„Hier kommen Sie nicht rein“, schallte per Megafon den grünen Delegierten entgegen, die zu ihrem Parteitag in die Westfalenhalle in Dortmund strömten. „Es sei denn, Sie können einen exzellenten Hochschulabschluss vorweisen oder Sie haben, wie Sie, Herr Al-Wazir, genügend Geld.“ Symbolisch hatte die Grüne Jugend eine Mauer um die „Festung Europa“ errichtet – um dann gegen FRONTEX Front zu beziehen und zu fordern: „Europa aufmachen!“
Europa stand schließlich im Zentrum des Dortmunder Parteitages der Grünen, der vom 23. bis zum 25. Januar 2009 stattfand. Die rund 700 Delegierten diskutierten über das Europa-Wahlprogramm der Partei und stellten die Bundesliste für die Wahl zum Europäischen Parlament auf, in dem die Öko-Partei derzeit mit 13 Abgeordneten vertreten ist. Die grünen Basisvertreter debattierten zudem über die aktuelle wirtschaftliche und soziale Lage im Superwahljahr 2009. Mit Gastbeiträgen wie dem des Premierministers von Luxemburg, Jean-Claude Juncker, des russischen Politikers Wladimir Ryschkow oder des Ko-Vorsitzenden der Grünen in Europa, Daniel Cohn-Bendit, der in diesem Jahr für die französischen Grünen zur Europawahl antreten will, versuchte die Parteitagsregie, eine gesamteuropäische Dimension in die BDK zu tragen.
Parteichefin Claudia Roth gab für die Europawahl am 7. Juni 2009 als Zielmarke 16 Abgeordneten-Mandate vor, was bedeutet, den im Jahr 2004 erreichten Stimmenanteil von 11,9 Prozent deutlich zu übertreffen. Sie nutzte denn die Politische Rede des Bundesvorstandes, um die große Koalition in Berlin scharf anzugreifen. Das Konjunktur-Paket der Bundesregierung sei ein „Sammelsurium-Aktionismus“, mit dem die Große Koalition Wahlgeschenke verteilen wolle. Sie möchte sich für gesenkte Krankenkassenbeiträge feiern lassen, die sie gerade selbst erhöht habe. Angela Merkel lasse sich vom Lobby-Druck treiben. Anstatt die dramatisch fortschreitende Klimakrise, die globale Finanz- und Wirtschaftskrise und die nie dagewesene Hungerkrise im Komplex zu bekämpfen, stelle sie Klima gegen Arbeit und ignoriere die Entwicklungsländer trotz gegenteiliger Versprechungen. Wo sei, fragte Roth, eine Strategie der Bundesregierung, die mit Klimaschutz Arbeitsplätze schaffe und sichere, die in Köpfe und nicht in Beton investiere, in der Kinder mehr wert seien als eine „Abwrackprämie“, die nicht nur Autos abwrackt, sondern auch die Umwelt?
Die Antwort der Grünen auf die oben genannten drei globalen Herausforderungen, „die unsere Welt erschüttern“, sei ein grüner „New Deal“ mit massiven Zukunftsinvestitionen in Klima, Bildung und Gerechtigkeit, mit Investitionen in die materielle Basis für eine nachhaltige Gesellschaft. „Unsere Antwort“, erklärte die Parteivorsitzende, „ist ein neuer Gesellschaftsvertrag, der gerechte Verhältnisse herstellt und nicht Steuern senkt für die, die eh mehr haben, sondern Kaufkraft herstellt bei Geringverdienern, Rentnern und ALG-II-Empfängern.“
Mit dem Blick auf die Bundestagswahl erteilte Claudia Roth allen Koalitionsspekulationen eine Absage: „Was wir gar nicht brauchen, sind Polit-Astrologen mit immer neuen Kaffesatz-Koalitionen. Was wir brauchen, ist eine eigenständige grüne Partei – klar und verlässlich, kreativ und voller Überzeugungskraft.“ Die Öko-Partei stelle grüne Inhalte nach vorn – und nicht „Farbspekulationen und Taktiererei“. Sie wolle im Superwahljahr dritte Kraft werden, lautete die Kampfansage an FDP und LINKE.
