Nachricht | Parteien / Wahlanalysen - Portal International - Westeuropa Überraschung bei den Wahlen in Frankreich

Der Erfolg der Neuen Volksfront zeigt: Eine vereinte Linke ist die beste Option gegen eine erstarkende Rechte

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Jean-Luc Mélenchon spricht auf der Place de la Bataille-de-Stalingrad in Paris nach dem Sieg der NFP bei den französischen Parlamentswahlen, 07.07.2024. Foto: IMAGO / Starface

Am Sonntagabend, dem 7. Juli 2024, füllte sich der Place de la République wieder einmal mit einer kompakten Menschenmenge, doch diesmal waren es Freude und Siegesrufe, die die Pariser Versammlung unmittelbar nach der Bekanntgabe der Ergebnisse beherrschten.

Mit 183 gewonnenen Sitzen ist das neue Linksbündnis Neue Volksfront/Nouveau Front Populaire (NFP) nach Anzahl der gewonnenen Sitze in der französischen Nationalversammlung die stärkste Fraktion. Wenn man die 13 gewählten Abgeordneten von Divers Gauche (Diverse Linke, parteilos) hinzurechnet, kommt der Linksblock auf 196 Abgeordnete im Parlament.

Nessim Achouche arbeitet als Projektmanager im Brüsseler Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit den Schwerpunkten sozialökologische Transformation, Energiedemokratie und Klimagerechtigkeit.

Zweitstärkste Fraktion wird die Präsidentschaftsmehrheit Ensemble von Emmanuel Macron, die 163 Abgeordnete stellt. Der extrem rechte Rassemblement National (RN), angeführt von Marine Le Pen und Jordan Bardella, wird mit 143 Abgeordnete vertreten sein und belegte damit den dritten Platz vor dem rechten bürgerlichen Lagen mit 66 Abgeordnete von Les Républicains (LR) und Divers Droite (Diverse Rechte, parteilos).

Der Jubel und Siegestaumel waren umso größer, weil das Ergebnis die Umfragewerte übertraf, die in den letzten drei Wochen der Rassemblement National in Bezug auf die Anzahl der Sitze immer weit vorne sahen – manchmal sogar mit einer absoluten Mehrheit. In der Tat müssen diese Wahlen im Vergleich zu den beiden letzten Wahlgängen der Europawahlen und der ersten Runde der Parlamentswahlen analysiert werden. Mit über 31 Prozent der Stimmen am 9. Juni 2024 und 33,3 Prozent der Stimmen vor einer Woche lagen die extrem rechten Kräfte jeweils weit vorne. Der Widerstand, den die Neue Volksfront RN entgegenzusetzen wusste, um am Sonntagabend zu gewinnen, kann also nicht hoch genug geschätzt werden.

Das Zentrum

Im Vergleich zu den letzten Parlamentswahlen 2022 lassen sich zwei Phänomene beobachten:  Macrons präsidiales Lager fällt von 245 Sitzen und acht Millionen Wähler*innenstimmen auf 163 Sitze und 6,5 Millionen Stimmen. Währenddessen erhöht der Rassemblement National seine Sitze von 89 auf 143 und kann den Stimmenanteil von 3,5 Millionen Stimmen auf zehn Millionen Stimmen vervielfachen. Das politische Lager des aktuellen französischen Präsidenten wird auf lange Sicht zerfallen, wohingegen der Rassemblement National trotz der Niederlage stark zulegt.

Die linken Kräfte können einen leichten Zuwachs gegenüber 2022 verzeichnen. Das vor zwei Jahren angetretene Linkebündnis NUPES (Nouvelle union populaire écologique et sociale - Neue ökologische und soziale Volksunion), dass 2022 sich nicht auf eine gemeinsame Fraktion einigen konnte, und nun als kollektives Wahlbündnis der führenden linken politischen Parteien in der Neuen Volksfront zusammengefunden hat, konnte die Gesamtzahl der Wähler*innen leicht steigern und die Anzahl der Abgeordneten ist von 157 auf 183 Sitze gestiegen.

Wenn man NUPES und die NFP miteinander vergleicht, ist erkennbar, dass alle Parteien innerhalb des jeweiligen Bündnisses zulegen. La France Insoumise (LFI - Unbeugsames Frankreich) bleibt mit rund 80 Abgeordneten die Mehrheitsfraktion, während die Sozialisten ihre Stimmenzahl auf 61 Abgeordnete mehr als verdoppeln konnten. Die Grünen verbesserten sich von 23 auf 32 Parlamentarier*innen, während die Kommunistische Partei Frankreichs (PCF) als einzige Partei in der Fraktion weniger Abgeordnete stellt.

Zwar ist die NFP noch weit von einer absoluten Mehrheit entfernt, doch muss man bedenken, dass das Prinzip der parlamentarischen Bündnisse und Koalitionen der Arbeitsweise des französischen Parlaments eher fremd ist.

