Hintergrund | Demokratischer Sozialismus Sozialismus als Ausgang der Menschheit aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit

Von Ingar Solty

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Ingar Solty,

Das Chile-Wandbild an der Stirnseite der Zentralen Halle der Universität Bielefeld wurde im Dezember 1976 durch die exilchilenische «Brigade Salvador Allende» angebracht und ist bis heute erhalten. Im Stil des des lateinamerikanischen «Muralismo» stellt es den Sieg der Arbeiterklasse über den Faschismus dar.  Foto: Universitätsarchiv Bielefeld

Der Sozialismus begreift sich selbst als die Verwirklichung der demokratischen Idee. In diesem Geist standen «Prager Frühling» und die «Unidad Popular» in Chile. Sozialismus bedeutet einerseits, kollektive Selbstbestimmung an die Stelle des strukturellen Zwangs zur planlosen Profitmaximierung im Interesse der Wenigen zu setzen. In diesem Sinne bedeutet Sozialismus die Befreiung der Gesellschaft. Sozialismus bedeutet andererseits, die Fremdbestimmung der Vielen zu ersetzen durch die Entfaltung auch der individuellen Freiheitspotenziale. In diesem Sinne bedeutet sozialistische Demokratie auch die Befreiung des Einzelnen. Sozialismus und Freiheit sind keine Gegensätze. Freiheit, kollektiv wie individuell, entsteht durch Sozialismus, argumentiert dieser Text, bei dem es sich um den bearbeiteten Auszug aus dem Band «Sozialismus im 21. Jahrhundert? Sozialismus-Debatten 1», herausgegeben von Kim Lucht, Frank Deppe und Klaus Dörre, der soeben im VSA-Verlag erschienen ist.

1. Annäherungen zur Frage: Was ist Sozialismus?

«Wenn man eine Anzahl Menschen, welcher Klasse oder Partei auch angehörig, aufforderte, in einer knappen Formel eine Definition des Sozialismus zu geben, so würden die meisten von ihnen in einige Verlegenheit geraten. Wer nicht aufs Geratewohl eine gehörte Phrase wiederholt, muß sich zunächst darüber klar werden, ob er einen Zustand oder eine Bewegung, eine Erkenntnis oder ein Ziel zu kennzeichnen hat […]». Diese historischen Worte von Eduard Bernstein sind programmatisch.

Hinzu kommt noch der Sozialismus als «untergeordnetes Organisationsprinzip in der kapitalistischen Gesellschaft» (Georg Fülberth). In dieser Form kann er im Geiste einer gramscianischen Kritik, die die nichtintendierte Kooptation und Einschreibung eigentlich antisystemischer sozialistischer Bewegungen in den Kapitalismus meint, der sich mit ihrer Hilfe von oben reformiert und auch modernisiert beschrieben werden. «Der moderne Wohlfahrtsstaat», schreibt in diesem Doppelsinne der polnische, sozialistische Ökonom Wlodzimierz Brus, «ist einerseits das Ergebnis von gesellschaftlichem Druck, andererseits die unerläßliche Form der Sicherung der allgemeinen Entwicklungsfaktoren in rein wirtschaftlichem Sinne […]».

Bernstein hatte sich, was die Gewichtung der verschiedenen Sozialismusauffassungen anbelangt, entschieden. Die sozialistische «Bewegung» sei ihm «alles», das, «was man gemeinhin Endziel des Sozialismus nennt», sei ihm «nichts». Scharf kritisiert wurde er hierfür durch Rosa Luxemburg. Heute lässt sich konstatieren, dass viele Linke, die sich aktuell gerne auf Marx und Luxemburg beziehen, ihrem Handeln nach zu urteilen dem Bernstein’schen Denken doch sehr viel näherstehen, weil sie gut darin sind, Menschen zu mobilisieren und tagespolitische Kämpfe zu führen. Sie sind oft erfolgreich, können aber selten sagen, wie die Mobilisierung und das Tagesziel denn mit dem Fernziel, sofern ihnen ein solches noch konkret vor Augen schwebt, zusammenhängen.

Es ist nun zweifellos richtig, dass eine sozialistische Bewegung sich die Bedingungen nicht aussuchen kann, unter denen sie in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in die Möglichkeit versetzt wird, eine Alternativgesellschaft zum Kapitalismus aufzubauen. Historisch gehört hierzu, dass Versuche, den Sozialismus oder linkssozialdemokratische Alternativprojekte aufzubauen, bis heute unter den ungünstigen Bedingungen der Rückständigkeit und Abhängigkeit von den kapitalistischen Zentren unternommen worden sind, weil hier die «imperialistische Kette» am ehesten bricht. Dies gilt für die Oktoberrevolution im feudal-agrarischen Russland 1917 genauso wie für die Regierungsübernahme von SYRIZA in Griechenland 2015. Sozialistische Revolutionen waren dadurch bislang immer gezwungen, nachzuholen und aufzuholen.