In der aktuellen Debatte zur wirtschaftlichen und sozialen Lage im Superwahljahr 2009 (und auch in der Diskussion zur Präambel und zu den einzelnen Kapiteln des Entwurfs des Europa-Wahlprogramms der Partei) attackierten die Delegierten immer wieder die Bundesregierung wegen ihrer falschen Krisenbewältigungspolitik. Sie setzten sich für einen Grünen „New Deal“ für Europa und für (ökologische) Zukunftsinvestitionen ein. Renate Künast, die Fraktionschefin der Grünen im Bundestag, verlangte: „Wir müssen die Industriegesellschaft neu definieren. Wir müssen anders leben, anders reisen, anders produzieren.“
Astrid Rothe-Beinlich, Landesvorsitzende der Partei in Thüringen und Mitglied des Bundesvorstandes, kritisierte, dass nach dem Willen der Bundesregierung zwar in marode Schulgebäude investiert werden dürfe (was vielerorts auch nötig sei), aber nicht in Köpfe. Und Bundesgeschäftsführerin Steffi Lemke forderte mit dem Blick auf das Konjunktur-Paket der Bundesregierung ökologische und soziale Standards bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen. In der Krise werde nicht nur versucht, beim Umweltschutz zu sparen, sondern auch soziale Standards auszuhöhlen. Europa werde aber nur dann im Herzen der Bürgerinnen und Bürger ankommen, wenn es ein soziales Europa sei, sagte Lemke. Die Grünen wollten für einen europäischen Sozialpakt streiten, um damit die Lebensbedingungen der Menschen in der Europäischen Union (EU) zu verbessern.
Jürgen Trittin, Vizefraktionsvorsitzender der Grünen im Bundestag, betonte, Europa müsse „Fragen des nationalen Egoismus überwinden“ und lernen, als „eigenständiger Akteur“ zu handeln. Er attackierte Bundesinnenminister Schäuble, der sich weigert, Gefangene aus dem US-Lager Guantanamo auf Kuba in Deutschland aufzunehmen: „So, wie Herr Schäuble sich verhält, ist das nichts anderes als blanker Antiamerikanismus.“
Trittin wandte sich gegen die These, die Wirtschaftskrise stärke die große Koalition. Die Landtagswahl in Hessen Mitte Januar 2009 habe vielmehr gezeigt, dass die Parteien der Großen Koalition erhebliche Stimmenverluste einfahren mussten. Das hänge auch damit zusammen, dass die Große Koalition in der Krise mit ihrem Konjunktur-Paket die falschen Prioritäten setze. Sie verschwende Geld, statt in eine neue, ökologische Industriepolitik, in Bildung und in soziale Gerechtigkeit zu investieren. Sie entlaste mit ihren Steuersenkungen die falsche Hälfte der Bevölkerung, weil rund 50 Prozent der Bevölkerung der BRD so arm sind, dass sie kaum oder keine Steuern bezahlen. Armut entpuppe sich in diesem Land als echtes Wachstumshemmnis. Und Guido Westerwelle, so Trittin, möchte aus diesem Murks der Bundesregierung mit den Steuersenkungs-Vorhaben der FDP „noch größeren Murks machen“.
Claudia Roth hatte wohl nicht zuletzt die FDP im Auge, als sie zuvor erklärte: „Der Anarcho-Kapitalismus ist gescheitert.“ Selbst die größten Staatsverächter unter den Aposteln der Deregulierung müssten nun zugeben, dass es ohne Milliardenhilfen mit Steuer-Euros und -Dollars „den ganz großen Crash“ geben würde. Und ohne die Europäische Union und ihre Strukturen hätte die Finanzkrise noch weit verheerendere Wirkungen. Die totale Ausrichtung der Wirtschaft auf kurzfristige Profite von Finanzjongleuren habe ins Desaster geführt: klima- und umweltpolitisch, finanz- und haushaltspolitisch, volks- und betriebswirtschaftlich.
Daniel Cohn-Bendit sprach in diesem Kontext von einer „Kreuzung der verschiedenen Krisen“. Es brauche eine „europäische Transformation unserer Gesellschaften“, um den Krisen von heute mit einem umfassenderen Ansatz zu begegnen. Stattdessen würden wir aber eine „Renationalisierung des Denkens“ erleben. Der Glaube, man könne die Probleme auf der nationalen Ebene besser lösen, sei jedoch falsch. So müsse beispielsweise die Frage der Steuern perspektivisch europäisch gelöst werden – und nicht dadurch, dass sich die Mitgliedsstaaten der EU auf diesem Gebiet gegenseitig Konkurrenz machen. Die Lösung könne nur in einem „Green New Deal“ auf europäischer Ebene liegen.
