Nachricht | Staat / Demokratie - Parteien / Wahlanalysen «Wir haben uns überschätzt»

Auf ihrer Delegiertenkonferenz arbeiten die Grünen die Fehler des Wahlkampfes auf. Koalieren möchte die Partei künftig flexibler, Rot-Grün-Rot ist eine der Optionen. Bericht von Jochen Weichold.

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Es war Wundenlecken angesagt auf dem Grünen-Parteitag am dritten Oktober-Wochenende in Berlin, großes Wundenlecken. Die Enttäuschung über die Wahlniederlage der Öko-Partei bei der Bundestagswahl am 22. September 2013 saß tief bei den grünen Basisvertretern. Die Frage nach den Ursachen für den Absturz der Öko-Partei innerhalb weniger Wochen von rund 15 Prozent in den Meinungsumfragen auf gut acht Prozent am Wahlabend trieb die Delegierten um: Was war da schief gelaufen? Zwar hatte die komplette Parteiführung (Fraktionsspitze, Bundesvorstand und Parteirat) mit ihrem Rücktritt politische Verantwortung übernommen, doch die grüne Seele war damit keineswegs befriedet. Die Parteitagsregie hatte daher der Analyse der Wahlniederlage ungewöhnlich viel Zeit eingeräumt: von Freitagnachmittag bis Sonnabendnachmittag. Zeit, in der sowohl die Delegierten als auch die grünen Spitzenpolitiker ihre Sicht der Dinge darlegen konnten.


Reden der Spitzenpolitiker

Co-Parteichef Cem Özdemir hob vor den rund 800 Delegierten in der Politischen Rede des Bundesvorstandes vor allem drei Ursachen für die Wahlniederlage der Grünen hervor: Erstens stehe der Veggie-Day symbolhaft für den Eindruck, „dass wir den Leuten mit dem erhobenen Zeigefinger gekommen sind“. Zweitens die Steuerfrage. Im Gegensatz zu anderen Parteien hätten Die Grünen eine Gegenfinanzierung ihrer politischen Forderungen vorgelegt, jedoch verkannt, dass sie die Menschen (und die eigenen Wahlkämpfer) mit der Fülle ihrer Maßnahmen und mit Steuertabellen überfordert hätten. Klar sei: „Wir brauchen maßvolle Steuererhöhungen, das ist auch eine Gerechtigkeitsfrage.“ Der Staat brauche Mittel, um in Bildung, Energiewende und Infrastruktur zu investieren und um Schulden abzubauen. Drittens habe es ein Thema gegeben, „das uns alle zutiefst schmerzt“: „Nämlich, dass es zu Beginn unserer Partei eine Gruppe gab, die im Windschatten der Debatte über eine freiere Gesellschaft es geschafft hat, Forderungen zur Straffreiheit von Pädophilie durchzusetzen.“ Diese Positionen seien damals inakzeptabel gewesen und „sie sind heute inakzeptabel“.

Özdemir warf die Frage nach dem Standpunkt der Grünen auf und erklärte: „Wir stehen nicht zwischen SPD und Linkspartei.“ Er erinnerte an die Losung der Grünen „Wir sind nicht links, nicht rechts, sondern vorn!“ und rief: „Da müssen wir hin!“ Grüne Eigenständigkeit, für die der Parteichef plädierte, sei keine Chiffre für Schwarz-Grün, sondern könne genauso gut Rot-Rot-Grün bedeuten. Auch deshalb sei es ein Fehler der SPD gewesen, dass sie nicht auch zu Sondierungsgesprächen mit den Grünen und der Partei DIE LINKE eingeladen habe. In seiner Bewerbungsrede als Bundesvorsitzender plädierte Özdemir dann für eine gemeinschaftliche Zusammenarbeit in der grünen Partei: „Wir sollten Ideen in Zukunft auf ihren Inhalt prüfen und nicht auf ihre Herkunft.“

Jürgen Trittin, Spitzenkandidat der Grünen für die Bundestagswahl 2013, ging in einer kämpferischen Rede auf die Ursachen der Wahlniederlage der Grünen ein: „Wir haben die Veränderungsbereitschaft dieser Gesellschaft überschätzt – gerade in Zeiten einer momentan guten Wirtschaftslage konnten wir die Menschen nicht überzeugen, dass grundsätzliche Veränderungen notwendig sind.“ Und: „Wir haben uns selbst überschätzt“ und die Übermacht der gegnerischen Kräfte unterschätzt. Trittin erinnerte daran, dass aller ökologischer Fortschritt der letzten Jahrzehnte nicht mit der Wirtschaft, sondern gegen ihre großen Interessenverbände durchgesetzt worden sei. Die Grünen hätten im Bundestagswahlkampf 2013 zwar ein Regierungsprogramm gehabt, aber sichtbar keine Machtoption. Machtoptionen – ob Rot-Rot-Grün oder Schwarz-Grün – seien allerdings nur zu einem Teil von den Grünen selbst abhängig. An ihrem Teil sollten Die Grünen allerdings arbeiten.

