«Gas, Wasser, Scheiße» – am 17. März 1981 machte sich der Lübecker Comic-Zeichner Rötger Feldmann ein besonderes Geburtstagsgeschenk und publizierte den ersten Band seiner «Werner-Comics» über die Abenteuer der Heizungsinstallateur-Arbeiter von der «Firma Röhrich». Zum Catchphrase von Firmenchef Walter Röhrich wurde der Satz: «Eckart, kannste mal in den Keller gucken? Ich glaub, die Russen sind da.»
Ingar Solty ist Referent für Friedens- und Sicherheitspolitik bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Fellow des Instituts für kritische Theorie e. V. und Redakteur bei der Zeitschrift LuXemburg.
Die Werner-Comics erschienen auf dem Höhepunkt des «Zweiten Kalten Kriegs» und der Friedensbewegung in beiden deutschen Staaten. Am 10. Oktober 1981 demonstrierten rund 300.000 Menschen im Bonner Hofgarten gegen die Stationierung von atomaren Mittelstreckenraketen in Westdeutschland. Zentrale Sprecher waren Sozialdemokraten wie Erhard Eppler und Heinrich Albertz, die Ur-Grünen Petra Kelly und General Gert Bastian sowie FDP-Politiker wie William Borm. Damals war sich ein großer Teil der Bevölkerung der realen Gefahr einer atomaren Eskalation und eines Dritten Weltkriegs zwischen der von den USA geführten NATO und den von der Sowjetunion geführten Ostblockstaaten bewusst. Man wusste auch, dass Raketenstationierung und strategische Pläne der Supermächte im Falle eines solchen Weltenbrands Zentraleuropa zu ground zero von atomaren Erst- und Vergeltungsschlägen machen würde. Den «Krefelder Appell», der sich gegen die Stationierung der Atomraketen in Deutschland und gegen das atomare Wettrüsten richtete, unterzeichneten bis 1983 mehr als vier Millionen Bürger*innen der Bundesrepublik. Heute jedoch winkt die Regierung aus SPD, Grünen und FDP die Stationierung quasi derselben US-Raketen ohne breite gesellschaftliche Debatte in der Sommerpause durch.
Walter Röhrich war von Feldmann nicht als Identifikationsfigur gedacht, sondern als satirische Darstellung eines bestimmten Menschentyps. Er verkörpert nicht nur den dauerpeniblen, dauerargwöhnischen und dauercholerischen Chef, dem sich die Arbeiter Werner und Eckart zu entziehen suchen. Er ist zugleich auch offensichtlich kriegstraumatisiert. Eine Explosion auf der Baustelle ruft die Kriegstraumata wach und führt zur Frage nach «dem Iwan» auf dem eigenen Grundstück.
Vom Pazifismus zu neuer Kriegsrhetorik
Seit dem 24. Februar 2022, dem Beginn des völkerrechtswidrigen Kriegs Russlands in der Ukraine, klingt indes fast die gesamte Bundespolitik und Medienöffentlichkeit wie Walter Röhrich. Dies ist Teil einer inneren Zeitenwende. Nicht nur Konservative und Freidemokraten, sondern vor allem die Anhänger*innen der Grünen und zumeist auch mehr als die Hälfte der SPD-Anhänger*innen haben unter dem Eindruck eines stark verengten Meinungsspektrums und aus dem Wunsch, mit dem überfallenen Land solidarisch zu sein, geschlussfolgert, dass die Lieferung von Waffen in ein Kriegsgebiet das Gebot der Stunde sei, selbst wenn die Grünen im Bundestagswahlkampf damit geworben hatten, «Waffenlieferungen in Kriegs- und Krisengebiete» auszuschließen. Manche, wie der CDU-Oppositionsführer und wahrscheinliche Kanzlerkandidat von CDU/CSU für die Bundestagswahl 2025, Friedrich Merz, gingen schon unmittelbar nach Kriegsbeginn so weit zu sagen, dass der direkte Einsatz von NATO-Truppen in der Ukraine und gegen die Atommacht Russland kein Tabu sein dürfe – auch wenn das zwangsläufig einen direkten Krieg zwischen Atommächten bedeuten würde. Bürgerliche Liberale – von der CDU und FDP bis zu den Grünen – sind auch davon überzeugt oder behaupten stets, dass «die Ukraine» heute die westliche Freiheit und «unsere Werte» verteidige. Mehr noch: Sie sind davon überzeugt, dass Russland – wohlgemerkt ein Land mit der ökonomischen Kraft Italiens und etwa einem Fünfzehntel der militärischen Potenz der NATO – demnächst NATO-Staaten angreifen werde, sollte Russland in der Ukraine nicht mithilfe westlicher Waffenlieferungen zum Rückzug aus den ukrainischen Gebieten und der 2014 annektierten Krim gezwungen werden.