Aber nicht nur mit CDU, SPD und FDP gingen Die Grünen hart ins Gericht, auch mit der CSU und den LINKEN machten sie kurzen Prozess. Claudia Roth sprach von einer „schlimmen Allianz von reaktionärer CSU und populistischer Linkspartei beim Europa-Bashing“. Helga Trüpel (MdEP) erhob den Vorwurf, CSU und LINKE würden gleichermaßen gegen die Verfassung der EU zu Felde ziehen. Annalena Baerbock von der Bundesarbeitsgemeinschaft Europa kritisierte, DIE LINKE habe ihr pro-europäisches Programm zur Seite gelegt und ihre Verfassungsbefürworter abgewählt. Auch der frühere Bundestagsabgeordnete Werner Schulz brandmarkte eine „bornierte Volkssolidarität von linken und rechten Nationalisten“ und bediente das Stereotyp, Die LINKE habe kein Programm, sondern eine „Agenda 1917“. Er habe seinerzeit auch deshalb gegen Schröders „Agenda 2010“ gestimmt, weil er der Linkspartei den Weg verstellen wollte.
Die sich anschließende Debatte zum Europa-Wahlprogramm verlief, obwohl zum Entwurf des Bundesvorstandes rund 600 Änderungsanträge eingereicht worden waren, eher müde. Das lag sicher auch daran, dass bei den vorausgegangenen Beratungen mit den Antragstellern sehr viele Übernahmen und modifizierte Übernahmen ausgehandelt bzw. Anträge von den Antragstellern zurückgezogen worden waren, so dass es nur noch wenige Anträge abzustimmen galt. Neben einigen politisch abseitigen Anträgen (wie dem, jegliche Wahlaltergrenzen abzuschaffen) konzentrierten sich die Streitpunkte auf das Feld der Umwelt-, Steuer- und Finanzpolitik:
Beim ersten Antrag ging es im Kern darum, dass staatliche Finanzmittel für die Erforschung der Technologie der CO2-Abscheidung und -Speicherung (CCS) eingesetzt werden sollten. Die Antragsgegner verwiesen auf knappe öffentliche Forschungsgelder und meinten, die Energiekonzerne sollten die CCS-Forschung aus eigener Tasche bezahlen.
Ein zweiter Antrag plädierte dafür, bei der Höhe des Mehrwertsteuersatzes ökologische Kriterien mit zu berücksichtigen: „Produkte oder Leistungen, deren Erstellung oder Erbringung einen hohen Energieeinsatz benötigen, müssen mit einem höheren Mehrwertsteuersatz belastet werden.“ Diese Regelung müsse europaweit gelten, um gezielt die Nachfrage nach ökologischen Produkten und Dienstleistungen in der EU zu verstärken. Antragsgegner argumentierten, das Ziel sei zwar richtig, eine derartige Treibhausgassteuer auf alle Produkte sei aber sehr schwer darstellbar. Die Grünen sollten sich auf die im Programm-Entwurf bereits enthaltenen anderen steuerlichen Schwerpunkte konzentrieren.
Ein dritter Antrag zielte auf eine Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts, um seine pro-zyklische Wirkung aufzuheben. Die Drei-Prozent-Defizit-Grenze müsse flexibel gehandhabt werden. Die Defizit-Obergrenzen sollten nur noch dann durchgesetzt werden, wenn zugleich das betreffende Land eine überdurchschnittliche Inflationsrate aufweise. Die Antragsgegner verwiesen darauf, dass sich gerade gegenwärtig mit den Konjunktur-Paketen der verschiedenen europäischen Regierungen zeige, dass der Stabilitätspakt anti-zyklische Maßnahmen nicht verhindere.
Schließlich setzte sich ein vierter Antrag dafür ein, den Handel mit verschreibungspflichtigen Medikamenten im Internet zu verbieten, die Ausgabe verschreibungspflichtiger Medikamente in Supermärkten und ähnlichen Einzelhandelsgeschäften ohne Fachberatung durch Apotheker abzulehnen und die flächendeckende Versorgung mit an Standesregeln gebundenen Apothekern aufrechtzuerhalten. Die Antragsgegner argumentierten, Die Grünen sollten sich nicht in die Apotheker-Lobby einreihen. Für Menschen mit eingeschränkter Mobilität sei der Versandhandel eine preiswerte Alternative zum Gang in die Apotheke. Die Antragsgegner kamen den Antragstellern aber insoweit entgegen, als im überarbeiteten (und letztlich beschlossenen) Text die Ausgabe verschreibungspflichtiger Medikamente in Supermärkten und ähnlichen Einzelhandelsgeschäften ohne Fachberatung durch Apotheker und Apothekerinnen abgelehnt wird.