Winfried Kretschmann, Ministerpräsident von Baden-Württemberg, der Die Grünen näher an die Wirtschaft und an die Unionsparteien heranführen will, erklärte, die Wahlniederlage sei bitter und schwer. Die grüne Partei sei „aus der Spur“ geraten. Sie müsse das Verhältnis von Markt, Staat und Zivilgesellschaft neu ordnen. „Wir sind zu staatsgläubig geworden.“ Die Grünen müssten den Bürgern Angebote machen und keine Vorschriften. Bei der Energiewende müssten Die Grünen nicht nur beweisen, dass sie notwendig sei, sondern auch, dass sie möglich ist. Die Öko-Partei müsse sich „Anschlussfähigkeit an die Wirtschaft“ erarbeiten, müsse Vertrauen in die Wirtschaft haben und dürfe sie weder unter- noch überfordern. Unter diesem Gesichtspunkt seien die steuerpolitischen Forderungen im grünen Bundestagswahlprogramm „zu viel“ gewesen. Die Grünen müssten bei ihren Zielen fest bleiben, aber offen sein bei den Wegen zu ihnen.

Die neue Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, Katrin Göring-Eckardt, erklärte an Winfried Kretschmann gewandt, die Partei sei nicht aus der Spur: „Vielleicht waren wir nämlich gerade viel zu sehr in der Spur und haben zu wenig mitgekriegt, was daneben so passiert.“ Sie sagte, wenn sich Die Grünen nach der Wahlniederlage auf ihre Wurzeln besinnen, dann heiße das nicht, sich auf ein einziges Thema zu verengen. Ökologisches Denken sei nämlich kein Punkt, kein Thema. Ökologie sei eine bestimmte Weise, die Welt zu sehen: von der Zukunft her, vom Kleinsten her, von der Nebenwirkung her und vom Zusammenhang. „Ökologisches Denken ist eine Grundhaltung.“ Die Fraktionsvorsitzende widersprach der Behauptung, Die Grünen hätten im Wahlkampf zu viel über Gerechtigkeit gesprochen, und betonte, Die Grünen sollten die Sozialpolitik „nicht den anderen überlassen“. „Wir sind auch weiterhin der Meinung, dass die Schwächsten in dieser Gesellschaft die meiste Unterstützung brauchen“ und dass Unterstützung mehr sei als Alimentierung. Sie wolle, dass Die Grünen die Partei werden, der man zutraut, dass sie den Einzelnen etwas zutraut.

Der neue Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, Anton Hofreiter, ging auf die Sondierungsgespräche der Öko-Partei mit der CDU/CSU ein und unterstrich, die Union sei jetzt gar nicht zu Schwarz-Grün bereit gewesen. Hinsichtlich der Forderung der Grünen, dass die Erneuerbaren Energien Vorrang haben müssten vor der fossilen Energieerzeugung, habe sich die Union nicht bewegt. Prinzipiell müsse es aber für Die Grünen darum gehen, sich neue Gestaltungsoptionen bzw. neue Machtoptionen zu erarbeiten. Und zwar Rot-Grün-Rot und Schwarz-Grün. Regieren sei kein Selbstzweck, sondern ein Mittel, um die Wirklichkeit im grünen Sinne zu verändern, um grüne Inhalte umzusetzen. Ein Koalitionsvertrag müsse zudem für vier Jahre tragen, auch dann, wenn mächtige Interessengruppen gegen die im Koalitionsvertrag vereinbarten politischen Vorhaben vorgehen. Als Beispiel nannte er die Autoindustrie, die aus Profitgründen gegen die Energiewende und gegen den Klimaschutz mobilisiere.