Damit verknüpft ist, mit dem kanadischen Politikwissenschaftler und Marxist Leo Panitch gesprochen, das Problem verbunden, dass sich der Kapitalismus und die kapitalistischen Sozialverhältnisse ständig und über nationale Grenzen hinweg entwickeln, weswegen auch der Sozialismus internationalistisch und der Idee nach länderübergreifend ausgerichtet sein muss, aber die sozialistische Weltbewegung zugleich in einer historischen Spezifik der «nationalen Identitäten der Klassen» operiere. Darum müsse sozialistische Strategie «gleichzeitig national und international» sein.

2. Warum Sozialismus?

Die Debatte, wie nun eine postkapitalistische Gesellschaft aussehen könnte, ob sie heute noch oder wieder möglich ist, wie sie sich mit dem Stand der Produktivkraftentwicklung und – transnationalen – Klassenformierung vereinbaren ließe, setzt freilich die Erörterung der Frage voraus, dass und warum eine solche Gesellschaft als Alternative zum herrschenden fossilen Kapitalismus wünschenswert, ja sogar nötig erscheinen mag. Es geht letztlich um das «Warum, darum und wie rum Sozialismus?».

Der Kapitalismus ist eine Gesellschaft der krassesten sozialen Ungleichheit, in der irrwitziger Luxus und allergrößtes ökonomisches und seelisches Elend nebeneinander existieren, ja einander bedingen. Die durch den Kapitalismus betriebene Marktpolarisierung der Gesellschaft zieht eine für die liberaldemokratische Verfasstheit des Kapitalismus brandgefährliche politische Polarisierung derselben nach sich. Und der Kapitalismus ist als ein auf permanentes Wachstum bei Strafe seines Untergangs angewiesenes Wirtschaftssystem strukturell nicht nachhaltig. Der Kapitalismus hat die Weltgesellschaft heute in eine Sechsdimensionenkrise geführt: eine Krise der Akkumulation, der sozialen Reproduktion, des sozialen Zusammenhalts, der Demokratie, der Welt(friedens)ordnung sowie der Ökologie und des Klimas. Jede einzelne dieser sechs Dimensionen hat das Potenzial für schwerste Zerrüttungen und Zerstörungen sowie wechselseitige Vertiefungen.

Damit steckt der Kapitalismus heute in einer ideologischen und Legitimationskrise. Gerade innerhalb einer jüngeren Generation, für die nicht länger der soziale Aufstieg, sondern die Androhung des sozialen Abstiegs Wirklichkeit ist, hat sich ein neues Interesse am Sozialismus entwickelt. Dies hängt zusammen mit der Frage, ob die sechs ineinandergreifenden Krisendimensionen noch im Rahmen der bestehenden Wirtschafts- und Eigentumsordnung nachhaltig bearbeitet werden können, wenn sie doch gerade Ergebnis dieser Ordnung selbst sind. Daran knüpft sich nun also die Frage, ob eine sozialistisch umgestaltete Gesellschaft vielleicht bessere Antworten auf die Herausforderungen der Gegenwart bieten könnte.

Hieraus ergibt sich das neue Interesse am Sozialismus, aber zugleich sind die Befürworter einer sozialistischen Alternative zum kapitalistischen Status quo gefordert, glaubwürdige Antworten zu liefern, die dazu beitragen, seine ideologische Krise zu überwinden. Dazu gehört jedoch, ganz entscheidend, die Auseinandersetzung mit und, wie Klaus Steinitz schreibt, das «Lernen aus der staatssozialistischen Vergangenheit», das Bergen von Erfahrungswissen, sowohl um «grundlegende Fehler und Schwächen des Realsozialismus nicht zu wiederholen […] »als auch Erfolge zu benennen und Gutfunktionierendes weiterzuentwickeln.

Dabei sei mit dem griechisch-französischen Staatstheoretiker und Marxisten Nicos Poulantzas daran erinnert, dass – entgegen des Marx’schen Bonapartismus und der Dimitroff’schen Faschismustheorie – es nicht die Stärke der sozialistischen Bewegung, die autoritäre Herrschaft und Faschismus als letzten Strohhalm der Bourgeoisie zur Aufrechterhaltung der bestehenden Eigentumsordnung hervorbrachte, sondern im Gegenteil die Schwäche der sozialistischen Bewegung in einer unhaltbar gewordenen Situation den Kapitalismus diesen auch tatsächlich zu überwinden und die realen Lebensverhältnisse in sozialistischer Richtung für alle zu verbessern.

