Hintergrund | Parteien- / Bewegungsgeschichte - Gesellschaftstheorie Sieben Gründe, Lenin nicht den Feinden zu überlassen

Zum 100. Todestag, Januar 2024. Von Michael Brie

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Michael Brie,

Büste von Lenin im Grūtas-Park in Druskininkai, Litauen. In dem Skulpturenpark fanden die in den Stadtzentren abgebauten Statuen einen neuen Standort. Foto: IMAGO / NurPhoto

[…] auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört.

Walter Benjamin (1974: 695)

Die Linke hat Lenins Leichnam den Siegern der Geschichte überlassen – den Stalinisten wie ihren liberalen Gegnern. Die einen mumifizierten ihn als einen Götzen der Anbetung eigener Macht, die anderen verteufelten ihn als Feind von Demokratie und Menschenrechten. Die Neue Linke verstand sich vor allem als antileninistische Linke und zelebrierte den Bruch mit seinem Erbe. Mit dem Absturz der Sowjetunion in den Orkus der Geschichte schien 1991 das letzte Wort über den Begründer dieses Staates gesprochen. Es waren die Führer genau jener Partei, die er gegründet und geformt hatte, die zu den Totengräbern seines Werkes wurden.

Prof. Michael Brie ist Philosoph und Sozialwissenschaftler. Seine Forschungsschwerpunkten sind Theorie und Geschichte des Sozialismus und Kommunismus, sozialökologische Transformation und revolutionäre Realpolitik.

Lenin auch einhundert Jahre nach seinem Tod nicht den Feinden zu überlassen, hat einen einzigen Zweck. Es soll der Linken nützen in Vorbereitung auf jene Stunde der Rettung, in der, wie Walter Benjamin 1940 schrieb, der «feste, scheinbar brutale Zugriff» (Benjamin 1982: 592) auf die Tagesordnung tritt. Es ginge um ein Lernen von Lenin und aus den Folgen seines Handelns. Dazu gehört das Wissen um die Verkehrung von Zweck und Mitteln, um die Bedeutung jener Grenze zur Ahumanität, die Linke nicht überschreiten dürfen um ihrer selbst und ihrer Ziele willen. Denn revolutionäre Tatkraft allein macht, wie Rosa Luxemburg 1918 auch mit Blick auf die russische Revolution schrieb, für sich allein nicht den «wahren Odem des Sozialismus» aus, sondern nur in unauflöslicher Verbindung mit «weitherzigster Menschlichkeit» (Luxemburg 1974: 406). Diese Verbindung wurde von Lenin und in seinem Namen viel zu oft gesprengt. Im Mai 1953 brachte Albert Camus es, vor Arbeiterinnen und Arbeitern in Paris über die Oktoberrevolution und die Sowjetunion sprechend, so auf den Punkt: «Die Revolution der Arbeiter hat 1917 gesiegt, und damals erhob sich wirklich die Morgenröte der echten Freiheit und die gewaltigste Hoffnung, die diese Welt je gekannt hat. Aber diese eingekreiste, von innen wie von außen bedrohte Revolution schuf sich Waffen, eine Polizei. Sie trat das Erbe einer Formel und einer Doktrin an, die ihr die Freiheit unseligerweise verdächtig erscheinen ließen, und so erschöpfte sich ihr Schwung nach und nach, während die Polizei immer stärker wurde, bis die gewaltigste Hoffnung der Welt in der tüchtigsten Diktatur der Welt verknöcherte.» (Camus 1997: 51)

In einer Situation der größten Krise der Menschheit seit dem Zweiten Weltkrieg, in einem Zeitalter des entfesselten Kriegs- und Katastrophenkapitalismus ist die Linke, zumindest in Europa, heute nur noch ein blasser Schatten ihrer selbst. Die Entsorgung Lenins aus dem Gedächtnis der Linken ist Teil dieses historischen Niedergangs. Aber wie kann von Marx gesprochen werden ohne Lenin? Wie von Luxemburg, Gramsci, Che Guevara oder Allende, wenn nicht auch von Lenin?! Wie soll eine Erneuerung der Linken möglich sein, wenn sie einen wichtigen Teil ihres revolutionären Erbes verleugnet?! Was bleibt von Sozialismus überhaupt, wenn Lenin in seiner Geschichte keinen Platz hat?! Sieben Gründe seien genannt, Lenin nicht den Feinden zu überlassen.