Hofreiter forderte von seiner Partei, Themen wie die ökologische Modernisierung, einen solidarischen Freiheitsbegriff und einen umfassenden Gerechtigkeitsbegriff ins Zentrum grüner Politik zu rücken. „Eine moderne Gesellschaft kann nicht die Freiheit des Cowboys sein, sondern muss die Freiheit des sozial Schwachen mitdenken.“

In ihrer Abschiedsrede als Parteivorsitzende betonte Claudia Roth übereinstimmend mit anderen Debattenrednern, dass sich Die Grünen weder neu erfinden müssten, noch eine Programm-Revision bräuchten (wie das ein – später zurückgezogener – Antrag nahelegte). Die designierte Bundestagsvizepräsidentin räumte allerdings ein, dass das Wahlprogramm vielleicht mehr ein Regierungsprogramm gewesen sei: „Weil wir im grünen Höhenflug dachten, wir sind schon in der Regierung. Wir sind in der Akribie des Machbaren stecken geblieben – selbst gefangen, eingemauert, in einer Detail versessenen Programmarbeit.“ Aber das reiche eben nicht aus. Die Grünen müssten die Herzen der Menschen erreichen: „Wo wollen wir hin? Was macht das Leben durch Grün besser?“ Das seien die Fragen, die Die Grünen beantworten müssten und die sie beantworten könnten.

Die Grünen seien schon lange nicht mehr die Anti-Parteien-Partei. „Aber sind wir noch erkenntlich als Alternative im Parteiensystem? Ich befürchte, nicht genug.“ Wenn jetzt von interessierter Seite gefragt werde, ob nun Die Grünen die neue FDP würden, könne die Antwort nur lauten: „Natürlich nicht!“ Denn von Anfang an hätten Die Grünen nicht nur für Ökologie gestanden, sondern gerade auch Demokratie sei immer ein grüner Grundwert gewesen. „Ja, wir sind die Partei, die für Freiheit steht. Aber eben für eine ganz andere Freiheit als die der Neoliberalen.“ Für Die Grünen sei nicht die Würde der Tresore unantastbar, sie plädierten nicht für freie Fahrt für Heuschrecken, Haifische und Kapital. Ihre Freiheit sei nicht die, Schwächere unterdrücken zu dürfen, „sondern wir Grüne verbinden Freiheit mit Gerechtigkeit“. Und für Die Grünen bedeute Freiheit eben auch, dass jeder, egal ob arm oder reich, die Möglichkeit zu Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung bekommen müsse.


Die Analyse der Ursachen der Niederlage bei der Bundestagswahl

Auf dem Parteitag in Berlin zeigte sich, dass die Frage nach den Ursachen für die Niederlage der Grünen bei der Bundestagswahl am 22. September 2013 nicht so einfach zu beantworten ist und die Antworten je nach der politischen Ausrichtung der Analysten zum Teil durchaus unterschiedlich ausfallen. Sowohl in der Debatte als auch in einer Reihe von Anträgen wurden vor allem folgende Ursachen ausgemacht:

  • Statt des Klimawandels, der Energiewende und der Ökologie-Problematik insgesamt seien von der Parteispitze andere Themen in den Mittelpunkt des Wahlkampfes gerückt worden. Insbesondere die Frage der Steuererhöhungen habe potentielle Grün-Wähler aus besser verdienenden Schichten verschreckt.
  • Die frühe Festlegung der Parteispitze auf eine rot-grüne Koalition habe sich als kontraproduktiv erwiesen, da sich damit im Wahlkampf zu keiner Zeit eine Machtoption verbunden habe und die Partei als grüne Kraft nicht mehr ausreichend erkennbar gewesen sei. Besser wäre es gewesen, sich für starke Grüne einzusetzen und die Koalitionsfrage offen zu lassen.
  • Nicht zuletzt hätten sich einige Wirtschaftsverbände im letzten Wahlkampf gegen Die Grünen und ihre Inhalte entschieden und für Schwarz-Gelb positioniert. Diese Kräfte hätten „harte Kampagnen gegen grüne Themen“ gefahren. Jürgen Trittin hatte bereits im Juli 2013 in einem SPIEGEL-Beitrag eine „rechte Apo“, eine rechte außerparlamentarische Opposition, ausgemacht, die gegen einen rot-grünen Wechsel kämpfte. Sie reichte von der Arbeitsgemeinschaft Selbständiger Unternehmer, die sich nett als „Familienunternehmer“ vermarktet, über den „Stahldialog 2013“, neoliberale Think Tanks und konservative Meinungseliten bis zum Freien Verband Deutscher Zahnärzte, der seine Bataillone gegen die grüne Bürgerversicherung in Stellung brachte.
  • Die Veggie-Day-Debatte habe den Grünen das Image der „Verbotspartei“ beschert, die mit einer Politik des erhobenen Zeigefingers agiert. Es sei dagegen nicht gelungen, Die Grünen als „Partei der Vielfalt und der solidarischen Freiheit“ erscheinen zu lassen. Die Delegierte Manuela Rottmann vom Kreisverband Frankfurt am Main brachte das auf den Punkt: „Wir sind eine Klugscheißer-Partei geworden.“
  • Insbesondere die Pädophilie-Debatte um Beschlüsse der Partei dazu aus den Anfangsjahren habe den Grünen in der letzten Phase des Bundestagswahlkampfes geschadet. Durch die zu lange Ausblendung dieses „dunklen Kapitels“ und ihre zögerliche Aufarbeitung dieses Themas sei die Partei in die Defensive geraten. Die langjährige Bundesgeschäftsführerin Steffi Lemke analysierte, dass diese gegnerische Kampagne Die Grünen in den letzten Wochen vor der Wahl von zweistelligen Werten in den Meinungsumfragen in die Einstelligkeit gedrückt habe. Zudem sei niemandem in der Bundesgeschäftsstelle bekannt gewesen, was dazu in den frühen Programmen der Partei gestanden habe.
  • Die Grünen seien als Oppositionspartei im Bundestag „zu staatstragend“ aufgetreten, in dem sie den Regierungskurs beim Atomausstieg, bei den europäischen Rettungspaketen und beim Fiskalpakt mitgetragen hätten. Sie hätten sich als „Regierungspartei im Wartestand“ verhalten und hätten sich nicht wie früher als freche, frische und aufmüpfige Oppositionspartei präsentiert.
  • Es habe Störfeuer aus den eigenen Reihen gegeben. Wenn Winfried Kretschmann im Wahlkampf von den Grünen „Maß und Mitte“ insbesondere in der Steuerpolitik gefordert habe, hätte er damit dem grünen Wahlprogramm Maßlosigkeit bescheinigt. Eine solche Kritik am Steuerkonzept der Partei habe die Stichworte für die Kampagne der Wirtschaftsverbände gegen Die Grünen geliefert.
  • Schließlich sei die Werbekampagne der Partei gründlich missglückt. Die Plakate auf den ökologisch korrekten Pappen der Firma Pappwelle erwiesen sich als nicht wetterfest. Das Logo in Gestalt einer weißen Sonnenblume wurde von den Wählerinnen und Wählern nicht mit der Partei Bündnis 90/Die Grünen identifiziert. Die Frage „Und Du?“ wurde als erhobener Zeigefinger interpretiert, und viele der grünen Wähler möchten nicht mit „Du“ angesprochen werden.

Der auf dem Leitantrag des Bundesvorstandes fußende Beschluss der BDK „Gemeinsam und solidarisch für eine starke grüne Zukunft“ spiegelt diese Analyse der Ursachen der Wahlniederlage der Grünen weitgehend wider. Ein Antrag von Realos um den bayerischen Landesvorsitzenden Dieter Janecek, die Überschrift in „Jenseits der Lager – Grün ist, was zählt“ zu ändern, verfehlte ebenso klar und deutlich die Mehrheit wie ein Antrag der Grünen Jugend, die Zustimmung der Bundestagsfraktion der Partei „zu Merkels Europakurs“, insbesondere zum Fiskalpakt, zu einer der Ursachen für die Wahlniederlage zu erklären. Dagegen konnten sich immerhin gut zwei Fünftel der Delegierten für einen Antrag des Realo-Flügels erwärmen, der behauptete, dass der Umfang der geplanten Steuererhöhungen „die Bürgerinnen und Bürger in der Gesamtschau überforderten“. Damit blieb es bei dem Satzteil „Auch weil die verschiedenen Maßnahmen in der Gesamtschau zu viel auf einmal erschienen, waren wir zu sehr mit dem Vorrechnen unserer Konzepte beschäftigt“. Der durch eine Reihe von Übernahmen und modifizierten Übernahmen geänderte Leitantrag des Bundesvorstandes wurde letztlich gegen nur wenige Gegenstimmen und Enthaltungen von den Delegierten mit überwältigender Mehrheit angenommen.