3. Sozialismusdefinitionen

Der Sozialismus wird als das Produkt des Kapitalismus im Ergebnis der Entfaltung seiner inneren Widersprüche gesehen, und ist, geschichtlich betrachtet, doch sehr viel älter als der Kapitalismus. Ideengeschichtliche Vorläufer finden sich schon in der Antike und im Mittelalter, zumeist religiös flektiert.

Der liberalkonservative Antikommunismus in Gestalt der neoklassischen Ökonomie hat diese Ursprünge und Verbindungen versucht zu leugnen, um den Sozialismus als etwas der Menschheit Wesensfremdes zu klassifizieren. Der Sozialismus sei, schreibt Friedrich August Hayek, ein Hirngespinst von Intellektuellen, das die «spontan entstehenden moralischen Traditionen, die dem Markt und der Konkurrenz unterliegen» störe.

In schroffem Gegensatz hierzu haben – aus unterschiedlichen Perspektiven – wiederum der Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi und die marxistische Kapitalismustheoretikerin Ellen Meiksins Wood die Verbindung des Sozialismus mit dem Urchristentum und den religiös inspirierten Sozialbewegungen der Antike und des Mittelalters untermauert und ihrerseits die Unnatürlichkeit und den Bruchcharakter der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft und des «freien Markts» mit aller bisherigen Menschheitsgeschichte thematisiert.

Die Grundlage des Sozialismus ist die Klassengesellschaft, das heißt eine in antagonistische Klassen gespaltene Gesellschaft, in der sich einige Wenige die Früchte der Arbeit der Vielen aneignen, weil ihnen die Eigentumsordnung hierfür die Voraussetzungen schafft. Aus ihr speist der Sozialismus sich immer wieder – als Theorie und als Praxis, als Begriff und als Geschichte. Diese realgeschichtliche Verbindung der objektiven Lage der arbeitenden Klassen mit der sozialistischen Idee hat auch von Mises eingestehen müssen, wenn er in seinem 1922 publizierten Versuch, den Sozialismus zu erledigen, einräumend bemerkt: « The socialist idea dominates the modern spirit. The masses approve of it. It expresses the thoughts and feelings of all; it has set its seal upon our time. When history comes to tell our story it will write above the chapter ›The Epoch of Socialism‹ […]». In diesem Sinne sah auch Kautsky «die große Leistung des Marxismus für den Klassenkampf des Proletariats in der Vereinigung des utopischen Sozialismus mit der Arbeiterbewegung […]».

4. Wirtschaftsplanung als der Ausgang der Menschheit aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit

Als Bewegung meint Sozialismus also eine Bewegung der arbeitenden Klassen. Das Kernelement des Sozialismus als einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der Zukunft ist die gesellschaftliche Planung der Wirtschaft.

Vom Kapitalismus unterscheidet er sich darin, dass er an die Stelle der mikroökonomischen Planung durch die Einzelkapitalien die Steuerung der wirtschaftlichen Entwicklung der gesamten Gesellschaft in deren Hände selbst legt. Damit verknüpft ist das Ziel ihrer systematischeren Gestaltung und der Überwindung einer wahrgenommenen «Anarchie des Marktes». Der US-amerikanische Ökonom Abba P. Lerner, Verfasser des wirtschaftstheoretischen Klassikers «The Economics of Control» und Vordenker eines marktwirtschaftlichen «Konkurrenzsozialismus», beschreibt das ganz allgemeine Problem so: «The uncontrolled economy may be likened to an automobile without a driver but in which many passengers keep reaching over to the steering wheel to give it a twist while complicated regulations prescribe the order and degree to which they may turn the wheel so as to prevent them from fighting each other about it. The controlled economy has a driver, so these regulations are unnecessary […]».

Für den belgischen Ökonomen und Marxisten Ernest Mandel waren entsprechend Freiheit und Planung darum auch keine Gegensätze: «Die Antithese von Freiheit ist äußerer Zwang, der dem Menschen auferlegt wird. Die Antithese von Planung ist ein Wirtschaftsverlauf, der von bewußten Zielen der Menschen unabhängig ist und worin vom Willen des Menschen unabhängige Bedingungen und Gesetze […] das Wirtschaftsleben bestimmen […]». In diesem Sinne kann der Sozialismus auch verstanden werden als die Überwindung der Naturverfallenheit des Menschen.

