Seminarbericht vom Europäischen Sozialforum (ESF) 2006 in Athen. Von Lutz Brangsch
Zwei der von der Rosa-Luxemburg-Stiftung auf dem Athener Sozialforum unterstützten Veranstaltungen beschäftigten sich mit Fragen der Gestaltung einer zukunftsorientierten Kommunalpolitik.
Dabei stand in der ersten Veranstaltung die Auseinandersetzung mit den neoliberal intendierten Konzepten der good governance im Mittelpunkt, in der zweiten Veranstaltung ging es vor allem um die Diskussion von Erfahrungen bei der Einführung von Beteiligungs- bzw. BürgerInnenhaushalten in Sevilla und Berlin.
Bemerkenswert ist, dass das Interesse an diesen Prozessen und Auseinandersetzungen unter den Linken in Europa offensichtlich steigt. Zunehmend wird das Engagement von Weltbank und IWF im Sinne der good governance als Ausdruck von inneren Widersprüchen des gegenwärtig herrschenden gesellschaftlichen Systems verstanden, das Spielräume auch für emanzipatorische Projekte schaffen muss, um wirksam zu sein. Es entsteht ein neues Feld von Auseinandersetzung, dem man nicht ausweichen darf, nur weil der politische Kontrahent in der Lage war, dieses zu eröffnen. Da die Konzepte der Kontrahenten durchaus Antworten auf reale Probleme zu geben versuchen, sollte man sie durchaus ernst nehmen - wenn z.B. Korruption sich zu einem Problem der Kapitalverwertung entwickelt, wenn die Verschwendung öffentlicher Gelder aus der Sicht der Eliten gleichfalls einer in ihrem Sinne gesunden wirtschaftlichen Entwicklung und gesellschaftlichen Stabilität entgegenstehen, so können hier auch Antworten gefunden werden, die durchaus in gewissen Grenzen Schnittmengen zu emanzipatorischen Forderungen aufweisen. Der Hintergrund dieser Überschneidungen ist der Vergesellschaftungsprozess als allgemeine historische Tendenz - Profitproduktion erfordert eine zuverlässige Arbeitsteilung, erfordert eine hohe Qualität der Arbeitskraft, Fähigkeiten zu Kooperation Verlässlichkeit usw. Gesellschaftliche Stabilität erfordert zumindest auf lange Sicht politische und eben auch kommunalpolitische Konzepte, die diesen Qualitäten eine Grundlage schaffen. In gewisser Weise sind die neoliberal geprägten Partizipationskonzepte Eingeständnis einer entscheidenden Schwäche neoliberalen Weltbildes - gleichzeitig auch ein Zeichen seiner Vitalität.
Während in früheren Jahren oft die partizipartiv orientierten neoliberalen Konzepte als Begründung dafür dienten, sich nicht mit eigenen Modellen partizipativer Politik zu beschäftigen, war die Diskussion in diesem Jahr stärker damit befasst, unter Nutzung der vorliegenden differenzierten Erfahrungen eigene Konzepte darzustellen und zu bewerten. Auf der analytischen und konzeptionellen Ebene zeigt sich, dass es offensichtlich vor dem Hintergrund der Krise der linken Bewegung in all ihren Varianten zu einer Neubewertung des Verhältnisses von Parteien, Beteiligung an der Verwaltung bzw. Regierung, sozialen Bewegungen und der Eigenaktivitäten der BürgerInnen kommt. Ein Diskussionsteilnehmer spitzte die Problemstellung zu, indem er von zwei Gegnern sprach: dem Neoliberalismus und der Gleichgültigkeit. Die in der Vergangenheit oft festzustellende Entgegensetzung von "organisierter Bürgerschaft" und unorganisierten Individuen, denen die Fähigkeit der Selbstorganisation abzusprechen sei, scheint angesichts auch der Erfahrungen von Porto Alegre zu bröckeln. Ebenfalls zu bröckeln scheint der Glaube an die Allmacht von Partei- und Bewegungsweisheit. Die Kompetenz von BürgerInnen wird zunehmend wieder geachtet, als Voraussetzung für erfolgreiches politisches Handeln gesehen und unter dem Gesichtspunkt der Konsequenzen für die Arbeit, Strukturen, Entscheidungsprozesse innerhalb von Parteien und Bewegungen neu bewertet - sind sie doch auch die Mitglieder dieser Organisationen. In diesem Zusammenhang wurde der Gedanke des Lernens in Organisationen und des Lernens in partzipartiven Prozessen in breiter Art und Weise diskutiert.