Alle vier Anträge wurden mit deutlicher Mehrheit abgewiesen. Generell schwankten allerdings die Delegierten zwischen dem Bestreben, grüne Inhalte möglichst prägnant und unverwechselbar herauszustellen, und der Furcht, gerade in Krisenzeiten mit allzu weitgehenden oder radikalen Forderungen potentielle Wähler zu verschrecken.
Das in Dortmund beschlossene Europa-Wahlprogramm der Grünen stellt Umwelt- und Wirtschaftspolitik in den Vordergrund. Es plädiert für einen Politikwechsel – weg vom Neoliberalismus und hin zu einem sozialen und ökologischen Europa. Mit einem „Green New Deal“ aus Investitionen und Reformen sollen Wirtschafts-, Klima- und Hungerkrise bekämpft, ökologische Verantwortung und soziale Gerechtigkeit durchgesetzt und nicht zuletzt die EU demokratisiert werden. Eine intelligente Klima- und Energiepolitik und eine insgesamt nachhaltig ausgerichtete Wirtschaftspolitik sollen neue Arbeitsplätze schaffen und Europa zum Vorreiter für einen umfassenden internationalen Klimaschutz machen.
Die Grünen verlangen eine „europäische Wirtschaftspolitik“ in der Euro-Zone. Sie setzen sich für die Regulierung der Finanzmärkte durch Einführung einer Finanzmarktaufsicht und für das Austrocknen von Steueroasen ein und fordern Haftungsregelungen für Manager. Zum Programm gehören die Verringerung der Treibhausgase in Europa bis 2050 um 80 bis 95 Prozent, ein EU-weiter Atomausstieg, der Baustop für alle Kohlekraftwerke und der vollständige Umstieg auf erneuerbare Energien. Nach dem Willen der Grünen sollen Agrarsubventionen zukünftig an Nachhaltigkeits- und Umweltkriterien gekoppelt werden. Auf der Agenda der Partei stehen zudem nationale Mindestlöhne in allen EU-Staaten und eine europäische Erwerbslosenversicherung.
In ihrem Europa-Wahlprogramm setzen sich Die Grünen für mehr direkte Demokratie und die Stärkung des Europäischen Parlaments ein. Sie plädieren für einen besseren Flüchtlingsschutz, für eine integrative Einwanderungspolitik und für einen umfassenden Datenschutz. Zur Verwirklichung der Menschen- und Bürgerrechte gehöre auch der Kampf gegen Rechtsextremismus und Diskriminierung. Da im Verständnis der Grünen der Zugang zu Bildung und Kultur die Voraussetzung für Demokratie ist, fordern sie die Stärkung des lebenslangen Lernens und der Forschung, die Förderung des internationalen Austauschs, die Sicherung der Medienvielfalt sowie den Erhalt der kulturellen und künstlerischen Vielfalt.
Die Europäische Union ist ein Friedensprojekt. „Wir wollen die EU als Zivilmacht stärken und ihr eine aktive Rolle geben für eine gerechtere Gestaltung der Globalisierung.“ Die Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU müsse auf zivile Krisenprävention und Konfliktbewältigung setzen. Dabei werden aber Militäreinsätze nicht grundsätzlich ausgeschlossen: „Zur Friedenssicherung im Rahmen der VN kann Militär zur Gewalteindämmung [...] notwendig sein.“ Militär könne aber bestenfalls Friedensprozesse unterstützen und Zeitfenster für die Krisenbewältigung schaffen, nicht aber den Frieden selbst. „Unter bestimmten Rahmenbedingungen kann Militär so einen notwendigen Beitrag zur Gewalteindämmung, Gewaltverhütung und Friedenskonsolidierung leisten.“
Ziel der Grünen sei die Beendigung der Großen Koalition aus Konservativen und Sozialdemokraten im Europäischen Parlament. Die Grünen nehmen für sich in Anspruch, die Europapartei schlechthin zu sein, und demonstrierten in Dortmund ein klares Bekenntnis zur europäischen Integration: „Wir wollen die EU weiterentwickeln, ökologisch, sozial, demokratisch, friedlich.“
Bei der Aufstellung der Bundesliste der Grünen für die Europawahl 2009 meldeten rund 50 Bewerber ihre Ansprüche an. In zum Teil dramatischen Abstimmungskämpfen wechselte die BDK zwei Drittel der grünen Abgeordnetengruppe im EU-Parlament aus. Das „alte Europa“ musste neuen, jüngeren Gesichtern weichen.