Der autoritär regierende russische Staatschef Wladimir Putin wird von Liberalen gerne mit Hitler verglichen. Putin führe in der Ukraine einen völkermörderischen «Vernichtungskrieg», schrieb Berthold Kohler von der FAZ schon in den ersten Kriegstagen und stellte damit in einer an das Geschichtsbild der NPD erinnernden, relativierenden Weise den «Vernichtungskrieg» der Nazis in der Ukraine, Belarus, Russland und im Baltikum, aus dem der Holocaust entstand, gleich. Die Staatsräson erfordert, dass der genozidale oder zumindest verbrecherische Charakter des russischen Kriegs, der auf die Auslöschung der Ukraine als Staat abziele, nicht infrage gestellt werden darf. Hierzu hat die Ampel-Koalition auch im Herbst 2022 entsprechende Strafrechtsverschärfungen gegen die Relativierung von Völkermord beschlossen. Zugleich ist eine Diskussion darüber, ob die rechtsextreme Regierung Israels in Gaza – wo in wenigen Wochen im Vergleich zu zweieinhalb Jahren Krieg in der Ukraine ein Vielfaches an Ziviltoten zu beklagen gewesen ist – Kriegsverbrechen und womöglich einen Genozid an der palästinensischen Bevölkerung begeht, tabuisiert. Tatsächlich wird die Kritik am Vorgehen des israelischen Staates mit ähnlichen Mitteln der autoritären Strafverfolgung geahndet, zu denen neben der Einschränkung von Freiheitsrechten, wie der Versammlungs-, Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit, auch die Vorschläge aus der SPD und von FDP-Bundesjustizminister Marco Buschmann gehören, Menschen, die sich nicht zum israelischen Staat bekennen, noch zehn Jahre nachträglich die deutsche Staatsbürgerschaft abzuerkennen, das heißt sie faktisch auszubürgern.
Dabei unterstellen Regierung und konservative Opposition Russland noch weitergehende Eroberungspläne. Selbst Boris Pistorius, ein sozialdemokratischer Verteidigungsminister, hat die Argumentation des Chefs der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Christian Mölling, übernommen, wonach der NATO nur noch fünf Jahre Zeit bleiben, sich gegen einen bevorstehenden Angriff Russlands «kriegstüchtig» zu machen. Wer nicht schleunigst 100 oder gleich bis zu 300 Milliarden Euro in die Kriegsfähigkeit investiert, wie von CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter und SPD-Wehrbeauftragte Eva Högl gefordert, hat mir nichts dir nichts den Russen im Keller.
Wenn «wir» «uns» heute aber in einem Krieg mit einem neuen «Russen-Hitler» befinden, muss jede Forderung nach Verhandlungen unmittelbar unter dem Verdacht der Appeasement-Politik stehen, wie sie vom «Münchner Abkommen» 1938 praktiziert wurde, als die britische Regierung einen neuen Weltkrieg zu verhindern trachtete. Wer sich gegen Waffenlieferungen ausspricht, wird als «Lumpenpazifist» (Sascha Lobo), «Secondhand-Kriegsverbrecher» (Wolf Biermann) und – ebenfalls ein impliziter Hitlervergleich, weil es auf Daniel Jonah Goldhagens in den 1990er Jahren publiziertes Bestseller-Buch über den Holocaust anspielt – «Putins willige Helfer» angeprangert. Zugleich müssen in diesem Schicksalskampf der «Demokratien gegen die Autokratien», wie die Neue Kalte Kriegs-Ideologie angesichts fragwürdiger westlicher Bündnispartner hemdsärmelig suggeriert, auch an der Heimatfront Opfer gebracht werden. Hohe Tarifabschlüsse im öffentlichen Dienst, kritisierte Pistorius während der Tarifrunde im vergangenen Frühjahr, würden die «Kriegstüchtigkeit» gefährden.