Erstens: Lenins Nein zum Krieg

Lenins Aufstieg zu einer geschichtsverändernden Persönlichkeit begann mit seinem entschiedenen Nein zum Ersten Weltkrieg und der Forderung weniger anderer wie Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, den Kampf gegen den Hauptfeind, die herrschende Klasse, zu richten. Dieses Nein war unerschrocken. Lenin zog den Schluss, dass dieser Krieg nur durch einen revolutionären Bürgerkrieg beendet werden könne. Er wollte die Politik der Herrschenden nicht mäßigen, sondern sie bekämpfen. Dieses Nein sah auf das Wesen des Krieges, nicht auf den konkreten Anlass und Auslöser. Die Differenzen und Widersprüche des Ersten Weltkriegs hat Lenin immer unter dem Aspekt betrachtet, welche Bedeutung ihnen mit Bezug auf das Nein zukommt. Er spitzte unbeirrt zu, so lange er hoffen konnte, damit der Revolution den Weg zu bereiten. Dabei ging es auch darum, sich Raum für Kompromisse auf der Basis einer eigenen linken Position des Neins zu sichern. Prinzipialität und Flexibilität schlossen sich für ihn nicht aus, sondern bedingten einander. Dies führte zum Friedensvertrag mit dem kaiserlichen Deutschland und zur Politik der friedlichen Koexistenz nach 1921. Sein Nein maß sich am Nutzen für revolutionäre Politik und konnte jäh zu einem begrenzten Ja zu Reform und Zugeständnissen werden, wenn dies sozialistischer Macht zu dienen schien.

Zweitens: Lenins Dialektik

Die zweite Internationale hatte die Dialektik wie einen toten Hund behandelt. Sie hatte sich der Ideologie des evolutionären Fortschritts ergeben, war unfähig geworden, den Bruch zu denken. Den «allgemeinen Gesetzmäßigkeiten» vertrauend, auf die sie den Marxismus reduzierten, verschloss sie sich der Erkenntnis, dass es darauf ankommt, im einzelnen Ereignis das Potential zum Ausbruch aus dem allgemeinen Gefängnis der Komplizenschaft mit Kapitalismus und Imperialismus zu erkennen. Es war Lenin, der im Briefwechsel von Marx und Engels, der vor dem Ersten Weltkrieg erschienen war, die Quelle für deren revolutionär kommunistisches Herangehen erkannte. Die Verurteilung zu fast völliger Handlungsunfähigkeit in den ersten Monaten des Exils in der Schweiz nutzte Lenin deshalb zum Studium eben dieser Dialektik an seiner Quelle – in Hegels abstraktestem Werk, seiner «Wissenschaft der Logik». Anstelle der Evolution traten für ihn «Sprünge» in den Vordergrund, die unvermutet alles auf den Kopf stellen. Er entdeckte den Revolutionsdenker Hegel für die Linke neu.

Von den vielen Einsichten, die Lenin gewann, nur eine einzige: «Verwandlung des Einzelnen in das Allgemeine, des Zufälligen in das Notwendige, die Übergänge, das Überfließen, den wechselseitigen Zusammenhang der Gegensätze.» (Lenin 1914: 343) Es reicht für eine überzeugende linke Politik eben nicht hin, «im Allgemeinen» recht zu haben, sondern es kommt auch darauf an, sich entschieden für jene einzelne, die Massen im konkreten Augenblick konkret bewegende Frage mit dem Ziel eingreifender linker Politik einzusetzen. Wer hier versagt, hat auch «im Allgemeinen» versagt und wird bedeutungslos.

Die wichtigste Lehre, die Lenin aus seinen Studien zur Dialektik zog, fasste er zusammen, als er die epochale Bedeutung des Osteraufstands in Irland 1916 analysierte: «[…] zu glauben, dass die soziale Revolution denkbar ist ohne Aufstände kleiner Nationen in den Kolonien und in Europa, ohne revolutionäre Ausbrüche eines Teils des Kleinbürgertums mit allen seinen Vorurteilen, ohne die Bewegung unaufgeklärter proletarischer und halbproletarischer Massen gegen das Joch der Gutsbesitzer und der Kirche, gegen die monarchistische, nationale usw. Unterdrückung – das zu glauben heißt der sozialen Revolution entsagen. […] Wer eine ‚reine‘ soziale Revolution erwartet, der wird sie niemals erleben. Der ist nur in Worten ein Revolutionär, der versteht nicht die wirkliche Revolution.» (Lenin 1971: 363, 364)

