Trotz der «Beethovenschen Musik», eine Feierstimmung – so erinnerte sich Carlo Schmid – wollte nicht so recht aufkommen im großen Saal des Zoologischen Museums in Bonn. Am 1. September 1948 versammelten sich dort Abgeordnete der Länderparlamente der westlichen Trizone, deren Ministerpräsidenten, Vertreter der alliierten Militärregierungen, Repräsentanten von Kirche, Wirtschaft und Kultur, sowie Medien aus dem In- und Ausland zu einem historischen Staatsakt. Carlo Schmid war seinerzeit Vorsitzender der SPD-Fraktion und einer der 65 Abgeordneten, die von den Ländern der Trizone in einen «Parlamentarischen Rat» gewählt worden sind. Sie sollten in den nächsten Monaten das Grundgesetz erarbeiten.
Sabine Nuss ist Politikwissenschaftlerin und Journalistin. Sie beschäftigt sich insbesondere mit Fragen von Eigentum in kapitalistischen Verhältnissen.
Das war aber nicht der Grund für die von Schmid wahrgenommene wenig feierliche Feststimmung, auch nicht, dass nur drei Jahre nach der Befreiung Deutschlands vom Faschismus die Sehnsucht nach Wiederherstellung von nationaler Identität und Staatlichkeit offensichtlich ungebrochen groß war, und auch nicht, dass aus Sicht der sowjetischen Militäradministration dieser trizonale Akt einer Verfestigung der Spaltung Deutschlands gleichkommen würde. Vielmehr befremdete Schmid, dass die Festgemeinde «rings umgeben (war) von ausgestopftem Getier aus aller Welt.» Bären, Schimpansen, Gorillas «und andere Exemplare exotischer Tierwelt», unter denen sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Staatsakts ein wenig verloren vorkamen: «Wohl kaum hat je ein Staatsakt, der eine neue Phase der Geschichte eines großen Volkes einleiten sollte, in so skurriler Umgebung stattgefunden.» Ob «großes Volk» sei dahingestellt, aber was sollte man von einem Zoologischen Museum anderes erwarten, wenn nicht ausgestopfte Tiere?[1]
Den Lichthof – im Stil der Renaissance von meterhohen Sandsteinsäulen umsäumt, die über schmuckvolle Ballustraden in gewundene Bögen mündeten – wählte man, weil aufgrund der Kriegsschäden kein anderer repräsentativer Ort zur Verfügung stand. In der Ecke des Lichthofs stand eine Giraffe, den Kopf würdevoll in den Himmel gestreckt. Die damalige Presse witzelte, das hohe Tier habe den «hohen Tieren» über die Schulter geschaut. Andere Kommentatoren des Zeitgeschehens sprechen von Legendenbildung. Defakto habe man die Exponate seinerzeit eigens für diesen Staatsakt weggestellt und die Giraffe mit Tüchern zugehängt, weil sie zu groß gewesen sei, zum wegtragen. Jahre später, bei Jahresfeiern zum Gedenken des Grundgesetzes in besagtem Lichthof, kann man die Giraffe auf Bildern deutlich sehen. Unverhüllt. Es handelt sich bei der Legendenbildung offensichtlich um eine Rückprojektion.
Carlo Schmid haben wir nicht nur die Überlieferung dieser subjektiv getrübten Anekdote zu verdanken. Er steht auch in besonderer Weise für einen Artikel im Grundgesetz, der bis vor kurzem ebenso in Vergessenheit geraten war, wie die Tatsache, dass man die Giraffe im Lichthof des Zoologischen Museums mit Tüchern verhüllt hatte. Es handelt sich dabei um Artikel 15. Er ist überschrieben mit nur einem Wort: «Vergesellschaftung» – und er legt Bahnbrechendes fest:
«Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden. Für die Entschädigung gilt Artikel 14 Abs. 3 Satz 3 und 4 entsprechend.»