Die Vorsitzende der deutschen Grünen im Europa-Parlament und Veteranin der Anti-Atom-Bewegung, Rebecca Harms, und der langjährige Parteivorsitzende Reinhard Bütikofer traten für die Plätze 1 und 2 an. Jeweils ohne Gegenkandidaten erreichten Harms 80,4 Prozent und Bütikofer 81,7 Prozent der Delegiertenstimmen. Bütikofer hatte in seiner leidenschaftlichen Bewerbungsrede gefordert, Die Grünen müssten Hoffnungsträger für Europa werden wie Barack Obama für Amerika. Und: „Wir brauchen Europa, wenn wir unsere grünen Visionen verwirklichen wollen. Ändern wir die Mehrheiten in Europa, damit Europa besser werden kann.“
Platz 3 ging an die langjährige Europa-Abgeordnete und frühere Politische Bundesgeschäftsführerin Heide Rühle. Platz 4 sicherte sich als Quereinsteiger attac-Mitbegründer Sven Giegold, obwohl er sich eine Frage nach seiner früheren Ablehnung des Verfassungsentwurfs des Europäischen Konvents gefallen lassen musste. Er dankte anschließend den Delegierten für ihre Toleranz – mit dem Hinweis darauf, dass demgegenüber bei der LINKEN kein Verfassungsbefürworter auf die Vorschlagsliste des Vorstands gekommen sei.
Der zweite Quereinsteiger, Barbara Lochbihler, schaffte im Unterschied zu Sven Giegold den Sprung auf die Liste erst im zweiten Anlauf, obwohl auch die Generalsekretärin der deutschen Sektion von amnesty international als vom Vorstand gesetzt galt. Nach einer vergeblichen Kandidatur für Platz 3 steht sie nun auf Platz 5 (siehe Anlage). Mit dem Globalisierungskritiker, der die Öko-Partei in ihrer rot-grünen Regierungszeit als neoliberal attackiert hatte, und der Menschenrechtlerin auf ihrer Europa-Wahlliste signalisieren Die Grünen einerseits eine Rückbesinnung auf die außerparlamentarische Opposition und hoffen andererseits auf den Zugpferd-Charakter der beiden Kandidaten in einem Wählerspektrum, das auch von der LINKEN umkämpft wird.
Youngster und Quereinsteiger verdrängten im Folgenden lang gediente Europa-Abgeordnete wie Elisabeth Schroedter und Gerald Häfner auf wenig aussichtsreiche Listenplätze. Auch Hiltrud Breyer (MdEP) und Gisela Kallenbach (MdEP) wurden auf hintere Listenplätze durchgereicht. Ex-Parteichefin Angelika Beer (MdEP), die sich als eine der profiliertesten Vertreterinnen der militärischen Interventionspolitik der Schröder/Fischer-Regierung seit langem den Unmut der Parteibasis zugezogen hatte, und der Landwirtschaftsexperte Friedrich-Wilhelm Graefe zu Baringdorf (MdEP) gaben nach mehren Fehlversuchen enttäuscht auf.
Dagegen konnte sich der ehemalige DDR-Bürgerrechtler Werner Schulz, längst politisch tot geglaubt, mit einer fulminanten Rede voller Anspielungen und Zitate gegen sieben Mitbewerber durchsetzen und Platz 8 sichern. Schulz geißelte die antidemokratischen „Schäublichkeiten“ des Bundesinnenministers und sagte mit Blick auf die Finanzkrise, die Leute hätten heute mehr Angst vor ihrem Anlageberater als vor al-Qaida. Die Managergehälter müssten nach oben und die Löhne nach unten begrenzt werden. „Europas Schnorrer sind die Steuerflüchtlinge und nicht die Boat People.“ Der „gelenkten Demokratie“ (in Russland) müsse die gelebte Demokratie gegenübergestellt werden. Einflussreiche Grüne hatten zuvor intern für Schulz geworben, weil 20 Jahre nach dem Mauerfall ein prominenter Kandidat mit Ost-Vergangenheit auf der Liste und zugleich eines der wenigen Parteimitglieder, die noch heute als Person den Namensteil „Bündnis 90“ verkörpern, ein wichtiges Signal nach außen sendet.
