Publikation Bildungspolitik - Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Gesellschaftstheorie - Globalisierung - Kultur / Medien - International / Transnational - Geschichte - Europa - Westeuropa Europäische Wege. Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Entwicklung

von Hella Hertzfeldt, Katrin Schäfgen, Sandra Thieme (Hrsg.). Polnisch-Deutscher Workshop des Studienwerks der RLS in Kraków 2004 und Lódz 2005. Reihe Manuskripte der RLS, Bd. 67

Information

Reihe

Manuskripte

Autor*innen

Sandra Thieme, Katrin Schäfgen, Hella Hertzfeldt,

Erschienen

März 2007

Zugehörige Dateien

Polnisch-Deutscher Workshop des Studienwerks der RLS in Kraków 2004 und Lódz 2005

Inhalt

Einleitung

I. Privatisierung und Liberalisierung unter den Bedingungen von GATS
ASSIA TEODOSSIEVA: Liberalisierung des Dienstleistungsmarktes – eine Politik ohne Grenzen?
ANA GARCIA: GATS und die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen unter der Gender–Lupe
TIM ENGARTNER: Konkretisierung eines neoliberalen Projekts: Die Privatisierung der Deutschen Bahn

II. Demokratieprobleme und Menschenrechte
ALICJA CHYTLA: Demokratiedefizite in Deutschland und Polen – Ungleichheit zwischen Frauen und Männern
ANJELIKA AVDEEVA: Frauenhandel in postsowjetischen Republiken, insbesondere in Russland, im Kontext der Menschenrechte und internationale soziale Arbeit

III. Juristische Fragen
JANE ANGERJÄRV, ALICJA CHYTLA: Gender Mainstreaming – eine (Heraus-)Forderung der Europäischen Union?
JANE ANGERJÄRV, JANET AMILEVA: Probleme der EU-Verfassungsdiskussion

IV. Ökonomische, soziale und politische Probleme einzelner Länder
HOLGER POLITT: Alles auf eine Karte! Polens Rechte an den Machthebeln
MARIA ANTONOVA: Common Agricultural Policy and Trade Between Russia and The European Union: Indications from the Meat Market. The Abstract for a Presentation
TORSTEN OBST: Einführung in die Problematik des Ländlichen Raumes

V. Philosophische Fragen
LUKASZ CHOLEWA: Einige Fakten über den Informationsbegriff
LUKASZ CHOLEWA: Die Rolle der Konsumenten in der modernen Gesellschaft

AutorInnen


Einleitung
Es ist mittlerweile schon Tradition geworden, dass das Studienwerk der Rosa-Luxemburg-Stiftung einmal im Jahr mit seinen StipendiatInnen einen internationalen Workshop in einem östlichen Nachbarland durchführt. Ziel dieser Veranstaltungen ist es, zum einen das entsprechende Land mit all seinen Stärken und Schwächen kennen zu lernen und zum anderen eigene Forschungsergebnisse mit anderen StipendiatInnen zu diskutieren.

Der vorliegende Band ist das Ergebnis der Workshops 2004 und 2005 in der Republik Polen. Jeweils 20 StipendiatInnen aus unterschiedlichen Ländern kamen zusammen, um sich mit Land und Leuten bekannt zu machen und miteinander ins Gespräch zu kommen. 2004 führte die Fahrt nach Kraków und 2005 nach Lódz, beides Regionen mit bedeutendem historischen Hintergrund, die sich in einer gewaltigen Umbruchsituation befinden. In dieser Abbruch- und Aufbruchatmosphäre führten die StipendiatInnen einen konstruktiven Dialog zu den sie bewegenden Fragen der gesellschaftlichen Entwicklung.

Assia Teodossieva befasst sich in ihrem Beitrag mit der Handelspolitik der EU im Rahmen des GATS Abkommen. In einem Überblick wird das GATS-Abkommen und die Rolle der EU dargestellt. Kritisch setzt sie sich mit den Folgen der Privatisierung der öffentlichen Dienstleistungen und der Liberalisierung des Handels auseinander. Sie zeigt auf, dass asymmetrische Beziehungen zwischen EU-Ländern und Entwicklungsländern in den Handelsbeziehungen fortgeschrieben werden und kommt zur Einschätzung, dass die gesellschaftspolitisch wichtigste Funktion des GATS Abkommens in einer dauerhaften Festschreibung neoliberaler Praktiken liegt.