Allerdings darf man sich dabei auch nichts vormachen - noch ist dies die Diskussion von SpezialistInnen und einiger basisnah arbeitenden AktivistInnen, BürgermeisterInnen, Abgeordneten.
Zu einigen konkreten Aussagen: Paula Gavin, stellvertretende Bürgermeisterin von Sevilla, stellte den Beteiligungsprozess in der Haushaltspolitik ihrer Stadt vor. Hier zeigte sich, dass diese Prozesse aus sich selbst heraus oft ähnliche Formen annehmen. So unterscheiden sich die Verfahren in Sevilla und Berlin Lichtenberg-Hohenschönhausen zwar in Details, aber eben nicht in Grundsätzen – dies gilt übrigens nicht nur für positive Erfahrungen, sondern auch für Probleme. Ausgangspunkt war in Sevilla die Kooperation mit Vereinen. Aus den Reihen der dort Engagierten fanden sich Menschen, die bereit waren, den Beteiligungsprozess zu organisieren. Sie erhielten in technischen Fragen Unterstützung von der Verwaltung. Die Gruppe von „Beschleunigern“ oder „Motivtoren“ machten das Vorhaben bekannt und organisierten auch die ersten EinwohnerInnenversammlungen. Auf diesen Versammlungen wurden Delegierte in die koordinierenden Gremien gewählt, wobei durch die selbstaufgestellten Regelen eine Ämterhäufung verhindert wurde. Im Zuge der Debatten um die Verhaltens- und Verfahrensregeln wurde vor allem Fragen der Minderheitenrechte, der Einbeziehung von MigrantInnen und der Quotierung bzw. der Rolle des Gender Budgeting thematisiert. Das Verfahren, das schließlich gefunden wurde, baut, so die Einschätzung, keine Barrieren für die Mitwirkung aller Schichten und Gruppen, es habe hingegen eine starke inkludierende Wirkung entfaltet. Dazu gehört, dass Kinder an den Diskussionsprozessen teilnehmen können und im Verfahren das Stimmrecht ab 16 Jahren gilt.
Auf den EinwohnerInnenversammlungen werden nach der Wahl der Delegierten auch die Vorschläge für Projekte und Richtungen der Haushaltspolitik erarbeitet und durch Abstimmung gewichtet. Zusätzlich werden die Prioritäten in sozial benachteiligten Regionen höher bewertet.
Betrachtet man diesen Prozess, so sticht ein wichtiger Unterschied zu dem in Berlin-Lichtenberg praktizierten Weg heraus: die Rolle der Verwaltung. Während in Sevilla sehr schnell BürgerInnen selbst die Schaltstellen des Prozesses besetzten, war es in Lichtenberg vor allem die Verwaltung, die den Prozess gestaltete.
Diese Veränderungen der politischen Landschaft stießen bei Parteien auf z.T. heftige Gegenwehr. Hier ist wiederum die Erfahrung Lichtenbergs hervorzuheben, wo sich die Parteien auf einen Konsens bezüglich der Akzeptanz des Prozesses einigen konnten. Das Lernen von neuen politischen Verhaltensweisen, so zeigen die Erfahrungen beider Kommunen, ist ein zentrales Element und das am schwierigsten zu gestaltende Moment dieser Beteiligungsprozesse. Gelingt es nicht, BürgerInnenbeteiligung mit Lernen zu verbinden, wird der Prozess schnell erlahmen und in lokalen Kleinkriegen auslaufen. Beteiligungsprozesse müssen als Chance verstanden werden, den Blick für die Funktionsweise von politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhängen zu schärfen. Dies setzt aber mehr als nur Beteiligungsprozesse voraus – diese müssen selber in breitere gesellschaftspolitische Strategien eingebunden sein. Es müssen gemeinsame Interessen in einem gemeinsam organisierten Prozess bestimmt werden – und die Wege ihrer Realisierung. Dabei wurde ein interessantes offenes Problem benannt: wie kann ein derartig organisierter partizipativer Prozess seine Offenheit für Spontaneität bewahren?