Die Frage künftiger Koalitionen

Zur Frage künftiger Koalitionen auf Bundesebene gab es unterschiedliche Anträge. Der Antrag des Kreisverbandes Bodenseekreis in Baden-Württemberg (BTW-03) verlangte „Offenheit für Koalitionen mit allen im Bundestag vertretenen Parteien“, votierte allerdings indirekt für eine schwarz-grüne Koalition. Im Bundestagswahlkampf hätte das Thema Klimawandel in den Mittelpunkt gestellt werden müssen. Dass die Parteispitze andere Themen in den Vordergrund gestellt und sich auf eine Koalition mit der SPD festgelegt habe, sei falsch gewesen. Es habe im Vorfeld der Bundestagswahl zu keinem Zeitpunkt eine realistische Machtoption gegeben. Die Quittung dafür hätten Die Grünen am 22. September 2013 erhalten: „Gewählt wird eine Partei für die Möglichkeit zur Gestaltung. Das Taktieren und Ausschließen bestimmter Koalitionen hat uns geschadet.“ Eine Regierung mit Beteiligung der Grünen sei allemal besser als eine Regierung ohne grüne Beteiligung. Das Ziel sei ein Regierungsbündnis, bei dem ein Maximum grüner Politik gestalterisch ungesetzt werden könne. Das „Grüne Herz“ schlage zwar „links der Mitte“, und eine Koalition mit den Unionsparteien entspreche „alles andere als unserem Wunschdenken“, dennoch müssten sich Die Grünen davor nicht scheuen: „Wenn wir als Minimalziel nur den ersten Punkt unseres Wahlprogramms der Schaffung einer sauberen, sicheren und bezahlbaren Energieversorgung auf einer möglichen Regierungsagenda verankern, wird die Grüne Handschrift für alle Menschen sichtbar und deutlich zutage treten.“

Dagegen forderte der Kreisverband Peine in Niedersachsen: „Keine Koalition mit der CDU“: „Der Bundesvorstand und die Bundestagsfraktion werden aufgefordert, keine Koalition mit der CDU einzugehen.“ Die klaren Aussagen im Wahlkampf und die differierenden Wahlprogramme schlössen diese Verbindung aus (Antrag BTW-06).

Ein Antrag von linken Grünen aus verschiedenen Bundesländern (BTW-04) sprach sich für die Einleitung von Sondierungsverhandlungen über die Bildung einer Koalition mit SPD und LINKEN aus. Die Initiatoren verlangten: „Die Bundesdelegiertenkonferenz beauftragt den zu wählenden Bundesvorstand, unverzüglich die befugten Vertreter/-innen von SPD und LINKEN zu Sondierungsverhandlungen über die Bildung einer Koalition einzuladen und diese Sondierungen ernsthaft zu betreiben.“ Bündnis 90/ Die Grünen seien angetreten, einen Politikwechsel herbeizuführen. Sie hätten ihre Wahlziele wahrlich nicht erreicht, und eine rot-grüne Bundesregierung habe keine Mehrheit. Indes hätte aber eine Koalition aus SPD, Grünen und LINKEN eine Mehrheit, die nur deswegen nicht umsetzbar erscheine, weil Probleme aufgeworfen würden, die teilweise nur schwer nachvollziehbar seien. „Wenn weder LINKE, noch SPD die Initiative ergreifen, sollten wir es tun und SPD und LINKE zu ergebnisoffenen Sondierungsgesprächen einladen. Wir gewinnen dadurch Erkenntnisse und möglicher Weise auch Handlungsoptionen – verlieren können wir nicht!“

In dem erst kurz vor der BDK veröffentlichten Leitantrag des Bundesvorstandes wurde zu diesem Thema betont, dass Die Grünen grundsätzlich bereit seien, „mit allen demokratischen Parteien zusammenzuarbeiten, wenn die inhaltlichen Schnittmengen tragen“. Bei den Sondierungsgesprächen mit der Union hätten sie das unter Beweis gestellt. Es dürfe nicht wieder vorkommen, wird dann betont, „dass Gespräche mit den Linken an der Befindlichkeit einer in sich unklaren SPD scheitern“. Und: „Andere Koalitionsoptionen müssen grundsätzlich möglich sein – sei es Rot-Grün-Rot oder Schwarz-Grün.“