Es ist eine linke Krankheit, sich nicht auf die realen Widersprüche der realen arbeitenden Klasse in den realen Verhältnisse der imperialen Weltordnung und kapitalistischer Konkurrenz einzulassen. Dieses Einlassen verlangt, sich auch den nationalen, ethnischen, patriarchalen «Vorurteilen» zu stellen, die diese in solchen Verhältnissen entwickeln, um selbst aus dieser «Unreinheit» noch Kraft für linke Politik zu gewinnen. Nur wenn dies gelingt, kann in imperialistischen Zeiten gegen den Sturm angesegelt werden.

Drittens: Lenins Epochenanalyse

Mangelnde oder falsche Zeitdiagnose ist das große Stichwort, dass gegenwärtig immer fällt, um die Schwäche der Linken zu begründen. Dabei ist an solchen Diagnosen wahrlich kein Mangel. Woran es mangelt, sind Zeitdiagnosen, denen strategischen Fragestellungen zugrunde liegen, die zu klaren Schlussfolgerungen für die Strategie der Linken führen. Allzu oft ist die Reinheit der Kritik des Kapitalismus damit verbunden, sich nicht auf die «unreinen» Wirkungen einzulassen, die diese Verhältnisse bei den arbeitenden Klassen hinterlassen. Die Analysen zur Zeit bleiben deshalb steril.

In den wenigen Jahren zwischen Ende 1914 und 1916 legte Lenin nicht nur das Buch «Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus» vor, sondern arbeitete sich zudem erneut in die Agrarfrage ein, weil er im Verhalten der Bauernschaft in einer kommenden Revolution die Schicksalsfrage dieser Revolution sah. Er stellte dem US-amerikanischen Weg kapitalistischer Agrarentwicklung den in Preußen gegenüber, um die möglichen Weichenstellungen zu begreifen, vor denen die Bauernschaft in einer Revolution stehen würde. Und zugleich studierte er die Komplexität der nationalen Frage in Zeiten des Imperialismus, weil er davon ausging, dass eine Revolution nur dann erfolgreich sein kann, wenn sie die Kraft der nationalen Frage in sich aufnimmt und ihr Rechnung trägt, ohne sich ihr zu unterwerfen. Er lenkte seinen Blick also nicht so sehr auf das organisierte Proletariat (dessen revolutionäres Potential schien ihm gegeben), sondern auf die Bauern, die kleinbürgerlichen nationalen Kräfte und die antikolonialen Bewegungen. Er fragte nicht vor allem nach den klassenbedingten Grenzen dieser Kräfte, sondern – fern jedes Sektierertums – nach ihrem gesellschaftsverändernden Potential.

Welches also sind die prägenden Tendenzen der Gegenwart, welche Szenarien sind realistisch, wo sind die Brüche im herrschenden System vor allem zu erwarten, welche Möglichkeiten gibt es, auch aus einer Position der Schwäche heraus starke Bündnisse zu schmieden, um in offenen Situation einzugreifen und was ist dann zu tun – diese Fragen hatte sich Lenin nach 1914 gestellt und war damit wie kein anderer in der Linken auf das revolutionäre Moment von 1917-1919 vorbereitet. Und es sind jene Fragen, die sich auch heute der Linken wieder stellen.

