und nutzten das Vakuum, das durch den Krieg in Syrien entstand, der durch die brutale Unterdrückung des Arabischen Frühlings in Syrien durch die Assad-Regierung zu einem Stellvertreterkrieg mit verschiedenen globalen und regionalen Mächten geworden war. Mit anderen Worten: Ohne den Krieg der USA und Großbritanniens gegen den Irak wäre ISIS nie entstanden. Ohne den Irak-Krieg hätte der Westen nicht jahrelang islamisch-fundamentalistische und salafistische Terroranschläge erlebt, die darauf abzielten, «westliche» Mächte aus dem Nahen Osten zu vertreiben, so wie die Terroranschläge auf die U-Bahn in Madrid die spanische Regierung dazu veranlassten, sich aus der Koalition der Willigen zurückzuziehen.
Darüber hinaus hätten ohne ISIS und den Versuch, ein neues «Kalifat» zu errichten, ISIS-Sympathisanten auf der ganzen Welt keine asymmetrische Kriegsführung gegen die Zivilbevölkerung der am Stellvertreterkrieg in Syrien beteiligten Länder geführt. Ohne solche Angriffe und ohne den Massenexodus von Millionen von Vertriebenen aus Syrien, dem Irak und Afghanistan wäre der Aufstieg von rechtsautoritärem Nationalismus und antimuslimisch-rassistischen Kräften in Europa und Nordamerika nicht so leicht möglich gewesen, wie er dann war und heute ist. Mit anderen Worten: Der Krieg gegen den Irak hat die Welt und die Weltgeschichte gewaltig verändert – zum Schlechten.
Doch im Gegensatz zu Wladimir Putin sind diejenigen, die die UNO und die Weltöffentlichkeit belogen und einen Krieg befohlen und geführt haben, den Hunderttausende von Zivilisten mit ihrem Leben bezahlten, noch auf freiem Fuß und werden nicht mit Haftbefehlen aus Den Haag gesucht. Sie werden sogar in den USA und in Europa als «elder statesmen» begrüßt. Und selbst wenn ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gegen US-amerikanische Kriegsverbrecher ausgestellt werden sollte, haben die USA immer wieder damit gedroht, in die Niederlande einzumarschieren, um ihre Strafverfolgung zu verhindern.