Die Grünen verlangen allerdings zugleich für neue Bündnisse mehr Kompromissbereitschaft von ihren möglichen Partnern. Solche Koalitionen hingen auch davon ab, „ob die Union bereit ist, weitere Schritte in Richtung ökologischer und gesellschaftlicher Modernisierung, sozialer Gerechtigkeit, globaler Verantwortung und Anerkennung von Lebensrealitäten zu gehen, oder ob die Linkspartei sich ihren Konflikten – gerade in der Außen-, Finanz- und Europapolitik – stellt und 2017 nicht nur Regierungsfähigkeit vorgibt, sondern es auch ernst meint, sowie daran, ob die SPD davon abrückt, Koalitionsoptionen mit der Linkspartei auszuschließen“. Entscheidend würden für Die Grünen die politischen Inhalte bleiben.

Die Antragsteller des Antrages BTW-03 fanden sich mit ihrem Anliegen im Leitantrag des Bundesvorstandes wieder, und die Antragsteller des Antrages BTW-06 erklärten ihren Antrag als erledigt, da nach den Sondierungsgesprächen der Grünen mit der Union klar sei, dass es keine Koalition ihrer Partei mit der CDU/CSU geben werde. Gegen das Anliegen des Antrags BTW-04, der zwischenzeitlich in einen Änderungsantrag zum Leitantrag verwandelt worden war, sprach sich Anton Hofreiter aus. Er sei zwar prinzipiell für rot-grün-rote Verhandlungen, doch komme der Antrag BTW-04 zum falschen Zeitpunkt, da die SPD gerade mit der Union über eine Koalition verhandeln wolle. Hofreiter konnte damit die große Mehrheit der Delegierten überzeugen.


Mit dem Blick auf die Europa-Wahlen 2014

Teil der Bemühungen, die Partei wieder aufzurichten und erneut kampagnenfähig zu machen, war es, unter dem Parteitagsmotto „Miteinander für morgen“ den Blick auf die Herausforderungen des kommenden Jahres zu richten, in dem Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg, Kommunalwahlen in elf Bundesländern und vor allem die Wahlen zum Europäischen Parlament stattfinden werden. Sowohl in der europapolitischen Debatte am Sonntag als auch im Parteitagsbeschluss wurde unterstrichen, dass Europa für grüne Politik konstitutiv sei – unabhängig von politischer Opportunität und bevorstehenden Wahlen. In einer globalisierten Welt sei die europäische Integration der beste Weg, um die entscheidende Zukunftsherausforderung – eine sozial-ökologische Modernisierung der Gesellschaft – umsetzen zu können. „Wir werden deshalb klare Kante zeigen zu einer Krisenpolitik, die die sozialen Unterschiede in Europa vertieft, die ökonomische Krise nicht überwindet, aber Rechtspopulismus und Europaskepsis stärkt, und so Europas Zukunft gefährdet“, heißt es dazu im Parteitagsbeschluss. „Wir wollen mit einem umfangreichen ökologisch orientierten Investitionsprogramm für Regionen mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten die Menschen für den Umbau gewinnen.“ Im Europa-Wahlkampf wollen Die Grünen ganz besonders gegen einen drohenden Rechtsruck in Europa und gegen den Einzug der europafeindlichen, rechtspopulistischen Alternative für Deutschland (AfD) kämpfen.

Der Vorsitzende der European Green Party, Reinhard Bütikofer, forderte von den deutschen Grünen „mehr Distanz“ zu Angela Merkels Europakurs, damit sich die Partei als klare pro-europäische Alternative präsentieren könne. Er verlangte, fünf Punkte in den Mittelpunkt des Wahlkampfes der Grünen zu den Europawahlen zu rücken: Erstens. Primat grüner Politik sei, alles zu machen, was die EU stabilisiert und zusammenhält. Zweitens. Dieses gemeinsame Europa sei beileibe nicht so gut, wie es sein könnte und müsste, und müsse daher verändert werden. Drittens gelte es die Frage zu beantworten, wie Europa aus der Krise kommen könne. Der austeritäre Schrumpfkurs von Merkel und Schäuble, den sie den europäischen Krisenstaaten übergeholfen haben, sei abstrus. Vielmehr bedürfe es im Sinne eines Green New Deal mehr Investitionen in Erneuerbare Energien und in Energie- und Rohstoff-Effizienz. Viertens müsse im Sinne eines sozialen Europa „das Treiben der Troika“ unter parlamentarische Kontrolle gestellt werden. Schließlich müssten fünftens Freiheit und Demokratie in Europa gestärkt und dafür die Wirtschafts-Lobby zurückgedrängt werden. Im Sinne einer Parlamentarisierung der europäischen Exekutive komme deshalb europäischen Primaries große Bedeutung zu.