* * *
Bilanziert man die 29. Ordentliche Bundesdelegiertenkonferenz der Öko-Partei, bleibt festzuhalten:
Erstens stand der Parteitag in Dortmund deutlich in der Kontinuität der BDK in Erfurt, gab es keine spektakulären Veränderungen. Das betrifft zum einen die inhaltliche Ausrichtung der Beschlüsse: Die bereits in der thüringischen Landeshauptstadt für die Bundesrepublik erhobene Forderung nach einem grünen „New Deal“ wurde in Dortmund auf die europäische Ebene übertragen. Das betrifft zum anderen die Abgrenzung gegenüber allen anderen Bundestagsparteien und das Bemühen, die eigenen politischen Inhalte in den Vordergrund zu stellen. Hintergrund dafür ist nach wie vor, dass den Grünen derzeit eine realistische Machtperspektive auf Bundesebene fehlt. Das hinderte sie allerdings nicht daran, sich in der Ruhr-Metropole (mit dem hervorragenden Landtagswahlergebnis in Hessen im Rücken und bestärkt durch die Ankündigung des neuen US-Präsidenten Obama, in den Klimaschutz zu investieren) selbstbewusst und angriffslustig zu präsentieren.
Zweitens wurde mit der Wahl von attac-Mitbegründer Sven Giegold und von Barbara Lochbihler von amnesty international auf sichere Listenplätze das Signal des Schulterschlusses, das die Grünen von ihrem Parteitag in Erfurt im November 2008 an die sozialen, globalisierungskritischen Bewegungen gesandt hatten, bekräftigt. Inhaltlich stehen dafür die Positionen zu den Themen Energiewende, globale Finanzmarktkrise, Wirtschaftskrise und Menschenrechte in dem auf der BDK beschlossenen Europa-Wahlprogramm der Grünen. Mit der Wahl eines ehemaligen DDR-Bürgerrechtlers auf die Liste zur Europawahl sollen zudem jene Kreise angesprochen werden, die sich mit den Idealen des Aufbruchs im Herbst 1989 in der DDR identifizieren, der sich in diesem Jahr zum zwanzigsten Male jährt. Die Grünen können so hoffen, im letzten Jahrzehnt verlorene Wählerstimmen aus dem bewegungsorientierten Lager zurückzugewinnen.
Jochen Weichold
Anhang
Auf der BDK in Dortmund im Januar 2009 gewählte Bundesliste für die Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 2009 | Abgeordnete der Grünen in der laufenden Legislaturperiode des Europäischen Parlaments (2004 bis 2009) | |
Platz | Name | |
1. | Rebecca Harms | Beer, Angelika |
2. | Reinhard Bütikofer | Breyer, Hiltrud |
3. | Heide Rühle | Cohn-Bendit, Daniel |
4. | Sven Giegold | Cramer, Michael |
5. | Barbara Lochbihler | Graefe zu Baringdorf, Friedrich-Wilhelm |
6. | Michael Cramer | Harms, Rebecca |
7. | Ska Keller | Horáček, Milan |
8. | Werner Schulz | Kallenbach, Gisela |
9. | Helga Trüpel | Özdemir, Cem |
10. | Martin Häusling | Rühle, Heide |
11. | Franziska Brantner | Schmidt, Frithjof |
12. | Jan Philipp Albrecht | Schroedter, Elisabeth |
13. | Elisabeth Schroedter | Trüpel, Helga |
14. | Gerald Häfner | |
15. | Hiltrud Breyer | |
16. | Andreas Braun | |
17. | Gisela Kallenbach | |
18. | Peter Alberts | |
19. | Eva Maria Vögtle | |
20. | Nikolaus Schütte zur Wick | |
21. | Karin Schmitt-Promny | |
22. | Constantino Gianfrancesco | |
23. | Claire Labigne | |
24. | Björn Hayer | |
25. | Renate Knauf |
Stand: 27.01.2009 17:25