Ebenfalls mit dem GATS Abkommen befasst sich Ana Garcia. Sie untersucht die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen und benutzt dabei die Kategorie Geschlecht als Analysewerkzeug der neoliberalen Globalisierung. Mit ihrem Beitrag macht sie eindringlich darauf aufmerksam, dass Auswirkungen der Liberalisierung und Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen keineswegs gender neutral sind) sondern geschlechtsspezifische besorgniserregende Aspekte haben)und deshalb unter die Genderlupe genommen werden müssen.

Wie die Privatisierung eines bislang öffentlichen Dienstleistungsunternehmens in der Praxis aussieht, beschreibt Tim Engartner am Beispiel der Deutschen Bahn. Eingeordnet in die Privatisierungstendenzen bisher öffentlicher Unternehmen wie z.B. Post und Lufthansa setzt er sich kritisch mit den Auswirkungen auf die Verkehrspolitik auseinander. Er macht deutlich, dass einerseits der wirtschaftliche Erfolg ausblieb und andererseits verheerende soziale Folgen für Passagiere und MitarbeiterInnen das Resultat sind. Gleichzeitig zeigt er am Beispiel der Schweizerischen Bundesbahn, dass es auch anders geht – ohne Privatisierung, mit steigenden Fahrgastzahlen und ökonomisch positiven Ergebnissen. Seine Forderung besteht darum in einer bürgerfreundlichen Flächenbahn, statt einer börsentauglichen Schrumpfbahn.

Einen Ländervergleich zwischen Polen und der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich der Lage der Frauen gibt Alicja Chytla. Ihre Analyse nimmt sie unter der Perspektive vorhandener Demokratiedefizite vor. Während in Polen mit den Transformationsprozessen die tatsächliche Stellung der Frauen und Schwächen der bisherigen Gleichstellungsgarantieren offenbar wurden, sind in Deutschland, bei allen Fortschritten, Frauen immer noch nicht entsprechend ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung adäquat in wichtigen gesellschaftlichen Bereichen vertreten. Ausführlich beschreibt sie die Situation von Frauen im Segment Familie und Arbeitsmarkt anhand von Politik und Gesetzgebung.

Mit Demokratiedefiziten einer extremen Art befasst sich Anjelika Avdeeva; sie behandelt den Frauenhandel in den postsowjetischen Republiken. Frauenhandel als eine Form der modernen Sklaverei ist eine schwere Menschenrechtsverletzung, was mittlerweile auch in den Dokumenten internationaler Organisationen anerkannt wird. Ausführlich geht A.A. auf die Ursachen von Prostitution und Frauenhandel ein und zeigt auf, welche Möglichkeiten Sozialarbeit in Russland hat und wie die Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen funktioniert. Entschieden plädiert sie für eine grenzüberschreitende Bekämpfung des Frauenhandels als einer internationalen Form des organisierten Verbrechens.

Wie es um die Umsetzung von Gendermainstreaming in Estland und Polen bestellt ist, untersuchen Jane Angerjärv und Alicja Chytla in ihrem Beitrag. Sie gehen dabei vom Gleichstellungsrecht in der EU aus und analysieren die Implementierung in den beiden Ländern. Sie kommen zu der Schlussfolgerung, dass in beiden Ländern erhebliche Gleichstellungsdefizite bestehen. „Die gesetzlichen Regelungen der beiden Länder sind die ersten Schritte zur Förderung der Gleichberechtigung der Geschlechter und Bekämpfung der geschlechtsbezogenen Diskriminierung. Die Umsetzung der Änderungen bedarf allerdings einer neuen gesellschaftlichen Grundlegung und ihrer Unterstützung durch die Mehrheit.“

Auch wenn die EU Verfassung bekanntlich nicht angenommen wurde, ist die Diskussion um sie von großem Interesse und Aktualität. Jane Angerjärv und Janeta Mileva analysieren in ihrem Beitrag die Rolle der Resolution des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB) vom 13.7.04 und des Aufrufes der Europäischen Demokratischen Anwälte (EDA) vom 18.7.04. Die Resolution des EGB wird dabei als nicht unproblematischer Kompromiss gewertet, der von einigen wesentlichen Forderungen abrückt, wie z.B. dem Streikrecht in der Grundrechtecharta. Der Aufruf der EDA dagegen stellt eine umfassende Kritik am EU-Verfassungsentwurf dar, dessen Hauptpunkte im vorliegenden Beitrag behandelt werden.