Das Risiko einer weiteren Eskalation des Konflikts mit der Atommacht Russland ist man offensichtlich bereit, einzugehen. Der CDU-Außenpolitikexperte Roderich Kiesewetter, der nach der Bundestagswahl 2025 das Amt des Außenministers für sich beanspruchen dürfte, hat gefordert, den Krieg «nach Russland [zu] tragen» und dort nicht nur Militärinfrastruktur, sondern auch «Ministerien» zu zerstören. Immer neue Waffensysteme werden in die Ukraine geliefert, ohne dass rote Haltelinien und eine realistische Exit-Strategie aus einer immer stärkeren Involvierung der NATO im Krieg mit Russland skizziert wird. Das ist besonders problematisch, weil die vom ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj als Minimalziel verfolgte «Friedensformel» die militärstrategisch höchst unwahrscheinliche Vertreibung der russischen Truppen aus dem Donbass und von der Krim-Halbinsel vorsieht. Auch im «Westen» sind Außenpolitik-Experten zunehmend gezwungen, die neue Realität eines «nicht zu gewinnenden Kriegs» anzuerkennen. Die Frage ist: Wie viele Ukrainer*innen und Russ*innen müssen noch sterben, bis diese Realität anerkannt wird? Wie weit soll der Krieg im Kampf um wenige Quadratkilometer zerstörten Landes eigentlich noch eskalieren? Und wie geht man eigentlich mit der Problematik der numerischen Überlegenheit Russlands um, die einen mission creep der NATO impliziert, da, egal, wie viele Waffen der Westen noch liefert, die ukrainische Regierung ihre Ziele faktisch nur durch direkte NATO-Truppenbeteiligung erreichen kann, insofern ihr die Rekruten ausgehen, die sie an die Front schicken kann.
Pikant ist: So sehr Putin in der links- wie rechtsliberalen Diktion als wahnsinniger Diktator beschrieben wird, der seine wahnwitzigen Träume von der Wiederherstellung des großrussischen Zarenreichs – koste es, was es wolle – durchzusetzen bereit sei und sich in einem Schicksalskampf mit dem verhassten Wesen sehe, so sehr vertraut man auf Putins Vernunft und Russlands Selbsterhaltungstrieb, wenn es um die Frage der russischen Eskalationsdominanz, der weiteren Eskalation des Krieges geht; etwa durch zunehmenden Einsatz von thermobaren oder gar Chemiewaffen, die intensivierte Zerstörung der zivilen Infrastruktur der Ukraine oder gar den Einsatz von Atomwaffen, die nach geltender russischer Atomdoktrin nach der Zerstörung russischer Atomfrühwarnsysteme mithilfe westlicher Waffensysteme und Geheimdienstinformationen gerechtfertigt wäre.
Was heißt Solidarität mit der Ukraine?
Die Politik des Westens, die Politik der Sanktionen, Waffenlieferungen und Kriegsunterstützung geschieht im Namen der «Solidarität mit der Ukraine». Seit dem Beginn des Kriegs will man «solidarisch mit der Ukraine» sein. Aber was genau heißt das eigentlich? Wer oder was ist eigentlich gemeint, wenn von «der Ukraine» gesprochen wird? Und wie organisiert sich Solidarität?