Die Niederlage der extremen Rechten, die noch vor drei Wochen während der Europawahlen und beim ersten Wahlgang der Parlamentswahlen stärkste politische Kraft wurde, macht eines deutlich: Wenn die Linke mehr ist als die einfache Addition ihrer Strömungen und sich gemeinsam hinter einem Programm des Aufbruchs vereint, kann sie wirkmächtig werden und die politischen Verhältnisse verändern.

Zu weiteren Faktoren, die die überraschenden Wahlergebnisse erklären können, gehört wie im ersten Wahlgang die anhaltend hohe Wahlbeteiligung (66,3 Prozent), von der offenbar ein Teil der Linken profitiert hat. Weiterhin kann das Aufrechterhalten bzw. die Wiederbelebung der republikanischen Brandmauer als Argument angeführt werden: wie bereits am Ende des ersten Wahlgangs angekündigt, haben sich die Kandidat*innen des Nouvel Front Populaire, die im zweiten Wahlgang an dritter Stelle standen und eigentlich in einer Stichwahl zwischen drei Parteien hätten antreten sollen, zurückgezogen, um jeweils Kandidat*innen des bürgerlichen Lagers zu stärken und Kandidat*innen des Rassemblement National zu blockieren. Die bewusste Entscheidung, die Brandmauer zu respektieren, erklärt auch das Überleben des präsidialen  Wahlbündnisses Ensemble als drittem, wenn auch weitgehend geschrumpftem politischen Blocks.

Die Anwendung der Wahlempfehlung wurde durch die Kandidierenden des NFP sowie ihren Wähler*innen durchaus  respektiert. Jedoch waren die Stimmenübertragungen seitens des Macronlagers (weniger als 50 Prozent) viel geringer als die der Linken (72 Prozent): das Zaudern und Zögern der bürgerlichen Kräfte und insbesondere der offensichtliche Widerspruch zwischen Premierminister Attal, der dazu aufrief, eine Blockade gegen den RN zu errichten, und Macron, der versuchte, die LFI in seinem Aufruf zur republikanischen Front vom Rest zu trennen, müssen für diese geringe Wählerwanderung verantwortlich gemacht werden.

Auf neuem Terrain

Die Frage nach der Form der künftigen Nationalversammlung bleibt offen und damit auch die Frage nach der Zukunft der Neuen Volksfront. Zwar ist die NFP noch weit von einer absoluten Mehrheit entfernt, doch muss man bedenken, dass das Prinzip der parlamentarischen Bündnisse und Koalitionen der Arbeitsweise des französischen Parlaments eher fremd ist. Dies ändert jedoch nichts daran, dass viele politische Kommentator*innen und relevante Akteure nach dem ersten Wahlgang von der Notwendigkeit einer «großen» oder «sehr großen» Koalition sprechen, die für viele von der NFP bis zu Macrons Mehrheit reichen könnte, für manche sogar bis zum Rest der bürgerlichen Rechten.

Diese Möglichkeit, die La France Insoumise stets abgelehnt hat, scheint auch von den wichtigsten Kräften der NFP ausgeschlossen worden zu sein, wenn man den Erklärungen der Vorsitzenden der Ecologistes (Marine Tondelier) und der Parti Socialiste (Olivier Faure) unmittelbar nach den Ergebnissen Glauben schenkt. Diese betonten ebenso wie Jean-Luc Mélenchon den Sieg der NFP und die Notwendigkeit für Macron, diesen anzuerkennen, indem er einen Premierminister oder eine Premierministerin aus seinen Reihen ernennt.  Das könnte dem Wahlbündnis der Neuen Volksfront ermöglichen, einige der wichtigsten Maßnahmen seines Programms umzusetzen, wie zum Beispiel die Abschaffung der Rente mit 64 Jahren oder die Erhöhung des Mindestlohns auf 1800 Euro. Jedoch könnte eine neue linke Regierung fragil bleiben, wenn Ensemble und die extreme Rechte sich auf einen Misstrauensantrag einigen würden, der den Sturz des Premierministers zur Folge haben würde.

Da eine Mehrheit, die von Ensemble bis zur LR reicht, nicht tragfähig erscheint, könnte es zu einer Zeit der Ungewissheit und sogar der parlamentarischen Instabilität kommen. La France Insoumise rief seine Unterstützer*innen im Rahmen der Neuen Volksfront unterdessen dazu auf, den sozialen Druck durch die Gewerkschaften und eine breitere zivilgesellschaftliche Bewegung aufrechtzuerhalten, um die gemeinsamen Forderungen durchzusetzen, die Neudefinition der zentralen politischen Herausforderungen des politischen Moments zu etablieren und zu einer Phase der sozialen Transformation durch die Neue Volksfront überzugehen.