Nicht Enteignung, sondern: Vergesellschaftung
Diese Norm ist, seit das Grundgesetz am 23. Mai 1949 verabschiedet wurde, nicht ein einziges Mal zur Umsetzung gekommen. Die Berliner Kampagne «Deutsche Wohnen & Co enteignen», die als Protestbewegung gegen die in den letzten Jahren horrend steigenden Mieten in der Metropole entstand, hat Artikel 15 sieben Jahrzehnte nach der Feier in Bonn aus dem Dornröschenschlaf geweckt. Wobei «Enteignung» zwar im Titel besagter Kampagne steht, was sie für sich aber als juristischen Hebel entdeckt hatte, ist nicht die in Artikel 14 Absatz 3 GG festgeschriebene Enteignung, sondern: Vergesellschaftung. Artikel 15 ermöglicht nichts Geringeres, als die Befreiung von Produktionsmitteln, Boden und Naturschätzen aus ihrer privatnützigen, auf Gewinnmaximierung orientierten Verfügungsweise mit dem Zweck, sie einer gemeinnützigen, am Wohl Aller orientierten Verfügungsweise zu unterstellen. Aus einer emanzipatorischen kapitalismuskritischen Perspektive ist diese Verfassungsnorm progressiver als die Enteignungsnorm. Eine Enteignung sagt nichts darüber aus, wie mit dem enteigneten Gut umgegangen wird, ob dies privat- oder gemeinnützig geschieht. «Bahnbrechend» ist Artikel 15 daher deshalb, weil die Verfügungsgewalt einen neuen Zweck erhält, einen, der jenseits der herrschenden kapitalistischen Handlungslogik liegt. Bahnbrechend erscheint Artikel 15 allerdings nur aus heutiger Sicht. Nach vier Jahrzehnten Verfestigung neoliberaler Ideologie, wonach «der» Markt und eine privatnützige, gewinnorientierte Produktionsweise die Probleme der Gegenwart besser zu lösen imstande seien als jede staatliche oder andere gemeinnützige Form der Verfügung über Güter.
Allerdings: Kaum jemand kann heute mit dem sperrigen Begriff «Vergesellschaftung» irgendetwas anfangen, vom Begriff der «Produktionsmittel» ganz zu schweigen. Artikel 15 atmet in der Tat noch den Geist der aufkommenden Industrialisierung und der damit erstarkenden Arbeiter*innenbewegung. Die Wurzeln von Artikel 15 liegen in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Mit der Novemberrevolution wurde Vergesellschaftung (oder die häufig synonym verwendete «Sozialisierung») zur Kernforderung der Arbeiter*innenbewegung. Man versprach sich davon vor allem eine Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiterklasse – und erinnert sei in diesem Zusammenhang daran, dass die Arbeiter*innenbewegung nie allein für die Demokratie in der politischen Sphäre gekämpft hatte, sondern auch für Demokratie in der Sphäre der Wirtschaft. Ein Aspekt, der regelmäßig untergeht bei offiziellen Demokratiefeiern und entsprechenden Gedenktagen.
Die Streiks für Vergesellschaftung, die Versuche, die Forderung Realität werden zu lassen, spitzten sich nach dem Ersten Weltkrieg zu. Man rief Sozialisierungskommissionen ins Leben, die eruieren sollten, was Sozialisierung genau bedeutet, bzw. welche Teile der Wirtschaft wie sozialisiert werden sollten. Namhafte Experten wie die Nationalökonomen Joseph Schumpeter und Rudolf Hilferding waren Mitglieder dieser Kommissionen. Leiter der ersten Kommission war Karl Kautsky, einer der wichtigsten marxistischen Theoretiker jener Zeit. Sozialisierung fand schließlich mit Artikel 156 Eingang in die Weimarer Reichsverfassung.