Die Solidarität mit den Menschen, die ab Februar 2022 nach Deutschland und Europa flohen, war und ist konkret auf die Menschen mit ihren universellen Menschenrechten bezogen. Dazu gehört das Menschenrecht auf Asyl und das Recht auf Kriegsdienstverweigerung. Die «Solidarität mit der Ukraine», die auf Waffenlieferungen zur «Selbstverteidigung» hinausläuft, bedeutet jedoch konkret, dass der deutsche und andere westliche Staaten Waffen an den ukrainischen Staat und für seine Kriegsmobilisierung liefern.
Sozialist*innen, marxistisch denkende Menschen unterscheiden sich nun aber von bürgerlichen Konservativen darin, dass sie gesellschaftszentriert denken. Sie unterscheiden sich auch vom Gros der heutigen Liberalen darin, dass der Staat und die Staatsräson für sie nicht im Zentrum ihrer Denkbewegung stehen. Für sie ist klar: Genauso wenig, wie es das Frankreich, das Deutschland, die Japaner und den Russen gibt, so gibt es auch die Ukraine nicht.
Wie jede Gesellschaft im Kapitalismus ist auch dieses osteuropäische Land klassengespalten, in Kapital und Arbeit, in Besitzende und Nichtbesitzende, in Arme und Reiche, in oben und unten usw. Mehr noch: Die Ukraine war lange vor dem Krieg politisch, ideologisch, sprachlich und kulturell gespalten. Und vor allem war sie auch ökonomisch gespalten in eine – auf die EU-Mitgliedschaft und europäische Absatzmärkte schielende – agrarisch-kapitalistische Westoligarchie und eine montanindustrielle Ostoligarchie, die die 2013 von der EU exklusiv eingeforderte Anbindung an die EU zu fürchten hatte, weil sie, insofern sie gegenüber den westlichen Konzernen nicht konkurrenzfähig ist, ganz nach dem Vorbild der Handelsliberalisierungen und Schockprivatisierungen in Osteuropa nach 1991 Pleite gegangen wäre, das heißt ihre Akkumulationsbasis verloren hätte.
Dies alles gehört zum Teil der Vorgeschichte, der in der Rede vom «verbrecherischen, völkerrechtswidrigen und durch nichts zu rechtfertigenden Angriffskrieg Russlands» ebenso wenig mehr vorkommt, wie die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass aus Putin, der sich Anfang der 2000er Jahre um eine eurasische Wirtschaftsunion und sogar eine NATO-Mitgliedschaft Russlands bewarb, der Putin werden konnte, der sein Land heute aus Europa und dem Westen herausdefiniert und welche Rolle die NATO-Osterweiterung, das Herausdrängen Russlands aus der östlichen Partnerschaft der EU und der NATO-Gipfel in Bukarest 2008, als die USA unter George W. Bush die Ukraine gegen den damaligen Mehrheitswillen der Bevölkerung und gegen damals geltendes ukrainisches Recht ins antirussische westliche Militärbündnis zu ziehen versuchten, gespielt haben mögen. Die Ukraine ist eine junge Nation und erst heute und durch den russischen Krieg wird der Prozess der Nationenbildung im Sinne eines westlichen, antirussischen Staates mit entsprechenden Geschichtsmythen finalisiert. Russland zwangsassimiliert den östlichen Teil der Ukraine, aber, wie der ukrainische Sozialwissenschaftler Wolodymyr Ischtschenko jüngst im Interview mit der Berliner Zeitung argumentierte, auch der ukrainische Staat «verfolgt eine Politik der Assimilierung der russischsprachigen Ukrainer im Rahmen der sogenannten ‹Entkommunisierung›, ‹Entkolonialisierung› und ‹Entstalinisierung›.»
Die Frage der «Solidarität mit der Ukraine» stellt sich für gesellschaftszentriert denkende Menschen nun immer wieder neu. Was heißt «Solidarität mit der Ukraine» unter den gegebenen Bedingungen des Krieges und der Aussicht auf ein Ende des Blutvergießens?