Damit verbunden ist die Zielsetzung, dass sich wirtschaftliches Handeln nicht länger am Prinzip der Profitmaximierung orientiert, sondern den realen Bedürfnissen der Gesellschaft dient. In den Augen von Polanyi ist Planung die Ausgestaltung der Demokratie im Bereich der Wirtschaft, «socialism […] merely the continuation of that endeavor to make society a distinctively human relationship of persons which in Western Europe was always associated with Christian traditions […]».

Der Antikommunismus der neoklassischen Ökonomie, die heute in der Volkswirtschaftslehre unhinterfragt gelehrt wird, besitzt an dieser Stelle der Demokratisierung der Wirtschaft und der gattungsgeschichtlichen Freiheit des Menschen einen blinden Fleck. Sie muss entschlüsselt werden als der Versuch, die Vorherrschaft der Besitzenden auch unter den Bedingungen des allgemeinen Wahlrechts aufrechtzuerhalten. In diesem Sinne ist die Demokratisierung der Wirtschaft nicht Ziel der Neoklassik, sondern, ganz im Gegenteil, Befürchtung.

Ernst zu nehmen ist allerdings, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der realen Geschichte der Sozialismusversuche in der Welt, der Einwand, dass der Sozialismus zwangsläufig mit autoritären Strukturen einhergehen müsse, die die Freiheit der Individuen einschränke. «All historical attempts to realize the socialist ideal of society», hätten sich, so von Mises, durch «a most pronounced authoritarian character […]» ausgezeichnet. Hiergegen sieht die Neoklassik sich als Verteidigerin und «Garantin der individuellen Freiheit» (F.A. Hayek).

Einerseits ist diese Darstellung offensichtlich nicht frei von Ironie angesichts der Tatsache der historischen Verstrickungen der Neoliberalen mit dem Faschismus und der Diktatur. So hatte Ludwig von Mises nicht nur den italienischen Faschismus begrüßt, sondern auch Hayek den Putsch gegen die Allende-Regierung und die Diktatur von Augusto Pinochet in Chile. Ja, Milton Friedman, einer der wesentlichen Vordenker des Neoliberalismus, trat mit seinen «Chicago Boys» sogar in den unmittelbaren Dienst der Diktatur. Auch hierin drückt sich die Tatsache aus, dass der Kapitalismus sowohl mit dem liberalen Parlamentarismus als auch der faschistischen Diktatur als zwei «Formen bürgerlicher Herrschaft» (Reinhard Kühnl) stets kompatibel gewesen ist, ja Letztere aus sich heraus ja auch hervorgebracht hat. Im Übrigen unterschlägt Mises die seinerzeit noch sehr lebendige Erfahrung der Pariser Kommune von 1871.

Und dennoch muss sich mit dem Argument auseinandergesetzt werden, dass die sozialistische Planwirtschaft die Individuen einschränke. Entscheidend ist hierbei, was die Neoliberalen tatsächlich unter individueller Freiheit verstehen. Jenseits der Frage der politischen Verfasstheit der Gesellschaft bezüglich, der sie, wie gesagt, die allergrößte Offenheit für autoritäre Einschränkungen der Demokratie aufweisen, sobald die kapitalistische Eigentumsordnung bedroht ist, bezieht sich individuelle Freiheit nicht auf die Freiheit von kapitalistischer Ausbeutung, von sozialer Unsicherheit usw., sondern auf die Freiheit von Konsumentscheidungen auf dem kapitalistischen Markt. In dieser Hinsicht ist es kein Zufall, dass Friedman sein «persönliches Bekenntnis» mit «Free to Choose» übertitelte und die «Kraft des Marktes» mit dem «Supermarkt» beschreibt, der «gerade diejenigen Dinge in den Regalen hat, die wir kaufen wollen». Dies ist am Ende des Tages, was mit der «Gesellschaft freier Menschen» (Walter Lippmann) und der «offenen Gesellschaft» (Karl Popper) gemeint ist. Es geht um die Freiheit der Wenigen, die nicht mehr länger von staatlichen Regulierungen der unternehmerischen Freiheit – wie Arbeitsschutzvorschriften, Steuern, Wohlfahrtsstaat oder gar Enteignungen – gegängelt werden wollen.

Das Problem der individuellen Freiheit im Sozialismus ist mit dem Hinweis, dass im Kapitalismus die Freiheit des – verfassungsrechtlich als individuelle Person gedachten – Kapitals und die Unfreiheit der Lohnabhängigen Hand in Hand gehen, jedoch nicht gelöst. In dieser Hinsicht sah Oskar Lange im Sozialismus die eigentliche Verwirklichung nicht nur gesellschaftlichen, sondern auch der individuellen Freiheits- und Egalitarismusbestrebungen der Demokratie. 1940 schreibt Lange: «Das demokratische Ziel des Sozialismus impliziert die Abschaffung gesellschaftlicher Privilegien […].» Der Sozialismus sei hiergegen die Verwirklichung gleicher Lebenschancen.