Viertens: Lenins Vision und Sofortprogramm

Mitten im Grauen des Ersten Weltkriegs und den schnellen politischen Veränderungen in Russland nach der Februarrevolution, verfolgt unter dem Verdacht, ein von Deutschland bezahlter Agent zu sein, direkt involviert in die Vorbereitung der Übernahme der politischen Macht durch die Bolschewiki, schrieb Lenin in seinen illegalen Zufluchtsorten in Finnland sein Werk «Staat und Revolution». Er hatte schon vorher sorgfältig alles gesammelt, was er an Aussagen von Marx und Engels über eine zukünftige kommunistische Gesellschaft finden konnte. Es waren diese Hefte, die er wie seinen Augapfel hütete. Es ging ihm um nichts weniger als die Neuentdeckung des Marxschen Kommunismus als Leitorientierung für die Politik nach dem Erfolg der Revolution. In «Staat und Revolution» stoßen unvermittelt einerseits die Vorstellung von unmittelbarer Selbstverwaltung der Gesellschaft durch die bewaffneten Arbeiter von unten, der direkten Übernahme der Leitung der Wirtschaft durch die Arbeiter in den Betrieben und andererseits die Vorstellung der höchsten Zentralisation der Macht in den Händen der Arbeiterklasse aufeinander. Es ist so, als hätten Bakunin und Marx zugleich Lenins Feder geführt. Dies war auch deshalb möglich, weil Marx selbst in seiner Analyse der Pariser Kommune von 1871 viele anarchistische Vorstellungen aufgegriffen hatte und er wie auch Engels zudem davon ausgingen, dass im Zuge der Revolution und ihres Erfolges der Staat absterben würde, da gesellschaftliche und individuelle Interessen immer mehr zusammenfallen würden. Es ist kein Zufall, dass bei Lenin wie schon vorher bei Marx die Vision einer freien Assoziation und die der Organisation der ganzen Gesellschaft als bürokratischer Großbetrieb direkt nebeneinander stehen.

In der gleichen Zeit, in der Lenin an «Staat und Revolution» arbeitete, entwickelte er unter Nutzung der Diskussionen zur Kriegswirtschaft und den gewonnenen Erkenntnissen zu Planung und Steuerung von Wirtschaft durch die Monopole im Bündnis mit dem Staat ein Programm der Stabilisierung Russlands im Sinne eines Staatskapitalismus unter Führung einer revolutionären Regierung. Es war dieses Programm, auf das er 1918 zurückgriff und dem er sich erneut beim Übergang zur Neuen Ökonomischen Politik Ende 1920 zuwandte.

Lenins Visionen waren in sich zutiefst gegensätzlich und sein Sofortprogramm war mit diesen Visionen nicht organisch verbunden. Das öffnete den Weg, geradezu beliebig die härteste Diktatur wie die radikalste Demokratie, die sofortige Abschaffung von Märkten und Recht genauso wie deren Stärkung in den Mittelpunkt zu rücken. Kriegskommunismus wie Staatskapitalismus konnten damit als sozialistische Politik begründet werden. Alles hing nur von den Machtverhältnissen und den politischen Entscheidungen ab. Das war für eine dauerhafte linke Politik deutlich zu beliebig.

Fünftens: Lenins Partei

Spätestens mit der Gründung der Zeitschrift «Iskra» («Der Funke») 1900 stand für Lenin die Frage im Zentrum, eine Partei von Berufsrevolutionären zu schaffen, die in der Lage sein sollte, den Kampf für die ökonomischen Interessen der Arbeiterklasse mit dem politischen Kampf zum Sturz des Zarismus zu verbinden. In seiner Programmschrift «Was tun?» von 1902 heißt es in aller Klarheit: «Gebt uns eine Organisation von Revolutionären, und wir werden Russland aus den Angeln heben!» (Lenin 1902: 483) Diese Orientierung erwuchs unmittelbar aus der eigenen, schamvoll erfahrenen Ohnmacht von Versuchen, die Arbeiterinnen und Arbeiter zu schulen und zu bilden, ohne dabei die Fragmentierung und Trennung des ökonomischen und politischen Kampfes aufheben zu können. Lenin wollte dieser «Handwerkelei», wie er es abfällig nannte, entkommen und entwickelte das Konzept einer «Partei neuen Typus»: «Ohne eine solche Organisation ist das Proletariat nicht fähig, sich zum bewussten Klassenkampf zu erheben, ohne eine solche Organisation ist die Arbeiterbewegung zur Ohnmacht verurteilt, und nur mit Kassen, Zirkeln und Unterstützungsvereinen wird es der Arbeiterklasse nie gelingen, die ihr obliegende große geschichtliche Aufgabe zu erfüllen: sich und das ganze russische Volk von der politischen und ökonomischen Sklaverei zu befreien. Keine einzige Klasse in der Geschichte ist zur Herrschaft gelangt, ohne ihre eigenen politischen Führer, ihre fortschrittlichen Vertreter hervorgebracht zu haben, die fähig waren, die Bewegung zu organisieren und zu leiten.» (Lenin 1955: 369)

Mit welchen Organisationsformen können heute erfolgreiche Kämpfe geführt werden, die die ökologische und soziale Frage in einer radikalen Transformation verbinden, wirtschaftliche Forderungen und langfristigen wirtschaftlichen Umbau zusammenführen, offensive Friedenspolitik bei Wahrung eigener Sicherheit durchsetzen, einen überzeugenden Beitrag zur Durchsetzung der UN-Ziele nachhaltiger globaler Entwicklung leisten? Ohne solche Organisationsformen, dies zumindest ist klar, wird der Katastrophenkapitalismus nicht aus den Angeln gehoben, sondern stürzt ab in offene Barbarei.