Bütikofer überzeugte. 80,98 Prozent der Delegierten gaben in der schriftlichen Abstimmung ein positives Signal auf die Bewerbung der langjährigen Europa-Abgeordneten und Fraktionsvorsitzenden der Greens/EFA im Europäischen Parlament, Rebecca Harms, zum Votum für die Primaries zur Europäischen Spitzenkandidatur ab.

Vor dem Hintergrund der menschlichen Tragödie vor Lampedusa nahmen die Delegierten zudem einen Antrag zur Flüchtlingspolitik der Europäischen Union (EU) an. In ihm kritisieren Die Grünen die Abschottungspolitik der EU, die Menschen, die auf der Flucht oder auf der Suche nach einem würdigen Leben seien, zwinge, sich in Lebensgefahr zu begeben. Sie fordern, „dass Europa seiner Pflicht, Flüchtlingen zu helfen statt sie abzuweisen, endlich voll und ganz nachkommt“.

Flüchtlinge aus Lampedusa, die seit 2011 in Zelten auf dem Berliner Oranienplatz kampieren, waren zum Parteitag der Grünen eingeladen und zu diesem Tagesordnungspunkt auf die Bühne gebeten worden. Ihr Sprecher flehte die Delegierten unter Tränen an, ihnen zu helfen. Nachdem die Afrikaner die Bühne wieder verlassen hatten, sagte die am Tag zuvor neu gewählte Parteichefin Simone Peter: „Es ist uns ein Bedürfnis, dass wir eine Stimme für die Flüchtlinge sein wollen, dass wir ihre Stimme verstärken wollen.“


Neuwahlen zum Parteivorstand und zum Parteirat

Die vorgezogenen Neuwahlen zum Parteivorstand und zum Parteirat waren notwendig geworden, weil die Mitglieder beider Gremien nach der Wahlniederlage der Grünen bei der Bundestagswahl im September 2013 zurückgetreten waren. Die frühere saarländische Umweltministerin Simone Peter wurde nach einer wenig inspirierenden Bewerbungsrede, in der sie für einen Green New Deal warb, der Ökonomie, Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit verbindet, mit 75,91 Prozent der Delegiertenstimmen zur neuen Parteivorsitzenden der Grünen gewählt. Sie erzielte damit ein besseres Ergebnis als ihr Co-Vorsitzender Cem Özdemir, der für seinen Anteil an der Wahlschlappe der Öko-Partei bei der Bundestagswahl von den Delegierten abgestraft wurde. Özdemir, mit dem auch viele im eigenen Realo-Flügel unzufrieden sind, erhielt 71,41 Prozent der Stimmen, deutlich weniger als bei seiner Wahl im Jahre 2012, als er 83,3 Prozent der Stimmen der Delegierten erhielt. Der Gegenkandidat Özdemirs bei der Bewerbung um das Amt des Bundesvorsitzenden, Thomas Austermann, der sich 2012 bereits vergeblich bei der Urwahl der Spitzenkandidaten der Partei zur Bundestagswahl 2013 beworben hatte, erhielt lediglich 17 Stimmen. Während Cem Özdemir zum Realo-Flügel gehört, wird Simone Peter zu den Parteilinken gerechnet.

Michael Kellner wurde mit 88,53 Prozent der Stimmen als Nachfolger Steffi Lemkes zum Parlamentarischen Geschäftsführer der Grünen gewählt. Kellner, der zum linken Flügel der Partei gerechnet wird, war fünf Jahre Redenschreiber und Büroleiter von Claudia Roth und seit 2009 Mitarbeiter des Bundestagsabgeordneten Frithjof Schmidt. Im Amt des Bundesschatzmeisters der Partei wurde Benedikt Mayer mit 91,82 Prozent der Stimmen bestätigt. Zu Beisitzerinnen wurden zudem Gesine Agena mit 80,94 Prozent und Bettina Jarasch mit 84,53 Prozent der Stimmen gewählt. Gesine Agena wurde zudem zur Frauenpolitischen Sprecherin der Partei bestimmt. Gesine Agena war von 2009 bis 2011 Bundessprecherin der Grünen Jugend und gehört zu den Parteilinken. Bettina Jarasch, die dem Realo-Flügel zugerechnet wird, ist seit 2011 Landesvorsitzende der Grünen in Berlin und eine von vier Grünen-Politikerinnen im Zentralkomitee der deutschen Katholiken.