Solidarität mit den Menschen im Krieg muss an den konkreten Krieg geknüpft sein und die Frage, wie er enden kann. Der Krieg unterliegt ganz allgemein einer Dialektik. Kriege beginnen – während die wahrgenommene Bedrohung hoch und die Empörung groß ist und die Propaganda einen kurzen gerechten Krieg verspricht – in der Regel mit Kriegszuversicht und vor allem im Bürgertum und unter den Intellektuellen Kriegsbegeisterung, sie enden in der Regel jedoch in Kriegsmüdigkeit, wenn die persönliche Betroffenheit in den Volksklassen durch Tod von Angehörigen, Verstümmelung, posttraumatischen Belastungsstörungen, Inflation, Verarmung oder sogar Hunger wächst und kein Ende des Krieges in Sicht ist. Es war in diesem Wissen, dass die grüne Außenministerin Annalena Baerbock schon frühzeitig vor «Kriegsmüdigkeit» im Westen warnte. Ja, mehr noch: Kriege wirken wie ein Brennglas der gesellschaftlichen Widersprüche, weshalb in der Geschichte ein enger Zusammenhang zwischen Krieg und Revolution und Revolte festzustellen ist. Kriege beschleunigen, dass aus der Wagenburgmentalität und dem Burgfrieden der Klassen plötzlich offene Konflikte gesellschaftlicher Klassen werden. Dies war 1871 beim deutsch-französischen Krieg so, der in der Pariser Kommune endete. Das war 1905 beim russisch-japanischen Krieg so, der in der Russischen Revolution von 1905 endete. Das war in der Welle der Nachkriegsrevolutionen von Irland bis Ostasien so, die ab 1916 – und einschließlich der Oktoberrevolution von 1917 – Schritt für Schritt den Ersten Weltkrieg gegen den Willen der Herrschenden zu einem Ende führte. Es war auch im Zuge der Entkolonialisierungsprozesse nach dem Zweiten Weltkrieg so. Und auch die Erdrutschsiege von Barack Obama und den US-Demokraten 2006/2008 waren Ergebnis einer Entwicklung, in dem die ultranationalistische und militaristische Stimmung, die bis zum Hurrikan Katrina 2005 das gesellschaftliche Klima in den USA bestimmt hatte, einer Antikriegsstimmung und einem Fokus auf die inneren Widersprüche wich.
Die Dialektik des Krieges offenbart heute die Grenzen der Rede von «der Ukraine» und der «Solidarität mit der Ukraine», die im Ergebnis Waffenlieferungen in einen Stellvertreterkrieg meint. Die Rede von der «Solidarität mit der Ukrained wird brüchig. Denn wie solidarisch ist es eigentlich, dass die oberen Klassen in Russland und auch in der Ukraine sich weitgehend der «Landesverteidigung» entziehen können? Wie solidarisch ist es, mit Waffenlieferungen einen Krieg zu verlängern, während der Anteil der Bevölkerung rapide auf bereits ein Drittel angewachsen ist, der versteht, «dass Teile des Donbass oder die Krim wohl russisch bleiben» werden und sich, Putins Verhandlungsbereitschaft vorausgesetzt, für den Tausch von Gebieten gegen Frieden ausspricht? Wie solidarisch ist die Verlängerung des Krieges, wenn dem ukrainischen Staat die Freiwilligen ausgehen, weshalb er mit immer rabiateren Methoden Zwangsrekrutierungen teilweise auf offener Straße durchführen muss? Mit wem sollte man solidarisch sein: Mit der Regierung, die im April das Wehrdienstalter gesenkt hat, um mehr – und immer schlechter ausgebildete – Rekruten für die Front auszuheben? Oder mit den mehr als 100.000 Kriegsdienstverweigerern, die sich auf ihre Kriegsdienstregistrierung nicht zurückgemeldet haben und vielfach untergetaucht sind, den 200.000, die sich organisiert haben, um sich gegenseitig vor dem Auftauchen von Feldjägern zu warnen oder den insgesamt 650.000 Männer im «wehrfähigen Alter», die sich dem Ausreiseverbot widersetzt haben und die