Sechstens: Lenins Kampf um die Macht

Gerade in der jetzigen Situation sollte sich die Linke schmerzhaft bewusst sein, was Machtlosigkeit bedeutet. Sie führt zu Zersplitterung und Zerfall und in tiefe Ohnmacht angesichts der immer größer werdenden Gefahren und des möglichen Absturzes in offene Barbarei. Die Macht ist eine Verführung. Aber ohne Macht ist alles nichts als leere Absicht. Clara Zetkin gab 1920 eine Bemerkung von Luxemburg über Lenin aus dem Jahre 1907 wieder: «Schau den da gut an! Das ist Lenin. Sieh den eigenwilligen hartnäckigen Schädel! Ein echt russischer Bauernschädel mit einigen leicht asiatischen Linien. Dieser Schädel hat die Absicht, Mauern umzustoßen. Vielleicht, dass er daran zerschmettert. Nachgeben wird er nie.» (zitiert in Reisberg 1977: 396)

Lenin hat die sozialistische Linke zu nie gekannter Macht geführt. Um sie zu erobern und zu sichern, konnte er erbarmungslos sein und hat alles dieser einen Aufgabe untergeordnet. Zu spät und völlig vergeblich hat er, gezeichnet schon durch seine tödliche Krankheit, versucht, dem Missbrauch dieser Macht durch Stalin vorzubeugen und Gegenkräfte zu installieren. Seine letzten diktierten Worte, sein Testament, legen Zeugnis ab von seinem Scheitern angesichts der Gewalten unkontrollierter Herrschaft, die er mit seinem Kampf um Übernahme der Macht durch die bolschewistische Partei selbst entfacht hatte.

Siebentens: Lenins Versagen ist unser gemeinsames Versagen 

Die Krise der kapitalistischen liberalen Zivilisation ist organisch und allgemein geworden. Und gerade deshalb, um diesen Zustand der Katastrophe in Permanenz zu beenden, ist es Zeit, zurückzublicken und, wie Walter Benjamin sagt, «der Vergangenheit ein Mahl zu rüsten» (Benjamin 1982: 603), um sich der Zukunft hinzuwenden. Lenins ungeheure Wirkungsmacht ist nicht zu trennen von seinem Versagen, ein politisches System aufzubauen, dass der Freiheit der Einzelnen keine Absage erteilt, dass Lernen ermöglicht und dies nicht dem bloßen Kampf um Macht opfert. Lenin hat sich diesem Versagen in seinen letzten Lebensjahren zu stellen versucht. Seine Schriften aus den Jahren 1922 und Anfang 1923, bevor ihm die Sprache versagte, waren neue offene Suchprozesse. Unter Stalin wurden sie im Großen Terror erstickt, bevor sie mit Chruschtschow und später Gorbatschow neu begannen. In der Volksrepublik China hatten sie schon im Bürgerkrieg, aber auch in den 1950er, wie frühen 1960er Jahren nie aufgehört und wurden dann seit 1978 nicht mehr unterbrochen. Es erwies sich, dass eine in den Traditionen von Lenin stehende Staatspartei keinesfalls erneuerungsunfähig sein muss.

Aus der Geschichte können nur diejenigen lernen, die unsere Wegbereiter auf der Suche nach einer emanzipierten Menschheit, zu Tische laden, sie als Genossinnen und Genossen verstehen, um mit ihnen über ihre großen Versuche und auch über ihr Scheitern zu sprechen. Und an diesen Tisch gehört auch Lenin. Wenn wir ihm nicht gerecht werden können, werden wir keine Zukunft haben.