Sowohl bei der Wahl des Bundesvorstandes als auch bei der Wahl des Parteirates scheinen beide Flügel der Partei erfolgreich darauf geachtet zu haben, dass sie in etwa gleicher Stärke wie bisher in diesen Gremien vertreten sind und sich an ihrem Einfluss möglichst wenig ändert. Mit der Stellvertretenden Ministerpräsidentin von Nordrhein-Westfalen, Sylvia Löhrmann, und dem baden-württembergischen Landwirtschaftsminister, Alexander Bonde, wurde der Einfluss von regierenden Landespolitikern im Parteirat verstärkt. Mit dem Ausscheiden von Jürgen Trittin, Claudia Roth, Steffi Lemke, Renate Künast und Volker Beck haben sich allerdings politische Schwergewichte aus dem Parteirat verabschiedet, die nicht so leicht zu ersetzen sein werden. Zugleich wurde damit aber der von jüngeren Parteimitgliedern seit längerer Zeit angemahnte Generationswechsel vollzogen, der auch darauf reagiert, dass ein Viertel aller Mitglieder der Grünen erst seit 2008 der Partei beigetreten ist. Der ausgewiesene Parteilinke Robert Zion, der zur jüngeren Generation gehört, die nun wichtige Partei- und Fraktionsämter innehat, verpasste jedoch den Sprung in den Parteirat deutlich.

In sehr kulturvoller Weise – mit vielen Emotionen, Blumen und stehenden Ovationen – verabschiedete die BDK Jürgen Trittin, Claudia Roth, Steffi Lemke, Astrid Rothe-Beinlich und Malte Spitz (beide bisher Beisitzer im Bundesvorstand) und dankte ihnen für ihre langjährige Arbeit für die grüne Partei.

Bilanziert man die jüngste Bundesdelegiertenkonferenz der Grünen in Berlin, erscheinen vier Punkte bemerkenswert:

Erstens unterstützte der Parteitag den Kurs der Parteiführung, nach der Wahlniederlage nicht als Juniorpartner an der Seite der CDU/CSU eine neue Bundesregierung zu bilden. Die BDK beschloss, auf der Grundlage der Ergebnisse der geführten Sondierungsgespräche der Grünen mit der CDU/CSU „keine Koalitionsverhandlungen mit der Union auf[zu]nehmen“.

Zweitens haben sich die Delegierten dafür entschieden, die „babylonische Gefangenschaft“ an der Seite der SPD zu verlassen, auf Eigenständigkeit zu setzen und – abhängig von den politischen Inhalten – offen zu sein für Sondierungs- bzw. Koalitionsgespräche sowohl mit der Union wie auch mit der Partei DIE LINKE. Für Die Grünen dürfte es aus der Opposition heraus – eingezwängt zwischen einer eher sozialdemokratisch agierenden Großen Koalition und einer Linkspartei mit neuem Selbstbewusstsein als drittstärkste Fraktion im neuen Bundestag – schwierig werden, mit ihrem politischen Handeln eine realistische Machtoptionen zu entwickeln. Die Grünen werden zu klären haben, wo sie substanziell Kompromisse eingehen können und wo nicht.

Drittens sind auf der BDK in Berlin die ganz großen inhaltlichen Kontroversen, wie sie sich in der Steuerpolitik und im Verhältnis zur Wirtschaft andeuteten, ausgeblieben. Für die Neujustierung des Kurses der Grünen war der Parteitag offensichtlich nur eine Wegmarke.

Viertens wollen Die Grünen die Europa-Wahl, die Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg und die Kommunalwahlen in elf Bundesländern im Jahr 2014 als nächste große Herausforderung angehen und mit diesen Wahlen möglichst mit neuer Stärke auf die politische Bühne treten. Ob sie in der Kürze der bis dahin verbleibenden Zeit ihre alte Attraktivität wiedergewinnen oder gar zu neuer Form auflaufen können, ist fraglich.


Die 36. Ordentliche Bundesdelegiertenkonferenz von
Bündnis 90/Die Grünen fand vom 18. bis 20. Oktober 2013 in Berlin statt.