Ukraine in den letzten zweieinhalb Jahren auf illegale Weise, unter zumeist hohen Kosten und zum Teil mit tödlichem Ausgang verlassen haben? Ist man solidarisch mit der ukrainischen Regierung, die Druck auf die Bundesregierung ausübt, die nach Deutschland Geflohenen 200.000 «kriegsverwendungsfähigen» Ukrainer auszuliefern bzw. mit «Anreizen», wie Kiesewetter von der CDU den Entzug von Bürgergeldzahlungen, zur Rückkehr zu bewegen? Oder mit den mehr als 9.000, die wegen Kriegsdienstverweigerung heute schon verurteilt wurden und in ukrainischen Gefängnissen sitzen? Ist man solidarisch mit der Bevölkerung, die angesichts des für beide Kriegsparteien weitgehend aussichtslosen Krieges nach aktuellen Umfragen mehrheitlich Friedensverhandlungen mit Russland will? Oder mit einer Regierung, die diese lange ausgeschlossen hat, solange Putin an der Macht ist und an den unrealistischen Maximalforderungen – Rückeroberung von Krim und Donbass – festhält? Mit sozialistischen Oppositionellen, deren Parteien verboten worden sind, oder mit dem ukrainischen Staat, der sie unter dem Vorwand, sie seien alle russische Agenten, verboten hat? Mit der Arbeiterklasse, die nach dem Gewerkschaftsgesetz 5371 heute individuell mit ihren Kapitalisten über Lohn, Arbeitsschutz und Urlaubsregelungen verhandeln muss, oder mit dem ukrainischen Staat, der diese Maßnahme erzwungen hat? Die Frage stellt sich: Wie solidarisch ist es eigentlich von Seiten der Bundesregierung, wenn sie mit der Begründung, dass die «Erfüllung des Kriegsdienstes zumutbar» sei, aus der Ukraine geflohenen Menschen heute dazu zwingt, für die Verlängerung ihrer (Reise-)Passdokumente in die Ukraine zurückzukehren, wo die Männer im wehrfähigen Alter gleich eingezogen würden? Wie solidarisch ist es mit der Ukraine, wenn der deutsche Staat russische Soldaten, die sich der sogenannten «Spezialoperation» entziehen wollen, in Deutschland und der Europäischen Union kein Asylrecht bekommen, obwohl man den russischen Kriegsdienstverweigerern damit signalisiert, dass sie weiterkämpfen müssen? Wie solidarisch ist es aus sozialistischer Perspektive überhaupt, wenn die unteren Klassen beider Staaten, denen das Geld fehlt, sich dem Kriegsdienst zu entziehen, sich heute in diesem blutigen Stellungs- und Abnutzungskrieg sinnlos gegenseitig niedermetzeln, mit dem höheren Blutzoll jedes Mal auf der Seite der Angreifenden, sei es vor Charkow oder Kursk? Und ist es ein Zeichen von Solidarität, dass man im Westen behauptet, die Souveränität der Ukraine zu verteidigen, aber zugleich im Rahmen der von IWF und Blackrock orchestrierten Schockprivatisierung das Tafelsilber des Landes an westliche Konzerne verhökert und dem Land damit die materielle Grundlage seiner Souveränität entzieht?
Der Ukrainekrieg heute ähnelt weniger dem Zweiten und mehr dem Ersten Weltkrieg. Wenn aber 2022 für viele ein 1914 war, als man glaubte, «Weihnachten wieder zuhause» zu sein, dann ist 2024 eben ein 1916. Die Dialektik des Krieges entfaltet sich. Der Ukrainekrieg kennt keine Sieger, schon gar keine aus den unteren Klassen. Die Forderungen nach Verhandlungen über einen Waffenstillstand gefolgt von Friedensverhandlungen werden in der Ukraine immer stärker. Sie sind unbedingt anzubahnen. Verhandlungsbereitschaft auf beiden Seiten muss hergestellt werden. Die Vorstöße aus dem globalen Süden sind hierfür ein richtiger Ansatz. Daran sollte westliche Politik in Anbetracht der Zerstörung, des Blutzolls und der militärischen Ausweglosigkeit und in Anbetracht des erheblichen Eskalationsrisikos anknüpfen.