Darüber hinaus war schon die – von den Neoliberalen beinhart bekämpfte – keynesianisch-wohlfahrtsstaatliche Einschränkung des Kapitalismus eine wesentliche Voraussetzung der individuellen Freiheit und ist der Schlüssel zum Verständnis der auf individuelle Befreiung orientierten Kulturrevolution in den 1960er-Jahren. Freiheit durch Sozialismus bedeutet darüber hinaus frei verfügbare Zeit – durch radikale Arbeitszeitverkürzungen gleichmäßig aufgeteilt zwischen notwendiger produktiver (Erwerbs-)Arbeit und stofflicher Aneignung der Umwelt, Familie und Reproduktionsarbeit, Zeit für die persönliche Weiterentwicklung, Zeit für gesellschaftliches Engagement.

Im sozialistischen Denken ist die Wirtschaftsplanung nun also kein Selbstzweck, sondern vielmehr das Mittel zum Zweck einer breiter zu denkenden Demokratie und der individuellen Freiheit. Sie entspringt nicht ausschließlich ökonomischen Erwägungen, sondern zugleich politischen und sogar kulturellen. Treffend beobachtete dies der österreichische Ökonom Joseph A. Schumpeter, selber kein Freund des Sozialismus, als er 1950 schrieb: «Jeder Sozialist will die Gesellschaft vom wirtschaftlichen Winkel her revolutionieren […].» Das heiße aber nicht, dass den Sozialisten «nichts des Kampfes wert ist außer Beefsteaks und Radios […]. In allererster Linie bedeutet der Sozialismus eine neue kulturelle Welt […]». «[T]he process of socialization», schrieb lange vor Schumpeter Constantin Pecquer, ein Anhänger Saint-Simons, «depends in the last resort, not upon material factors, but upon the moral rebirth of man […]».

Zur Auffassung, dass die Menschheit sich nur auf dem Wege der sozialistischen Wirtschaftsplanung aus ihrer kapitalistischen Unmündigkeit befreit, gehört auch, dass der Sozialismus den Anspruch erhebt, mit der Wirtschaftsplanung ein inhärent krisenhaftes System, dessen Krisen in Barbarei umschlagen, hinter sich zu lassen. Der Sozialismus sei notwendig, so Polanyi, weil «the market system proved unreliable to the point of almost total collapse […]». In diesem Sinne kann auch die Klimakatastrophe als das wohl größte Marktversagen in der Geschichte der Menschheit angesehen werden.

Das Versprechen der geplanten Wirtschaft ist also auch eines einer effizienteren Wirtschaft, die, so Pat Devine in Democracy and Economic Planning, «enables more effective use of society’s resources […]». Planung könne « sicher nicht das Paradies auf Erden herbeizaubern», schreibt Dietmar Dath, «aber sie vermag doch ab einem gewissen Stand der Planungsinstrumente mehr als das Laisser-faire, und nur darauf kommt es an […]».

Tatsächlich sind die inneren Widersprüche des «freien» Kapitalismus auch der Grund, warum der Staat in der Geschichte der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft vor allem in Krisenzeiten immer wieder auf «sozialistische» Wirtschaftsplanung zurückgreifen musste, um den Kapitalismus vor seinen inneren Destruktivkräften und damit auch die Eigentumsordnung und die Klassenprivilegien der Besitzenden zu schützen.

Außerdem sind auch die innerhalb der kapitalistischen Wirtschafts- und Eigentumsordnung erhaltenen, kommodifizierten und dann wieder neu entstehenden Gemeingüter und Infrastrukturen der Bedarfssicherung, die das «Foundational Economy Collective» als «Infrastruktursozialismus» bezeichnet, ein Ausdruck der Existenz des Sozialismus in der realgeschichtlich spezifischen, bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft. Die täglichen Erfahrungen mit diesen öffentlichen Infrastrukturen – Wasser, Strom, Heizung, Transportleistungen, Gesundheit, Bildung, Pflege, soziale Sicherheit – legen schon im Kapitalismus in der breiten Bevölkerung die Erfahrung eines «alltäglichen Kommunismus» (Wolfgang Streeck) an, der damit «Einstiegsprojekte» der «Transformation im Kapitalismus und über ihn hinaus» (Michael Brie) erleichtert.