Polens Rechte an der Macht wird von Holger Politt unter die Lupe genommen. Er untersucht, wie sich die polnische Politik unter dem neuen Präsidenten entwickelt hat. Er zeigt auf, wie die einzelnen Parteien agieren, welche Bündnisse dabei herauskommen oder auch nicht und wie fragil die Politik ist.

Einem speziellen Problem der Ökonomie und Politik widmet sich Maria Antonova. Sie setzt sich mit der Finanz- und Agrarpolitik zwischen Russland und der EU am Beispiel des Fleischmarktes auseinander. Neue Lebensmittelsicherheitsstandards der EU erschweren Russland den Zugang zu internationalen Märkten. Es bildet sich eine Asymmetrie heraus, denn einerseits erfolgt die Öffnung des EU Marktes durch die Finanz- und Agrarpolitikreform nur sehr zögerlich, andererseits vergrößert sich die Einflusszone der EU durch ihre Erweiterung seit 2004 beträchtlich.

Eng im Zusammenhang mit der Agrarfrage steht ein anderes Problem, der Ländliche Raum. Wie er funktioniert, welche Bedeutung er, besonders in bezug auf die Städte, hat, untersucht Torsten Obst in seinem Artikel. Als eines der Hauptprobleme bezeichnet er die Abwanderung wegen nicht gleichwertiger Lebensbedingungen und zeigt gleichzeitig auf, dass dazu Handlungsalternativen möglich sind, wie Beispiele aus Skandinavien belegen. Sein Fazit für die Bundesrepublik ist ernüchternd: „Der vielseitig beschworene Abbau der Disparitäten zwischen den Großstädten und Verdichtungsgebieten einerseits, und den ländlich geprägten Gebieten andererseits hat sich nicht eingestellt, sondern eher noch verstärkt.“

Die abschließenden beiden Beiträge von Lukasz Cholewa haben einen weiten philosophischen Radius. Sein Beitrag zum Informationsbegriff beleuchtet die Genesis des Begriffs insbesondere im Zusammenhang mit der Entwicklung der Kybernetik, Physik und Mathematik. Er zeigt auf, wie sich die Theorien zur Informationsproblematik von den 40er bis in die 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts entwickelt haben. Welche Rolle spielen die Konsumenten in der modernen Gesellschaft, welche Kraft üben sie auf das Angebot-und-Nachfrage-Verhältnis aus und kann das Internet eine demokratisierende Wirkung auf das Kaufverhalten entfalten? Diese durchaus kontrovers diskutierbaren Fragen werden im letzten Text behandelt. L.C. hofft, dass sich diese Utopie der Macht der Konsumenten, die er „Konsumismus“ nennt, in Realität umwandelt.

Die große Klammer und das hauptsächliche Anliegen der beiden Workshops waren die Auseinandersetzung mit Problemen der EU-Osterweiterung und der europäischen Entwicklung überhaupt. Der vorliegende Band spiegelt die Vielfalt der Perspektiven und fachlichen Zugänge zur Diskussion über wichtige Fragen der Gegenwart und Zukunft in Europa wider. Die Texte, mit Ausnahme des Beitrages von Holger Politt, sind in den Jahren 2004 und 2005 entstanden, haben jedoch nichts von ihrer Aktualität verloren. Sie zeichnen sich durch eine konstruktiv kritische Sichtweise aus und verstehen sich als Teil eines linken gesellschaftspolitischen Diskurses.

Hella Hertzfeldt, Katrin Schäfgen, Sandra Thieme
Berlin, November 2006