Die Verabschiedung der Weimarer Verfassung lag nur 30 Jahre zurück, als das Bonner Grundgesetz in Kraft trat. Es gab eine Kontinuität der Sozialisierungsidee. Sie hat den Faschismus nicht nur überlebt, im Gegenteil, die Kollaboration der Konzerne mit dem NS-Regime hat sie nach dem Weltkrieg eher befördert. Kapitalismus war diskreditiert. Zumindest für eine kurze Zeit.
Die Kontinuität im Sinne einer selbstverständlichen Vertrautheit mit der Vergesellschaftungs- oder Sozialisierungsidee machte sich auch personell fest. Jeder dritte Abgeordnete des Parlamentarischen Rats war über 60 Jahre alt, einige von ihnen hatten bereits vor 1933 in deutschen Parlamenten gesessen und gar drei Abgeordnete waren bereits Mitglieder der Weimarer Nationalversammlung 1919 gewesen.[2] Es überrascht wenig, dass im Jahre 1948/49 der Artikel ohne große Auseinandersetzungen in die Verfassung aufgenommen wurde. Auch die CDU trat dafür ein. Allein die rechtsnationale Deutsche Partei (DP) wollte Artikel 15 streichen, was im Hauptausschuss des Parlamentarischen Rats mit 13 gegen drei Stimmen abgelehnt wurde. Die FDP stellte den Antrag, dass Artikel 15 nur für den Bund gelten solle. Dieser Antrag wurde mit neun gegen acht Stimmen ebenfalls abgelehnt.
Ein gewichtiger Grund, der zur weitgehend konsensualen Aufnahme von Artikel 15 in das Grundgesetz führte, bestand sicher auch darin, dass es zu keinem Zeitpunkt eine klare und von allen geteilte Vorstellung davon gab, was genau eigentlich Sozialisierung oder Vergesellschaftung bedeute. Erwin Weissel, der die Sozialisierungsdebatten Österreichs im Vergleich mit Deutschland analysierte, kommt für die frühe Sozialisierungsdebatte zu dem Schluss, dass man kein Konzept hatte, «weil man zu viele Konzepte hatte».[3] Felix Weil, Nationalökonom sowie Mäzen und Mitgründer des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt am Main, klagte in den 1920er-Jahren ebenso: »Die wissenschaftliche Diskussion über Sozialisierung leidet darunter, dass man über ein Wort diskutiert, ohne sich so recht darüber klar zu sein, dass dieses Wort die verschiedensten Bedeutungen hat.« Sozialisierung sei zwar Kern der innenpolitischen Kämpfe, aber die Verwirrung über die richtige Auslegung des Wortes sei grenzenlos.[4]
Nicht nur demokratischer, sonder auch sozialer Rechtsstaat
Die Diffusität des Begriffs prädestinierte ihn zur Projektionsfläche für alle möglichen, eben auch auseinanderstrebenden Interpretationen. So ging es der Sozialdemokratie nach 1919 mit der Sozialisierung oder bei Vergesellschaftung auch zu keinem Zeitpunkt um eine grundsätzliche Umgestaltung der Wirtschaftsordnung. Stets habe die SPD eine mittelständisch geprägte Wirtschaft unter Beibehaltung des Privateigentums favorisiert – so der Verfassungsrechtler Martin Lars Brückner in seinen Recherchen zur Geschichte des Artikels 15 – mit Ausnahme von Schlüsselindustrien, für die sie eine Vergesellschaftung angestrebt habe.[5] Die Motive für Sozialisierung hätten sich eher aus antimonopolistischen Haltungen gespeist und damit letztlich dem Schutz der Privatwirtschaft gedient.