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Wenn es richtig ist, dass die herrschenden Klassen in Europa und den USA immer weniger in der Lage sind, die jetzige Politik durchzuführen, wenn sich Ereignisse mit katastrophischen Folgen häufen, wenn sich das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Handlungsfähigkeit der herrschenden Klassen und die Institutionen der bürgerlich-kapitalistischen Wirtschaft und Demokratie erschöpft, wenn der Zeitgeist aufhört, Geist der Herrschenden zu sein, dann schlägt die Stunde des «festen, scheinbar brutalen Zugriffs», den Walter Benjamin forderte und zu dem Lenin wie wenige andere linke Politiker in der Lage war. Wie schon vor 1933 steht in einer solchen Fundamentalkrise der liberalen Zivilisation die Frage Faschismus oder Sozialismus im Raum. Karl Polanyi schrieb dazu 1934: «Der Faschismus stellte jene Form der revolutionären Lösung [dieser Krise der liberalen Zivilisation – M.B.] dar, die den Kapitalismus unberührt lässt. […] Offensichtlich gibt es auch eine andere Lösung. Sie bedeutet den Erhalt der Demokratie und die Überwindung des Kapitalismus. Das ist die sozialistische Lösung.» (Polanyi 2005: 236) Dazu aber muss Sozialismus geistig, politisch, organisatorisch neu begründet werden. Dies ist unmöglich, wenn die bisherige Geschichte und Lenins Erbe in diesem neuen Sozialismus nicht aufgehoben wird.

Der bulgarische Partisan, Kommunist und Romancier Angel Wagenstein hat in der Zeit des Zusammenbruchs des bulgarischen staatssozialistischen Systems seiner Partei das Folgende ins Stammbuch geschrieben: «Ich glaube, dass der Sozialismus ein menschliches Projekt ist, ein menschliches Projekt, das fundamentalste Projekt der Weltzivilisation nach dem Christentum. […] Wir werden sehen, wie es weitergeht. Jesus Christus hat es nie gewusst – er war ja kein Christ –, wie es weitergeht mit dem Christentum im 3. Jahrhundert oder im ziemlich dunklen Mittelalter. Die Inquisition war der Gulag des Christentums. Das Christentum hatte auch seinen Gulag, mehrere Gulags sogar. Ich bin kein Prophet in Sachen Sozialismus. Ich weiß nur, dass es keinen anderen Weg für die Menschheit gibt. Es gibt keinen anderen Ausweg.» (zitiert in Vollmer/Wenzel 2019: 449) Aber ob und wie sich dieser Ausweg erfüllt, wird auch vom Verhältnis der Linken zu Lenin und seinem Erbe abhängen.

Literatur

Benjamin, Walter (1974): Über den Begriff der Geschichte. In: Gesammelte Schriften, Bd. I. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 691–704.

Benjamin, Walter (1982): [Erkenntnistheoretisches, Theorien des Fortschritts]. In: Das Passagen-Werk. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 570–611.

Camus, Albert (1997): Brot und Freiheit. Ansprache avom 10. Mai 1953 an der Arbeitsbörse von St-Etienne. In: Verteidigung der Freiheit: Politische Essays. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch, 47–56.

Lenin, Vladimir I. (1914): Zur Frage der Dialektik. In: Werke, Bd. 38: Philosophische Hefte. Berlin: Dietz Berlin, 338–344.

Lenin, Wladimir I. (1902): Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung. In: Werke. Bd. 5. Berlin: Dietz, 355–549.

Lenin, Wladimir I. (1955): Die dringendsten Aufgaben unserer Bewegung (1900). In: Werke, Bd. 4. Berlin: Dietz Berlin, 365–370.

Lenin, Wladimir I. (1971): Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung. In: Werke, Bd. 22. Berlin: Dietz Berlin, 326–368.

Luxemburg, Rosa (1974): Eine Ehrenpflicht (1918). In: Gesammelte Werke, vol. 4. Berlin: Karl Dietz Verlag, 404–406.

Polanyi, Karl (2005): Faschismus und Marxistische Terminologie [1934]. In: Cangiani, Michele/Polanyi-Levitt, Kari/Thomasberger, Claus (Hrsg.), Chronik der großen Transformation: Artikel und Aufsätze (1920-1945). Bd. 3: Menschliche Freiheit, politische Demokratie und die Auseinandersetzung zwischen Sozialismus und Faschismus. Marburg, 233–244.

Reisberg, Arnold (1977): Lenin - Dokumente seines Lebens 1870 - 1924. Band 1. Leipzig: Reclam Leipzig.

Vollmer, Antje/Wenzel, Hans-Eckardt (2019): Konrad Wolf. Chronist im Jahrhundert der Extreme. Berlin: Die Andere Bibliothek.