Wie auch immer man diese Schlussfolgerung wertet, mit seiner breiten Auslegbarkeit lässt sich die Möglichkeit zur Vergesellschaftung nach Artikel 15 durchaus so lesen, dass die Verfassung wirtschaftsoffen ist. Das Bundesverfassungsgericht bestätigte dies in einem Urteil zum Investitionshilfegesetz von 1954, »zum ersten, nicht zum letzten Mal«, dass ein bestimmtes Wirtschaftssystem durch das Grundgesetz nicht gewährleistet sei.[6] Ob das Grundgesetz gegenüber einer spezifischen Wirtschaftsform offen ist oder am Ende doch eine kapitalistische Marktwirtschaft festschreibt, ist heute allerdings umstritten. Man findet dazu in der verfassungsrechtlichen Literatur gegenteilige Auslegungen. Man sieht daran: Recht ist keine objektiv für immer in Stein gegossene Kategorie, sondern stets Ergebnis gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse und historisch sich wandelndem Kontext. Im Verbund mit den Grundrechten, dass die Würde des Menschen unantastbar sei (Artikel 1) und der Staat nicht nur demokratisch, sondern auch sozial sein müsse (Artikel 20), wäre insofern eine Transformation in eine demokratische, emanzipatorische postkapitalistische Gesellschaft verfassungsrechtlich gedeckt. Vergesellschaftung dürfte hierbei zwar nicht hinreichend notwendig sein, könnte aber dazu durchauseine gewichtige Rolle spielen. Auch der Marburger Staatsrechtler Wolfgang Abendroth verteidigte seinerzeit die Vorstellung, dass der im GG begründete Rechtsstaat nicht nur ein demokratischer, sondern ein »sozialer« sein müsse (Sozialstaatsprinzip). Zu dem, was »sozial« umfassen sollte, zählte auch er die demokratischen Möglichkeiten der Sozialisierung.
Nicht zuletzt war es Carlo Schmid, der im Rahmen seiner Arbeit im Parlamentarischen Rat nicht nur einmal verdeutlichte, dass die Systematik von Artikel 15 im Grundgesetz von dem Gedanken getragen sei, dass die Überführung in Gemeineigentum – Sozialisierung oder ähnliche Maßnahmen – «nicht als Sonderfall der Individualenteignung zu gelten hat, sondern als etwas anderes, nämlich als strukturelle Umwandlung der Wirtschaftsverfassung.»[7] Das ist, was man heutzutage, in den aktuellen Debatten um Enteignung, oft vergisst: Vergesellschaftung ist kein Sonderfall von Enteignung. Es ist eine grundsätzlich andere Norm. Eine, an deren Entstehung sich zu erinnern lohnt, denn was seine genaue Bedeutung und Ausgestaltung angeht, ist noch immer offen.
[1] Carlo Schmid: Erinnerungen. Bern 1979, S. 357.
[2] Michael F. Feldkamp: Der Parlamentarische Rat 1948-1949. Die Entstehung des Grundgesetzes, Göttingen 2019, S. 47.
[3] Erwin Weissel: Die Ohnmacht des Sieges. Arbeiterschaft und Sozialisierung nach dem ersten Weltkrieg, Wien 1976, S. 118 f.
[4] Felix Weil: Sozialisierung. Versuch einer begrifflichen Grundierung nebst einer Kritik der Sozialisierungspläne, in: Praktischer Sozialismus. Eine Schriftenreihe hrsg. von Karl Korsch, Nr. 7, Jena 1921, S. 7.
[5] Martin Lars Brückner: Sozialisierung in Deutschland. Verfassungsgeschichtliche Entwicklung und ihre Hintergründe, München 2013, S. 218.
[6] Werner Abelshauser: Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, Bonn 2005, S. 186 f. Abelshauser zufolge wurde eine Wirtschaftsverfassung deshalb nicht festgeschrieben, damit jede Partei hoffen konnte, am Ende in der politischen Praxis, im Parlament, ihre jeweiligen Präferenzen durchsetzen zu können. Zumal das Grundgesetz in jener Zeit mit Blick auf die Sowjetische Besatzungszone noch den Charakter der Vorläufigkeit trug.
[7] Protokolle des Parlamentarischen Rats, Nr. 9, Achte Sitzung 7. Oktober 1948, S. 214.